Klaus-Peter Behrens

Artefaktmagie, Teil 40

Michael hatte schlecht geschlafen. Mitten in der Nacht war er plötzlich mit dem Gefühl aufgewacht, daß ihnen eine große Gefahr drohte. Doch um ihn herum hatten, mit Ausnahme von Streitaxt, der gerade Wache schob, alle friedlich geschlafen. Etwas beruhigt hatte sich Michael wieder hingelegt, aber der Zweifel hatte ihn selbst im Schlaf verfolgt und dafür gesorgt, daß er bis zum Morgen ein paar höchst unangenehme Alpträume gehabt hatte, in denen er von dem Wandler gejagt worden war. Entsprechend gerädert fühlte er sich am nächsten Morgen. Als er den Gefährten während des Frühstücks zögernd von seinen Träumen berichtete, stellte er erstaunt fest, daß auch diese ähnliche Träume gehabt hatten.

"Vielleicht war es eine Warnung oder eine Art Vorhersehung. Unser Volk glaubt, daß die Träume uns Botschaften übermitteln", sagte Taren mit mahnender Stimme, worauf betroffenes Schweigen herrschte, bis Grimmbart mit seiner polternden Art die düstere Stimmung vertrieb.

"Alles Unsinn. In meinem Traum habe ich ihm jedenfalls mit der Axt das Licht ausgepustet. Dann haben wir also nichts zu befürchten", gab er mit entschlossener Stimme kund, wobei er den Gefährten geflissentlich verschwieg, daß in seinem Traum nicht alle diesen Moment erlebt hatten.

Aber warum sollte er die anderen beunruhigen?

Schließlich war es nur ein Traum, und auf den gab er nicht viel. Träume waren für ihn nicht mehr als bunte aber bedeutungslose Bilder während der Finsternis der Nacht, die ihm die Langeweile im Schlaf vertrieben. Und egal wie düster seine Träume mitunter auch gewesen waren, bisher hatte sich keiner davon bewahrheitet.

"Trotzdem müssen wir auf der Hut sein", warnte Glyfara. "Der Wandler hat mehr Leben als eine Katze, und er hat mehr als einmal bewiesen, wozu er in der Lage ist."

"Gefährlich", bestätigte der Wühler.

Die Gefährten nickten zustimmend bei der Erinnerung an das gemeinsam Erlebte. Sie würden zukünftig noch vorsichtiger sein müssen. Dann machten sie sich daran, das Lager abzubauen und den Wagen zu beladen. Während ringsum rege Betriebsamkeit herrschte, berichtete Taren über das, was sie über die vor ihnen liegende Wegstrecke wußte, und das war alles andere als erbaulich.

"Wir müssen eine Wüste durchqueren?", wiederholte Grimmbart, als könne er das Gesagte nicht ganz glauben. Taren nickte.

"Die Wüste der tausend Winde."

"Uns bleibt auch nichts erspart", brummte Streitaxt. "War irgendeiner von euch schon einmal dort?"

"Ich habe von ihr gehört." Glyfaras Gesichtsausdruck war schwer zu deuten. "Man braucht Tage, um sie zu durchqueren."

"Wenn man den Weg kennt", ergänzte Taren.

"Und du kennst ihn?", fragte Grüneich mißtrauisch. Taren nickte zögernd, wobei sie dem prüfenden Blick des Trolls auswich. Er flößte ihr noch immer Unbehagen ein.

"Wir sind vor ein paar Jahren einmal hindurch gezogen. Der Weg ist weit und gefährlich, aber zu bewältigen. Allerdings müssen wir nachts bis zum frühen Morgen fahren und tagsüber im Schatten eines Felsens rasten. Anders ist es nicht zu schaffen. Die Temperaturen am Tag sind zu mörderisch!"

"Gut, das leuchtet mit ein, aber wie willst du mit diesem Wagen durch die Wüste kommen? Er wird doch sofort im Sand stecken bleiben. Das ist schließlich kein Allradjeep", gab Michael zu bedenken, doch Taren winkte ab.

"Die Wüste besteht aus Sand und Geröll. Das gibt einen ausreichend sicheren Untergrund."

"Sie hat Recht", räumte Glyfara ein. "Die Wüste soll angeblich befahrbar sein, aber es ist trotzdem ein Risiko."

