Patrick Rabe

Sophia, Teil 2

Hier der zweite Teil meiner neuen Geschichte:

Der Bibliothekar richtete das Wort an mich: „Wie konnten sie so leichtsinnig sein, junger Mann!? Das, was sie getan haben, wird Konsequenzen für uns alle haben!“ Ehe ich noch eine Frage an ihn stellen konnte, schwang die Zimmertür auf. Im Türrahmen standen zwei Männer in eleganten Anzügen, die Protokollblöcke und Kugelschreiber in ihren Händen hielten.
 
„Scharf und Lörner!“, machte einer der beiden Männer die Vorstellung, „Myrddyn-Zweig!“ „Oh nein!“, murmelte der Bibliothekar, „Nicht die Männer vom Zweig!“ Ich warf einen fragenden Blick auf den Bibliothekar, aber er machte eine abwehrende Kopfbewegung, als ob er mir sagen wolle, dass er mir dies jetzt nicht erklären könne. Der Zweigbeamte, der die Vorstellung gemacht hatte, trat nun auf uns zu, zückte seinen Block und sah den braungekleideten Bibliothekar an. Er sagte: „Nochmals, Lörner mein Name, dort hinten mein Kollege Scharf. Wie wir mitbekamen, fand hier eben eine missglückte Einweihung statt? Was fällt ihnen dazu ein?“ Mein Einweihungsbegleiter sah verschämt zu Boden, dann stammelte er, indem er nervös mit seinen Händen spielte: „Ich bin neu hier, wissen sie. Und dieser junge Mann hat mir glaubhaft versichert, dass er bestens vorbereitet sei. Dass er alle Studien absolviert habe, dass er…“ „Und das haben sie einfach so geglaubt!?“, donnerte Lörner den schlanken Mann an. „Was meinen sie, wie viele hier täglich frech vorsprechen, ohne die notwendigen Vorstudien betrieben zu haben und ohne dem Hüter der Schwelle auch nur im Mindesten gewachsen zu sein! Ganz zu schweigen von denen, die auch noch die falsche Treppe gewählt haben! Und sie beginnen einfach so naiv mit der Einweihung, ohne sich die Nachweise seiner Vorstudien zeigen zu lassen!“ „Ich…ich habe…“, setzte der Bibliothekar an. „Nichts haben sie!“, schnauzte Lörner. „Ihr junges Volk habt offenbar vollkommen vergessen, was für eine ernste Angelegenheit eine solche Einweihung ist! Sie entscheidet über das weitere Leben! Scharf! Kommen sie! Der Mindscanner!“ Scharf trat eilfertig heran. Er holte ein Gerät aus seiner Anzugtasche, das wie eine 3-D-Brille mit angebautem Mini-Computer aussah. Er drückte mich in einen Sessel, schnallte mir das Gerät, das offensichtlich der Mindscanner war, auf den Kopf und verband ihn mit einem kleinen Laptop, der zur Zimmerausstattung gehörte. Er bewegte die Maus. Da gingen vor meinen Augen kleine Lichter an. Offensichtlich wurde jetzt mein Geist gescannt. Und plötzlich begann eine Flut von Bildern vor meinen Augen aufzusteigen, die die Zweig-Beamten offenbar auch auf dem Monitor des Laptops sahen. Ich sah ein bedrohliches Gewitter, eine gewaltige Spaltung in Hell und Dunkel, meine Eltern, meine Schulzeit und meine erste Freundin, Bianca-Sophie. Ab diesem Moment fing ich auch an, intensive Gefühle wahrzunehmen. „Aha.“, hörte ich Lörner sagen, „Der Gefühlsmodus beginnt.“ Ich sah meine Ausbildung, mein Arbeitsleben, Freunde und Bekannte und spürte meinen gleichzeitigen inneren Drang nach Erkenntnis, spürte ihn wie eine wehmütige, brennende Sehnsucht. Ich sah den Narren und unseren Spaziergang durch die Stadt. Zeitweilig war ich in meinem Magen und steckte fest in zermalmtem Dönerfleisch. „Er ist sehr leibgebunden, sehen sie?“, hörte ich Lörners Stimme. Dann sah ich die Bibliothek der Sophen, rasend schnell die Freitreppe, den Eingang, das Gespräch mit der Frau, die dreigeteilte Treppe, mein Zögern, dann die linke Treppe. „Aha, das war’s!“ rief Lörner triumphierend. Der Mindscan hörte abrupt auf. Das Gerät wurde mir vom Kopf abgeschraubt und ich konnte wieder Scharf erblicken und auch Lörner, der auf einem anderen Sessel saß und sich Notizen machte.
 