"Na schön", brummte Grüneich, "dann laßt uns jetzt endlich aufbrechen. Und wenn wir doch stecken bleiben sollten, lassen wir den Wagen zurück und verspeisen das Pferd."

"Lecker", stimmte der Wühler ihm zu.

 

Der würzige Geruch von Pinien und Hochlandmohn lag in der Luft, als sich der Wagen über den ausgefahrenen Karrenweg den bewaldeten Berghang hinunter quälte. Bewundernd beobachtete Glyfara, wie Taren und das Pferd zu einer Einheit verschmolzen. Geschickt verstand es das Mädchen vom Fahrenden Volk, das Pferd mit kurzen Befehlen an kritischen Stellen zu den richtigen Manövern zu bewegen, während sie zugleich die Bremse handhabte, als habe sie ihr Leben lang nichts anderes gemacht. Zufrieden mit ihrer Entscheidung, Taren zu einem Mitglied ihrer Gruppe gemacht zu haben, lehnte sich Glyfara zurück und begann, sich zum ersten Mal seit Wochen ein wenig zu entspannen. Vom Tal herauf striff ein warmer Wind durch die Bäume, der die Erinnerung an Eis und Schnee langsam verblassen ließ.

Gegen Abend erreichten sie schließlich unbeschadet die Ebene von Elchor, wo der Baumbewuchs nach und nach zurückging, bis sie schließlich durch eine karge, unfruchtbare Landschaft fuhren, eine harmlose Vorstufe dessen, was noch vor ihnen lag.

Im Gegensatz zum vorangegangenen Tag war Taren im Laufe des Tages immer mehr aufgetaut, bis sie sogar ihre Scheu gegenüber Grüneich überwunden und gelegentlich sogar ein paar Worte mit ihm gewechselt hatte. Alles schien sich zum Besseren zu wenden. Selbst das Proviantproblem für die Durchquerung der Wüste hatte sich in Wohlgefallen aufgelöst, als ihnen in dem bewaldeten Gebiet des unteren Berghangs plötzlich ein kapitaler Rehbock über den Weg gelaufen war. Die Stimmung der Gefährten war daher optimistisch, als sie an diesem Abend ihr Lager aufbauten.

Taren hatte ihnen erläutert, daß sie die ersten Ausläufer der Wüste erreicht hatten, und so trafen alle fieberhaft die Vorbereitungen für die Durchquerung. Wasserschläuche wurden an einer kleinen Quelle bis zum Platzen gefüllt und das Fleisch des Hirschbocks unter Taren fachkundigen Händen für die Durchquerung zubereitet und haltbar gemacht. Nach einer ruhigen Nacht, in der niemand von Alpträumen gequält wurde, bereiteten sie sich bei Anbruch der Dämmerung auf die kommende Etappe vor. Taren hatte alle angewiesen, noch einmal ausgiebig Wasser aus der Quelle zu sich zu nehmen, denn ab jetzt hieß es Wasser sparen. Da sie als einzige über ein wenig Wüstenerfahrung verfügte, erklärte sie den Gefährten eindringlich, worauf beim Durchqueren der Wüste unbedingt zu achten war.

"Vermeidet es, durch den Mund zu atmen, denn sonst trocknet ihr zu schnell aus. Trinkt nie zuviel auf einmal sondern in stetigen Rationen über den Tag verteilt. Wenn wir rasten, seht zu, daß ihr euch nicht direkt auf den Boden setzt. Die Erde entzieht euch eure Energie wie ein Schwamm. Also haltet nach Möglichkeit einen Abstand von mindestens einem Fuß zum Boden ein, wenn ihr euch hinsetzt. Am besten rasten wir auf dem Wagen. Und vergeßt nie: Die Wüste ist eine der lebensfeindlichsten Regionen dieser Welt, ein riesiges Nichts voller Gespenster und Trugbilder, und das macht sie so gefährlich. Es ist eine eigene Welt, mit eigenen Regeln, und nur wer sie befolgt, hat eine Chance zu überleben. Denkt immer daran! Die Gebeine derjenigen, die dies vergessen haben, bleichen zu hunderten dort draußen in der Sonne."

Eindringlich warf sie einen Blick in die Runde. Als keiner etwas sagte, machte sie abrupt kehrt und ging zu dem bereits angeschirrten Pferd hinüber.