Ohne aufzublicken sagte er: „Nach Zweigverordnung 22D wird der Bibliothekar Hans Refznick seines Amtes enthoben und nach Zweigverordnung 38A wird der missglückte Eingeweihte zu nicht limitierter Lernzeit abkommandiert. Beide werden ins Basement gebracht!“
 
Scharf nahm mich am Arm und Lörner ging zu Hans Refznick. Da sprang der Narr auf, dem immer noch das Erbrochene aus dem Mund lief: „Nein!“, rief er, „Er gehört mir!“. Mit diesen Worten versuchte er, auf mich loszugehen. Schnell reagierte Scharf und packte ihn. Lörner rümpfte irritiert die Nase, dann sagte er: „Schmeißen sie ihn raus, Scharf!  Ich kümmere mich um die anderen Beiden!“ Scharf verließ mit dem zappelnden und protestierenden Narren den Raum, Lörner folgte mit mir und Hans Refznick.
 
Wir verließen den Raum, gingen die Wendeltreppe hinunter und gelangten wieder in den Flur. Von dort aus trennten sich unsere Wege. Scharf ging mit dem Narren links den Flur hinunter, Lörner wandte sich mit uns nach rechts. Ich sah noch einmal über die Schulter zurück auf meinen Freund, den zappelnden und schreienden Narren. Es war das letzte Mal für eine lange Zeit, dass ich ihn sehen sollte. „Du bist Schuld!“, gellte sein Schrei an meinem Ohr. Lörner führte Refznick und mich nun zu einem Fahrstuhl, der in die Wand eingelassen war. Er drückte einen Knopf. „Wo bringen sie uns hin?“, fragte ich. Lörner gab keine Antwort. Der Fahrstuhl kam und wir fuhren abwärts. Ins Basement, so erinnerte ich mich; das bedeutete Keller. Ich sah Lörner an. In seinen Augen war keine Seelenregung zu erkennen. „Was ist eigentlich der Myrddyn-Zweig?“, fragte ich ihn. Er sah mich starr an, dann sagte er: „Die sophische Gesellschaft ist den Städten nach in Zweige unterteilt. Und in jedem Zweig gibt es Beamte, so wie mich, die sich darum kümmern, dass alles in geregelten Bahnen abläuft.“ „Und sie hinterfragen ihre Arbeit nie?“ „Nein. Ich tue alles gemäß der strengen Satzungen des Rufus Sonnenauge. Denn alles, was in der geistigen, wie auch in der materiellen Welt abläuft, eben das ganze Leben, läuft nach strengen Gesetzmäßigkeiten ab.“ „Dann ist es auch gesetzmäßig, dass sie uns jetzt bis auf Weiteres in den Keller bringen?“ „Selbstverständlich!“, sagte Lörner. „Sie müssen dort den ganzen lernenden Weg durch die Instanzen gehen, bis sie wieder nach oben dürfen!“ „Und wie lange dauert das?“, fragte ich stockend. Lörner antwortete sachlich und ohne jede Gefühlsregung: „Bei manchen dauert es Jahre, bei anderen Jahrzehnte und bei einigen auch Jahrhunderte.“ „Jahrhunderte!?“. Hätte mich Lörner nicht so fest am Arm gehalten, ich wäre auf ihn losgegangen. „Und was erwartet den Bibliothekar?“, fragte ich mit einem Seitenblick auf Hans Refznick. „Er?“, sagte Lörner, „Er wird sich mit den sophischen Satzungen über die Aufnahmebedingungen zur Einweihung auseinanderzusetzen haben.“ Refznick seufzte und sagte matt: „Ja, so ist das. Da kann man nichts machen.“ Eben, als er dies sagte, hielt der Fahrstuhl.
 