"Und nun laßt uns aufbrechen. Eine weite Strecke liegt vor uns", rief sie über die Schulter, worauf sich die Gefährten mit gemischten Gefühlen auf den Weg machten.

"Geht doch nichts über ein paar aufmunternde Worte", brummte Streitaxt verdrießlich, worauf er von Grüneich einen aufmunternden Schlag auf die Schulter erhielt, bei dem Michael in die Knie gegangen wäre, vermutlich mit gebrochenem Schlüsselbein.

"Ihr Zwerge seid einfach zu miesepetrig", brummte der Troll vergnügt.

 

Eine Stunde später, als die Sonne bereits ihre unerbittlichen Strahlen zur Erde sandte, mußte jeder der Gefährten zu seinem Leidwesen feststellen, daß Taren nicht übertrieben hatte. Selbst Grüneich war die gute Laune vergangen.

Kein Windhauch verschaffte ihnen in der Gluthitze Erleichterung, was Grimmbart gelegentlich einen bissigen Kommentar über den Namensgeber dieser Wüste entlockte. In der Tat war das Vorwärtskommen eine Qual, so daß sie bereits jetzt, so kurz nach Sonnenaufgang das Gefühl hatten, in einem Backofen unterwegs zu sein, den jemand auf höchste Stufe gestellt hatte. Flirrende Hitze lag über der sandigen Ebene, die selbst das Luftholen zur Qual machte. Alle atmeten daher dankbar auf, als Taren den Wagen lange vor der Mittagszeit in den Schatten eines hoch aufragenden Felsen lenkte, die in unregelmäßigen Abständen die Eintönigkeit der Landschaft durchbrachen. Während sich die Gefährten sorgsam dosiert an den Wasserschläuchen bedienten, kümmerte Taren sich um das Pferd. Das struppige, schwarze Tier nahm dankbar das Wasser an, das Taren ihm in einer Schale hinhielt. Sie war mit Pferden aufgewachsen und wußte, wie wichtig es war, sie gut zu versorgen.

"Sag mal, wieso hat diese Einöde eigentlich diesen seltsamen Namen? Hier weht ja noch nicht einmal der Hauch einer Brise", fragte Michael stöhnend, der schmerzlich die kühlen Winde Hamburgs vermißte. Nie wieder würde er sich über das Wetter in seiner Heimat beschweren. Taren, die das Pferd inzwischen versorgt hatte, kam herüber geschlendert. Ihr Gesicht drückte Besorgnis aus.

"Für den Namen gibt es einen guten Grund", fing sie an zu erzählen. "Die eigentliche Gefahr der Wüste liegt nicht in der Hitze oder dem Fehlen von Wasser. All das kann man kompensieren durch Proviant und vernünftiges Handeln, wie das Wandern bei Nacht und in den Morgenstunden und den Regeln, die ich euch erklärt habe. Die wirkliche Bedrohung stellen hingegen die unverhofften Sandstürme dar, die hier ohne Vorwarnung über einen hereinbrechen können. Naturgemäß gibt es nur wenige, die darüber berichten können, denn wer in einen solchen Sturm hineingerät, hat kaum eine Überlebenschance. Man sagt, die Winde könnten die Wüste in ein tosendes Meer verwandeln. Ich habe viele Erzählungen über die Tücken der Wüste und die Sandstürme, die aus dem Nichts entstehen, gehört. Riesige Sanddünen würden plötzlich dort empor wachsen, wo eben noch flaches Land gewesen war, und wer seine Haut nicht schützt, dem zieht sie der peitschende Sand in kürzester Zeit ab. Die tausend Winde haben schon so manch einen Reisenden getötet. Seid also dankbar dafür, daß sich kein Windhauch regt."

"Das sind ja verlockende Aussichten", knurrte Streitaxt, dem die Worte Tarens sichtlich zu schaffen machten. Der Zwerg fürchtete keinen Gegner aus Fleisch und Blut, vor der Natur hingegen hatte er einen höllischen Respekt.

"Schlecht", brummte der Wühler, der es sich getreu Tarens Anweisung auf dem Wagen bequem gemacht hatte und nun argwöhnisch die Wüste beäugte. Er sehnte sich zurück nach den dichten Wäldern seiner Heimat.