Wir betraten einen breiten, grau gestrichenen Flur mit Betonwänden. Ganz anders sah es hier aus, als in der restlichen, feierlich verheißenden Bibliothek. Hier also, dachte ich, war der Ort jenes Schattens, den ich in den Augen der Empfangsdame gesehen hatte. Was würde mich hier erwarten? „Von hier ab sind sie Beide auf sich gestellt.“, sagte Lörner. „Sie werden die für sie passenden Räume schon finden.“ Mit diesen Worten stieg Lörner wieder in den Fahrstuhl. Die Tür schloss sich hinter ihm! „Scheiße!“, schrie ich. Ich spürte, wie mich ein Weinkrampf schüttelte. Trauer und Zorn bahnten sich ihren Weg. War ich nicht ein aufrichtiger Gottessucher mit reinem Herzen gewesen? War es nicht seit jeher mein Traum gewesen, die Bibliothek der Sophen zu finden? Und jetzt dieser dumme Fehler an der Treppe! Konnte der mir angekreidet werden? Warum wurde ich so furchtbar bestraft? Schluchzend krümmte ich mich unter auf mich einstürzenden Gefühlen. Hans Refznick legte seinen Arm auf meine Schulter. „Hat gar keinen Sinn, zu hadern.“, sagte er sanft. „Fügen wir uns in unser Schicksal und machen wir das Beste draus.“ Ich sank auf dem Betonboden zusammen. Leise in mich hinein schluchzend flüsterte ich: „Lassen sie uns zusammenbleiben, Refznick, stehen wir das hier gemeinsam durch, ja?“ Wie von weit weg hörte ich Hans Refznicks Stimme: „Das wird nicht gehen, fürchte ich…“ „Nicht gehen!?“. Ruckartig richtete ich meinen Kopf auf. Plötzlich war der ganze Gang voller Menschen, die einem mir unbekannten Ziel entgegen strebten. Stechschrittartig marschierten sie an mir vorbei. Als sie vorüber waren, sah ich mich um. Hans Refznick war verschwunden!
 
„Was soll ich tun!?“, schrie ich entsetzt und mit tränenerstickter Stimme. Da senkte sich plötzlich eine große Ruhe in mich. Vielleicht, so dachte ich, war es doch keine so schlechte Idee, Hans Refznicks Beispiel zu folgen und mein Schicksal anzunehmen, erstmal wenigstens, so lange, bis ich mich hier unten in diesem Kellerlabyrinth zurechtfand. Ich setzte Schritt vor Schritt, halb taumelnd, und tastete mich an der grauen Wand entlang. Eine ganze Zeit begegnete mir niemand. Die im Stechschritt marschierenden Menschen hatten sich in den Eingeweiden dieses Kellers verloren. Ab und zu hörte ich durch Wände von ferne rufende Stimmen, manchmal auch Singsang und ab und an das Klappern von Schreibmaschinen. Schließlich kam ich an eine Gabelung. Aus dem rechts neben mir liegenden Gang tappte eine Gestalt. Sie trug graue Kleider und eine Sträflingskappe auf dem Kopf. Ich beschloss, dieser Figur zu folgen. Ich lief einige Zeit hinter dem Mann her, er schien genau zu wissen, wo er hin wollte. Dann kamen wir an eine Tür. Der Mann öffnete sie und wankte hinein. Ich folgte ihm.
 
Der Raum, den wir betraten, war groß und hoch, grau gestrichen wie alles hier und an einer der Wände stand eine schwarze Inschrift: Ihr, die ihr hier eintretet, lasst alle Hoffnung fahren! Ich erschrak und wollte schnell wieder hinaus, da packte mich jemand am Ärmel. Dieser Jemand trug ebenfalls die graue Sträflingskleidung. „Aha, einer in Zivil! Das werden wir schnell ändern!“ Ich protestierte, doch es half nichts. Mehrere Männer kamen herzu, hielten mich fest und rissen mir meine Klamotten vom Leibe. Dann holten sie die graue Stäflingsgarderobe und zwängten mich hinein. Zum Schluss setzten sie mir noch die graue Kappe auf den Kopf. Als sie von mir abließen, atmete ich erst mal durch und sah mich in dem Raum um. Es schien die Kleiderkammer zu sein. Tausende Sträflinge sortierten Zivilkleidung und gaben die grauen Klamotten aus. Mit drei weiteren Leidensgenossen wurde ich wieder auf den Flur geschoben.
 
Ich sah die drei anderen an. Es waren Männer meines Alters, aber ihre Gesichter waren müde und grau. „Was machen wir jetzt, Leute?“, fragte ich in die Runde. Einer der drei sah mich traurig an und sagte mit lethargischer Stimme: „Da es hier unten ja keine Zufälle gibt, haben wir vier wohl den gleichen Weg.“ „Was meinst du damit, hier unten gibt es keine Zufälle?“, fragte ich ihn. „Das“, gab er mir zurück, „habe ich während meiner Einweihung gesehen. Und es ist das, was mir hier unten hilft.“ Während sich unser Pulk in Gang setzte, versuchte ich mich an meine missglückte Einweihung zu erinnern. Was hatte ich gesehen? Das Panorama des paradiesischen Urwalds breitete sich vor meinem inneren Auge aus, und ich sah den Vogel, der sich aus seinem Geäst zur Sonne schwang. Würde dieser Vogel mich hier unten führen?
 
Erst einmal folgte ich den drei Männern. Schließlich gelangten wir zu einer weiteren Tür. „Wir sind da!“, sagte einer der Männer traurig. Langsam schlängelten wir uns in den Raum. Wie der Raum zuvor war er groß und hoch, aber diesmal nicht grau gestrichen. In dem Raum befand sich eine Reproduktion der dreigeteilten Treppe aus der Bibliothek. Jede dieser Treppen wurde von vielen Menschen begangen. „Ja.“, sagte einer meiner Begleiter, „Hier sind wir alle gescheitert!“ „Aber warum? Was haben wir falsch gemacht?“, fragte ich. „Das werden wir hier lernen.“, entgegnete mein Begleiter. Ich sah mir die Treppen an. Viele Menschen gingen die linke Treppe hinauf, so wie ich. Doch sobald sie oben ankamen, ertönte ein Gong und sie standen wie von Zauberhand wieder am Fuß der Treppe. Dann begannen sie ihren Aufstieg erneut, und das Spiel wiederholte sich, in einer endlosen Zeitschleife. Ebenso war es bei der rechten Treppe. Die mittlere Treppe aber begingen nur wenige. Diese jedoch gelangten oben an der Treppe zu einer Tür, durch die sie entschwanden. „Wir hätten“, murmelte ich, „die mittlere Treppe nehmen sollen!“ Ich rannte, plötzlich gepackt von Euphorie, auf die mittlere Treppe zu. Doch da trat mir ein grau gekleideter Sträfling entgegen und hielt mich fest. „Halt.“, sagte er. Du hast hier noch nicht alles gelernt.“ Ernüchtert blieb ich stehen und kehrte zu meinen drei Gefährten zurück. „Ja“, grinste einer von ihnen ironisch, „So holterdipolter geht das hier nicht.“ Ich stellte mich wieder in die Reihe und betrachtete das sich mir bietende Schauspiel. Da, als ich genauer hinsah, erblickte ich an der Wand am Kopf der Treppen drei Malereien. Über der linken Treppe sah ich einen Menschen gemalt, der hatte einen übergroßen Kopf, der ihm wie eine Last auf die Brust fiel. Über der rechten Treppe war ein Mensch abgebildet, der hatte einen wanstähnlichen Hängebauch, der bis zum Boden baumelte. Und über der mittleren Treppe war das Bild eines Menschen, der ganz gerade stand, mit einem leuchtenden, von goldenen Ringen umgebenen Herzen auf der Brust. „Mit dem Herzen muss man die Mysterien durchdringen, nicht mit dem Kopf oder dem Bauch. Nur dann kommt man am Hüter der Schwelle vorbei.“ Dieses murmelnd fühlte ich, wie mich Wärme und neuer Mut durchdrang. „Na, geh schon!“, munterte mich einer der drei anderen auf.
 
Und ich schritt die mittlere Treppe hoch und meinte, ein fröhliches Jubilieren über mir zu hören. Oben angekommen, erblickte ich drei Türen. Durch welche sollte ich gehen? Ich besah sie mir genauer und erkannte, dass auf jede Tür ein Tier gemalt war. Auf der rechten sah ich einen großen Walfisch, auf der linken einen roten Stier und auf der mittleren schwang sich ein Vogel zum Himmel. Ich schmunzelte. Es war sonnenklar, welche Tür ich wählen würde. Und so drückte ich die mittlere auf.
 