"Das erklärt den Namen, den andere den Winden dieser Wüste geben", sagte Glyfara. Ihre Augen waren auf einen unbestimmten Punkt in der Ferne gerichtet.

"Würdest du ihn uns vielleicht auch mitteilen?", brummte Grüneich ungehalten. "Mir ist nicht nach Raten zumute."

Glyfara zögerte noch einen Augenblick, während sie den Blick über die Einöde streifen ließ. Dann wandte sie sich seufzend den fragenden Gesichtern ihrer Gefährten zu.

"Man nennt sie auch den Hauch des Todes", erklärte sie mit bedrückter Stimme.

 

Der Abend wurde eingeleitet vom Untergang der Sonne, die als kupfern glänzende Scheibe am Horizont versank. Wie von Taren angekündigt, fiel die Temperatur stetig ab, was angesichts der Hitze, die den ganzen Tag über geherrscht hatte, eine angenehme Abwechslung war.

Rasch machten sich die Gefährten auf den Weg. Sämtliches Gepäck einschließlich der Waffen hatten sie zuvor auf den Wagen verladen, den sie nun zu Fuß begleiteten, denn das Pferd konnte unmöglich auch noch ihr Gewicht durch die Wüste ziehen. Taren, die das Pferd am Halfter führte, schlug sogleich ein scharfes Marschtempo an, denn in der Wüste galt es, keine Zeit zu verlieren. Zum Leidwesen der Gefährten erwies sich der Marsch jedoch auch in der Nacht als Höllenstrapaze. Zwar waren die Temperaturen erträglich, dafür mußten sie aber immer wieder gemeinsam den Wagen durch größere Sandverwehungen schieben, die im Gegensatz zum frühen Morgen nun stetig auftraten, oder sich über steiniges Gelände quälen.

Als der Mond einige Zeit später den Himmel erobert hatte und die Umgebung in sein silbriges Licht tauchte, war es daher kein Wunder, daß die Gefährten die Anstrengung des Marsches bereits in allen Knochen spürten. Selbst der Wühler hatte inzwischen seine Kommentare eingestellt und konzentrierte sich nur noch darauf, eine Pfote vor die andere zu setzen.

Schweigend kämpfte sich die Gruppe durch die unwirkliche Landschaft, die im silbrigen Licht des Mondes ungewöhnlich klar wirkte. Kein Lufthauch regte sich und kein Laut erklang, sah man einmal von dem gelegentlichen Stöhnen der Gefährten ab. Alle waren daher dankbar, als Taren beim ersten Licht der aufgehenden Sonne eine Ansammlung von Felsen ansteuerte, die sich wie ein paar einsame Wächter aus dem Wüstensand erhoben. Erschöpft sanken die Gefährten in dem Schatten des größten Felsens zu Boden, während Taren das Pferd versorgte. Rasch stieg die Temperatur nun an. Gegen Mittag hatte Michael das Gefühl, vor einem offenen Backofen zu sitzen. Selbst im Schatten war es jetzt drückend heiß, draußen, in der Sonne, mußte es hingegen die Hölle sein. Je tiefer sie in die Wüste eindrangen, desto heißer schien es zu werden. Im Stillen beglückwünschte er Taren zu ihrer Weitsicht, die Wanderung bei Nacht zu unternehmen. Bei Tag wären sie nicht weit gekommen und ohne den Schutz der Felsen, in dem sie sich nun ausruhten, vermutlich jämmerlich eingegangen.

 

Als die Sonne sich am Abend anschickte, diese Hälfte der Welt zu verlassen, brachen sie erneut auf. Taren hatte ihnen im Laufe des Tages erzählt, daß sie vorangegangenen Nacht gut vorangekommen waren und bei Beibehaltung des Tempos in vier Tagen die andere Seite erreichen würden. Auch diese Nacht unterschied sich kaum von der vorangegangenen, sah man einmal davon ab, daß der Grad der Erschöpfung stetig stieg und die Gefährten fast den gesamten folgenden Tag durchschliefen.