Als die Tür hinter mir zufiel, erkannte ich, dass ich wiederum in einem grauen Flur stand. „Schade!“, seufzte ich. Zwei Mithäftlinge kamen mir entgegen. Einer von Beiden blieb vor mir stehen und sah mich durchdringend an. „He, du!“, fragte er, „Was ist dein Geheimnis?“ „Mein Geheimnis?“, fragte ich, „was meinst du damit?“ „Na“, sagte er, „Was du in deiner Einweihung gesehen hast!“. Ich sah ihn verwundert an, dann antwortete ich arglos: „Na, ich habe einen großen Urwald gesehen unter einer Wintersonne und einen Vogel, der…“ „Ätsch!“, rief der andere, „Schon reingefallen!“ Damit riss er einen Fetzen aus meinem Oberteil und steckte ihn sich in die Tasche. „Das“, erklärte er, „hab ich in meiner Einweihung gesehen – das man sein Geheimnis für sich behalten muss, weil man hier keinem trauen kann!“ Damit schob er mich den Gang hinunter, bis wir vor einer weiteren Tür standen. „Hier hinein!“ feixte er und schubste mich in den Raum.
 
Der große, hohe Raum war schwarz getüncht. Er war voll mit Tischen und Stühlen, auf denen Leute vor leeren Tellern saßen. Jeder von ihnen hatte Messer und Gabel in der Hand. Was für eine Teufelei war dies? Ich ging durch die Reihen und betrachtete die hier sitzenden Menschen. Ihre Gesichter waren unglücklich und verhärmt. Und dann sah ich etwas, was mich tief erschreckte. Ab und zu schnitten sie sich gegenseitig ins Fleisch, spießten ein Stück auf ihre Gabel und aßen es genüsslich. Ja, diese Menschen aßen sich gegenseitig auf! Schaudernd setzte ich mich zu einem dieser Unglücklichen und sprach ihn an: „He du, sag mir, was macht ihr hier? Wieso esst ihr euch gegenseitig auf?“ Der Angesprochene drehte den Kopf und sah mich aus blutunterlaufenen Augen an. „Das weißt du nicht?“, fragte er. „Wir haben hier alle eine missglückte Einweihung hinter uns und jetzt sind wir tot!“ „Wie?“, fragte ich, „Wie, ihr seid tot?“ „Na“, sagte die Gestalt, „bei einer missglückten Einweihung stirbt man nun mal. Und man kann nur wieder lebendig werden, indem man andere seinesgleichen aufisst, denn andere Speise ist uns hier verwehrt. Mal sehen, wie du schmeckst!“. Damit rückte er mir mit Messer und Gabel auf die Pelle. Schnell stieß ich ihn weg und stand auf. Apathisch starrte der Mann wieder auf seinen leeren Teller und streckte Messer und Gabel himmelwärts. Ich begann zu überlegen. Irgendetwas in diesem Raum hatte eine gewaltige Schieflage. Ja, dachte ich, es war die Logik dieser Menschen. Sie mochten ja alle tot sein, aber wenn das so war, warum aßen sie sich dann gegenseitig auf? Sie konnten doch nicht hoffen, durch den Genuss von ebenfalls totem Fleisch wieder lebendig zu werden! Nein, dachte ich, alle falsch Eingeweihten saßen in einem Boot. Wir konnten hier nur hinaus gelangen, wenn wir zusammenarbeiteten! Ich stellte mich vor die Bänke und Tische hin, und hielt eine flammende Rede, in der ich den Gefangenen meine Meinung kundtat. Doch sie reagierten nicht, sie starrten weiterhin stumpfsinnig vor sich hin. „Nein!“, rief ich, „von diesem Ort kann ich nichts mehr lernen! Ich will irgendwo hin, wo die Menschen sich gegenseitig helfen, statt sich zu übervorteilen!“ Da sah ich, wie eine Tür am anderen Ende des Raumes aufschwang. Erleíchtert lief ich dort hin und sah mich noch einmal um, ob mir nicht vielleicht jemand folgen wollte. Doch alle blieben traurig sitzen. Ich aber verließ jetzt diesen tristen Ort.
 
Ich trat wiederum auf einen grauen Flur. Ein paar müde Gestalten schlichen die Gänge entlang, aber ich beschloss, keinem von ihnen mehr zu folgen. Ich konzentrierte mich auf mich selbst. Langsam setzte ich Schritt vor Schritt. Da drang plötzlich etwas an mein Ohr. Es schien Gesang zu sein, es war jener Gesang, den ich schon am Anfang meiner unterirdischen Reise vernommen hatte. Klang er nicht auch wie die Stimme eines Vogels? Langsam tastend bewegte ich mich durch die Gänge, dem Gesang folgend. Allmählich wurde er immer lauter und lauter. Und als ich um eine weitere Gangbiegung gekommen war, sah ich eine große Doppeltür. Hinter dieser Tür erscholl der wunderbare Gesang. Enthusiastisch trat ich ein.
 
Der große, hohe Raum war weiß getüncht, und an der hinteren Wand war eine Wandmalerei zu sehen. Mein Herz sprang vor Freude, als ich das Motiv erkannte. Es war ein großer, grüner Urwald, mit sprießenden bunten Pflanzen und mannigfaltigen Tieren. Über allem schwebte ein bunter Vogel. „Ist hier das Paradies!?“, rief ich einem der umher eilenden Sträflingen zu. „Nein!“, rief dieser zurück, „Dies ist der Raum der kleinen Paradiese!“ Ich sah mich um. An einer Ecke des Raumes war ein großer Sonnenaufgang auf eine Wand gemalt. Davor stand ein Mann und rief immer wieder: „Oh, wie schön! Oh, wie schön!“ Daneben stand ein kleines Mädchen und streichelte einen an die Wand gemalten Rauhaardackel. Immer wieder rief sie: „Ist der nicht niedlich!?“ Etwas abseits stand ein Mann mit einem Motorradhelm auf dem Kopf. Er betrachtete ein aufgemaltes Motorrad und rief immer: „Brumm, brumm!“ Ich musste lächeln. Dieser Raum berührte mich merkwürdig, ich konnte nicht eindeutig sagen, ob positiv oder negativ. An seinem hinteren Ende befand sich eine lange Theke. Ich ging dorthin. Hinter der Theke standen Sträflinge, die ihren Leidensgenossen Pillen aller Art ausgaben, die diese gierig schluckten. Manche erhielten auch Spritzen und injizierten sich etwas in die Venen, worauf sich stets ein Lächeln über ihr Gesicht ausbreitete. „Ach“, seufzte ich, „geht es denn auch hier nicht ohne Teufeleien!?“ Niedergeschlagen ging ich in die andere Ecke des Raumes, da sah ich es plötzlich. Eine alte Frau strich einem kleinen Jungen über den Kopf! Da ging eine goldene Energie von ihrer Hand auf den Kopf des Jungen über, und in ihnen tat sich das Bild zweier aufleuchtender, von goldenen Ringen umgebenen Herzen auf. Für einen Augenblick konnte ich in diese zwei Herzen hinein sehen und ahnte alle Mysterien der Welt in ihnen, alle Geheimnisse des Universums! Da wusste ich: Das war die Lösung! Liebe empfinden und weitergeben, von Herz zu Herz! Dann war man im Paradies, war Teil aller Mysterien, hatte das Wesentliche verstanden! Das war auch die Lösung für die hungrigen Menschen in dem schwarzen Raum! Ein Lachen kam mir über die Lippen – ich hatte das Geheimnis gelüftet! Würde ich jetzt den Keller verlassen dürfen? Ich hielt nach einer Tür Ausschau und fand bald auch eine, auf der ein hübscher Vogel abgebildet war. Durch die verließ ich den Raum der kleinen Paradiese.
 