In der dritten Nacht änderte sich nach und nach die Landschaft. Der Pfad, dem sie nun im Schlängelkurs durch eine bizarre Felslandschaft folgten, führte stetig aufwärts, da die Wüste an dieser Stelle von einer leichten Hochebene geteilt wurde. Rings um sie herum erhoben sich nun immer mehr steinerne Monumente in den kalten Nachthimmel, die zum Teil tiefe Schluchten bildeten. Doch nicht nur die Landschaft änderte sich.

Urplötzlich erschien eine schwarze Wolkenwand am Horizont, die in erschreckendem Tempo die Sterne auszulöschen begann. Es war nur eine Frage der Zeit, bis auch die silbrig glänzende Scheibe des Mondes hinter der Wolkenwand verschwinden und die Gefährten im Dunklen stehen würden.

"Das sieht nicht gut aus", bemerkte Taren daher mit angespannter Stimme, während sie unruhig in den schnell finster werdenden Himmel starrte. Die wabernde Wand in der Ferne erweckte den Eindruck, als würde sie alles gnadenlos verschlingen, was auf ihrem Weg lag. Und sie kam unbarmherzig näher.

"Wir bekommen bald Probleme."

"Ich dachte, die hätten wir schon", knurrte Grüneich, dem die Füße von dem Gewaltmarsch der letzten Tage schmerzten. Aber Taren war nicht nach Scherzen zu Mute. Ihr Gesicht drückte ernste Besorgnis aus, während sie mit der Hand ihrem Pferd über die Nüstern strich, um es zu beruhigen; denn auch das Tier spürte, daß Gefahr drohte. Michael hingegen konnte Taren Besorgnis wegen ein paar aufziehenden Gewitterwolken nicht nachvollziehen, auch wenn er zugeben mußte, daß diese Gewitterwand gewaltige Ausmaße hatte. Die Welt schien an dieser Wand zu enden. Erstaunt stellte er fest, daß sich die Haare an seinen Armen aufgestellt hatten. Vermutlich statische Elektrizität, dachte er in Erinnerung an eine seiner Physikstunden. Sein Lehrer hatte sich damals darum bemüht, der gelangweilten Klasse zu erklären, wie es im Vorfeld eines Unwetters in den südlichen Regionen der Erde zu statischen Entladungen und Kugelblitzen kommen kann. Besonders trockene, warme Luft und kinetische Energie führt zu statischen Entladungen, und jedes Unwetter treibt diese statische Energie wie eine Woge vor sich her. Sie kann stark genug werden, um Stromkreise in Sekunden lahm zu legen, hatte er ihnen damals erklärt und damit allgemeines Grinsen ausgelöst. Aber nach Grinsen war Michael nicht zumute. Er gestand sich ein, daß er das heraufziehende Unwetter möglicherweise doch ein wenig falsch eingeschätzt hatte, während er sich mit den Händen über seine Unterarme strich, um die Haare zu glätten. Dann wandte er sich Taren zu und versuchte, das ganze mit Galgenhumor zu nehmen. Schließlich blieb ihnen ohnehin keine Wahl. Die Wand würde sie bald erreicht haben.

"Im schlimmsten Fall werden wir heftig naß werden" bemerkte er, "und ich hätte nichts gegen eine kleine Erfrischung."

"Narr", schimpfte Taren. "Das sind Unwetterwolken. Hast du vergessen, was ich über Unwetter in der Wüste erzählt habe? Sieh dir die gelbliche Färbung im Vorfeld der Unwetterfront an. Das ist ein Sandsturm, dicht gefolgt von einem Unwetter. Schlimmer geht es nicht mehr. Wenn uns der Sandsturm nicht umbringt, wird es der nachfolgende Regen tun."

"Das mit dem Sandsturm leuchtet mir ein", räumte Michael ein, "aber wieso sollte der Regen uns gefährlich werden?"

Taren rollte ungehalten mit den Augen.

"Wonach sieht das hier wohl aus?"

Mit dem Finger wies sie auf den sandbedeckten Pfad, dem sie seit Stunden völlig abgestumpft durch diese unwirkliche Gegend gefolgt waren. Zum erstem Mal fiel Michael auf, daß die Rinne, in der sie sich seit einer halben Ewigkeit vorwärts quälten, einem ausgetrocknetem, mit Sand gefülltem Bachbett ähnelte. Als er seine Vermutung mitteilte, nickte Taren energisch mit dem Kopf.