Enttäuscht stellte ich fest, dass ich nur wieder auf einem grauen Gang stand. „Nein!“, schrie ich, und trommelte mit den Fäusten gegen den Beton, „Das kann nicht sein!“ Kraftlos sackte ich zusammen. Da hörte ich etwas an mein Ohr dringen. Den Klang von klappernden Schreibmaschinen! Auch diesen hatte ich in diesem Labyrinth schon einmal gehört. Vielleicht verhieß das etwas Gutes. Ich nahm die Fährte auf und folgte dem Geklapper. Das Geräusch wurde immer lauter und schließlich stand ich vor einer weiteren Doppeltür. Ich trat ein. Ein großer, dunkler Raum tat sich vor meinen Augen auf. Er war voller Tische, auf denen Schreibmaschinen standen. An den Tischen saßen Menschen, teils in gewaltige, graue Bücher vertieft, teils Schreibmaschine tippend. Am hinteren Ende des Raumes standen tausende von Liegen vor einem zugezogenen Vorhang. Was hatte dies alles zu bedeuten? Ich schlenderte durch die Reihen der so beschäftigten und sah sie mir an, ohne dass sie Notiz von mir nahmen. Großer Ernst stand auf ihren Gesichtern. Plötzlich sah ich ein Gesicht, das ich zu kennen meinte. Auf seiner Nase saß eine runde Goldrandbrille. Ja, es war Hans Refznick, der verbannte Bibliothekar!  „Hallo, Herr Refznick!“, rief ich überschwänglich, „Kennen sie mich noch?“ Der bebrillte Mann sah auf und blickte mich verwirrt an. Dann sagte er: „Hier kennt niemand den Anderen. Hier sind wir nur Studierende!“ „Aber“, wandte ich ein, „Sie sind doch wegen mir hier! Ich bin der Typ mit der missglückten Einweihung!“ „Ach so.“, sagte Refznick teilnahmslos. „Es macht aber wirklich keinen Unterschied, wer wir da oben waren. Denn wie ich schon sagte, hier unten sind wir nur Studierende!“ „Mensch, Refznick!“, rief ich, „Nun seien sie doch nicht so apathisch! Hier muss es doch einen Weg raus geben!“ Hans Refznick führte den Zeigefinger an den Mund: „Nun seien sie still, sonst kommen noch die Wachen! Glauben sie, es gibt hier keinen Weg raus, als die Prozedur des Studierens durchzuexerzieren. Ich muss die Statuten der Einweihungsregeln studieren, bis ich sie verstanden habe, und sie…“ „Ach was“, rief ich leidenschaftlich, „Ich habe hier unten meine Lektionen gelernt! Ich will hier nur noch raus!“ Refznick bedeutete mir abermals, still zu sein. Dann sagte er flüsternd: „Glauben sie es endlich, sie kommen hier nur raus, wenn sie die für sie vorgesehenen Texte durchstudiert haben. So wollen es die sophischen Regeln.“ Ich ächzte. Diesem Kerl war nicht beizukommen. „Und wie lange kann so eine Prozedur dauern?“, fragte ich, schon halb entmutigt. „Ach“, sagte Refznick, „Machen sie sich da auf mehrere Jahrzehnte gefasst. Mindestens. Aber es ist gar nicht so übel. Man lernt eine Menge dabei und wenn man müde ist, kann man sich auf den Liegen ausruhen. Und nun stören sie mich bitte nicht länger in meiner Arbeit.“ Mit diesen Worten senkte Hans Refznick den Blick und widmete sich wieder seiner Lektüre. Das waren ja entsetzliche Aussichten! Eine graue Häftlingsfrau trat nun auf mich zu und führte mich zu meinem Platz. An meiner Schreibmaschine lagen mindestens zwanzig dicke, graue Bücher! „Nein!“, schrie ich, heiser vor Verzweiflung. „Seien sie still!“, sagte die Frau, „Je eher daran, je eher davon!“ Mit diesen Worten ließ sie mich an meinem Studierplatz zurück. Ich sank auf meinen Stuhl. Aller Mut hatte mich verlassen. Apathisch überblickte ich den Raum, hörte das Klappern der Schreibmaschinen, sah tausende in ihre Lektüre vertieft. Das war es also, das Fegefeuer!
 
Nein, dachte ich mit einem Blick auf die vielen dicken Wälzer, die an meinem Platz lagen, heute würde ich nicht mehr mit dem Studieren beginnen. Ich würde mich jetzt erst einmal auf meine Liege legen und hoffentlich tief und erholsam schlafen. Ich stand auf und ging zu der Wand mit den Liegen hinüber. Einige waren frei, einige besetzt, unter einigen Decken tönte Schnarchen hervor. Ich überlegte, auf welche Liege ich mich legen sollte und fragte mich gleichzeitig, was wohl hinter dem schwarzen Vorhang sein mochte. Ein Fenster? Aber wohin wies es? Während ich noch nachdachte, hörte ich hinter dem Vorhang den wunderschönen Gesang einer Nachtigall. Da begann mein müdes Herz wieder zu pochen und ich wusste: Hier würde ich mich niederlegen. Ich wälzte mich in die Decke und schlief sofort ein. Leider hatte ich einen üblen Alptraum. Ich sah den Zweigbeamten Lörner vor mir stehen, der mit erhobenem Zeigefinger auf mich einredete. „Studieren geht über probieren!“, wiederholte er ständig mit schnarrender Stimme. Doch nach einer Weile begann ich in meinem Traum auch die Nachtigall zu hören, immer lauter sang sie, immer jubelnder, und irgendwann übertönte sie Lörners schnarrende Stimme.
 
Ich erwachte. Es war dunkel. Dunkel und still. Keine Nachtigall sang mehr. Aber auch keine Schreibmaschine klapperte. Ich richtete mich auf. Da sah ich, dass vor meinem Bett jemand stand. Allem Anschein nach war es eine Frauengestalt. „Wach auf!“ , raunte sie mir zu, „Es ist Morgen geworden!“ Mit diesen Worten zog sie den schwarzen Vorhang beiseite und gleißendes, strahlendes Wintersonnenlicht fiel in den Raum. Blinzelnd versuchte ich die Frau zu erkennen. Es dauerte eine Weile, aber dann stockte mir der Atem. Es war Bianca-Sophie! Und sie trug nicht die graue Sträflingskleidung, sondern ein mit bunten Blumenmustern besticktes Sommerkleid. „Du Schöne!“, rief ich, „Was machst du an diesem Ort?“ Bianca lächelte: „Ich bin gekommen , um dich von hier weg zu holen.“ Ich zögerte. „Geht das denn einfach so, gegen die Regeln der Sophen?“ „Wenn du es glaubst, geht es!“, sagte sie. „Es geht mit Liebe!“ Mit diesen Worten öffnete sie das große, bodentiefe Fenster und wies mit der Hand in den Sonnenschein. Ich zitterte vor Glück, warf noch einmal einen Blick auf die furchtbare Studierstube… „Komm jetzt!“, rief Bianca-Sophie, und ich wandte meinen Blick ab von meinem einstigen Kerker, nahm ihre Hand, und wir gingen hinaus in den Sonnenschein.
 
Nur einen Moment später lagen wir in ihrem alten Zimmer Kopf an Kopf auf dem Kissen und langsam und zärtlich betastete sie nacheinander alle meine Finger. Immer noch staunend flüsterte ich: „Wie ist das möglich? Wie konntest du all die Statuten und Regeln der Sophen umgehen?“ „Nun“, sagte Bianca lächelnd, „Da gibt es etwas, was Bürohengste wie Lörner nicht wissen, obwohl sie ausgebildete Sophen sind. Vor lauter Regeln und Paragraphen haben sie das wichtigste vergessen. Natürlich läuft das Leben, laufen die Mysterien des Universums nach Regeln und Gesetzten ab, aber die Hauptregel, auf der alles beruht, ist die Liebe! Und die kann alle anderen sekundären Regeln außer Kraft setzen! Ich habe dies auch durch viel Leid in den sophischen Kellern erfahren. Aber jetzt – sind wir beide frei, endgültig!“ Sie lachte und zog mich an sich, und während ich sie küsste, hörte ich ihr Herz schlagen, ihrs und meins und ich spürte, dass unsere Herzen leuchtende Organe waren, die von goldenen Ringen umkreist wurden. Und in ihr und mir spürte ich alle Mysterien des Universums, spürte das eine Gesetz, die Liebe, die uns durchdrang und trug. Und ein Vogel schwang sich von Biancas Fensterbrett auf und flog singend über das graue Häusermeer der Stadt, das in der strahlenden  Wintersonne golden leuchtete.
 
 Patrick Rabe, Neujahr 2010. (Übrigens: Die Sophen sind eine Anspielung auf die Anthroposophen, die Anhänger Rudolf Steiners, der eine großangelegte, esoterische Weltanschauung unters Volk brachte und unter Anderem die Waldorfschulen begründete.)

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 31.08.2013. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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