"Wenn der Regen erst einmal eingesetzt hat, wird er sich in den höheren Lagen sammeln und diesen Weg als Abfluß wählen. In kürzester Zeit wird diese harmlose Rinne dann zu einem reißenden Strom werden." In diesem Moment ertönte ein schauerliches Heulen, das die Gefährten zusammenzucken ließ.

"Was bei Burgos Backenbart war das?", fragte Grimmbart mit finsterer Miene. Mit zwei Schritten war er bei dem Wagen, um seine Waffe griffbereit zu haben.

"Der Hauch des Todes", antwortete Glyfara an Tarens Stelle, die grimmig nickte.

"Stimmt. Der Wind fängt sich in den Felsen und kündet den nahenden Sandsturm und damit den Tod all derer an, denen es nicht rechtzeitig gelingt, in Deckung zu gehen. Wir haben nicht mehr viel Zeit." Nervös sah sie sich um. "Seht ihr die Ansammlung von Felsen weiter oben?"

Die Gefährten nickten.

"Sie bilden eine Schlucht. Dort werden wir einigermaßen sicher sein."

Begleitet von dem gespenstischen Heulen des Windes, das klang, als würde ein ganzes Rudel hungriger Wölfe die Gegend nach geeigneter Beute durchkämmen, machten sie sich auf den Weg. Doch die ersten, heftigen Windböen setzten bereits ein und machten das Vorwärtskommen schwierig. Schon jetzt mußten sie sich gegen die Windböen anstemmen, die ihnen unbarmherzig den Sand ins Gesicht bliesen. Und das war erst der Anfang, denn bisher hatte sie lediglich das Randgebiet des Sturms erreicht. Aber das würde sich bald ändern. Der Geruch von Ozon lag in der Luft und ließ Schlimmes erahnen.

"Macht euch auf etwas gefaßt, der Sandsturm bricht jeden Moment los", warnte Taren die Gefährten, die mit Entsetzen beobachteten, wie der Sand um sie herum in Bewegung geriet, als würde er plötzlich flüssig werden. Es war ein unheimlicher Anblick, unterstrichen vom dem schauerlichen Heulen, das von Sekunde zu Sekunde lauter wurde und sein übriges tat, um die Gefährten zu beunruhigen. Aber selbst dieses Geräusch wurde allmählich überlagert von einem fernen Grollen, das an einen vorbeifahrenden Güterzug erinnerte. Das Zentrum des Sandsturms kündigte sich an. Und es kam rasend schnell näher.

In Kürze würde der Sturm sie einfach überrollen, und sie waren noch lange nicht in Sicherheit. Aus Furcht vor der hoch aufragenden, gelblich wabernden Wand aus Sand, die alles zu verschlucken schien, verdoppelten die Gefährten ihre Anstrengungen, aber der Sandsturm war trotzdem schneller.

Wie ein Raubtier griff er die Gefährten an und brachte sogar den schweren Troll ins Straucheln, als das Zentrum des Sturms sie erreichte. Von einer Sekunde auf die andere wurde soviel Sturm, Staub und Sand aufgewirbelt, daß sich die Sicht nahezu auf Null reduzierte. Die Gefährten hatten das Gefühl, in einem Hexenkessel gelandet zu sein, in dem sie den Naturgewalten hilflos ausgeliefert waren. Mit gesenkten Köpfen und weit vornüber gebeugten Oberkörpern kämpften sie um jeden Fußbreit Boden, während der Wind ihnen apokalyptische Botschaften ins Ohr heulte. Gnadenlos peitschte der Sturm ihnen nun den Sand ins Gesicht, der sich anfühlte, wie zehntausend glühende Nadelspitzen. Wo die Haut nicht von Stoff bedeckt war, wurde sie in kürzester Zeit wund gescheuert und blutig.

Von allen Seiten hämmerten die Winde mit unerbittlicher Härte auf sie ein, attackierten sie wie lebende Wesen. Die Lage war mehr als ernst. Verzweifelt versuchten sie, ihre Gesichter so gut es ging zu schützen, erfolglos. Jeder Schritt war eine Herausforderung, der sie an die Grenze ihrer Leistungsfähigkeit brachte.

Und das Schlimmste stand ihnen erst noch bevor.

Zum Greifen nah erhob sich nun die Wolkenfront wie eine tiefschwarze Mauer in den Nachthimmel.

Und sie kam rasend schnell näher.

Zuckende Blitze und Wetterleuchten in ihrem Inneren kündeten von der Heftigkeit des Unwetters, das sie jeden Augenblick erreichen würde. Michael schätzte, daß sie noch gut zweihundert Meter von der schmalen Felsschlucht trennten, die Taren angepeilt hatte, als der Regen einsetzte. Nahezu übergangslos, nur begleitet von einem gewaltigen Donnerschlag, ging plötzlich eine wahre Sintflut auf die Gefährten nieder, und es wurde schlagartig dunkel, da ein Baldachin aus tiefschwarzen Wolken den Mond endgültig verschluckt hatte und nun unheilverkündend über ihren Köpfen hing. Zwar befreite sie der niederprasselnde Regen von dem Biß des peitschenden Sandes, dafür wurde der Untergrund in beängstigendem Tempo schlüpfrig wie ein morastiges Flußbett, so daß das Vorankommen in dem heulenden Sturm nahezu unmöglich wurde.

Hinzu kam, daß das Wasser in der Rinne in beängstigendem Tempo anstieg. Jedem war nun endgültig klar, in welcher Gefahr sie sich befanden. Taren hatte nicht übertrieben. Es war nur eine Frage der Zeit, bis das Wasser sie alle mitreißen würde. Schon jetzt spürte Michael den bedrohlichen Sog an seinen Füßen. Es war eine Sache, sich ein derartiges Naturschauspiel im Fernsehen anzusehen oder in einem spannenden Buch darüber zu lesen, eine völlig andere, es selbst zu erleben. Michael hätte gerne auf diese Erfahrung verzichtet. Mit einer Hand klammerte er sich an den Wagen, dem einzigen Rettungsanker in einer Welt des Chaos, den das schwarze, struppige Pferd mit rollenden Augen verzweifelt durch die ansteigenden Wassermassen zog. Nervös glitt sein Blick zu den eisenbeschlagenen Rädern ihres Gefährts. Es konnte sich nur noch um Minuten handeln, bis das Wasser die Radnabe erreichen und sie endgültig stecken bleiben würden. Sie mußten dringend raus aus den Fluten und sich in den Schutz der Felsen begeben, die in dem wirbelnden Chaos kaum noch auszumachen waren. Wie steinerne Wächter wachten sie über das Spektakel zu ihren Füßen.

Michael überlegte gerade, ob er sich nach vorne zu Taren durchkämpfen sollte, doch Grimmbart war bereits an ihrer Seite und half dabei, das verängstigte Pferd durch das ansteigende Wasser zu führen. In diesem Moment riß eine besonders kräftige Böe alle von den Füßen. Michael, der plötzlich nicht mehr wußte, wo oben und unten war, wurde wie ein Spielzeug durch die Luft gewirbelt. Der Aufprall raubte ihm den Atem, da das knietiefe, schäumende Wasser den Aufprall kaum minderte. Stöhnend richtete er sich auf und wischte sich Wasser und nassen Sand aus dem Gesicht, während er sich verzweifelt gegen den Sturm und den Sog des Wassers stemmte. Doch ohne den Wagen als Rettungsanker hatte er keine Chance gegen das Wüten der Naturgewalten. Meter für Meter wurde er weiter zurückgedrängt. Die Panik drohte ihn bereits zu übermannen, als plötzlich, wie ein Ungeheuer aus der Tiefe, die massige Gestalt des Trolls in dem wirbelnden Chaos auftauchte, sich Michael einfach wie einen nassen Sack über die Schulter warf und zurück zu den Gefährten stapfte.

Nachdem Grüneich ihn abgesetzt hatte, klammerte sich Michael dankbar und mit zitternden Beinen wieder an die fragliche Sicherheit des Pferdewagens. Mit der Kraft der Verzweiflung kämpfte er sich nun wieder allein durch den tobenden Sturm. Sein ganzes Denken reduzierte sich nur noch darauf, einen Schritt vor den anderen zu machen. Alles andere war unwichtig geworden.

Im Nachhinein konnte er nicht mehr sagen, wie sie es schließlich doch noch geschafft hatten, das Flußbett zu verlassen und die rettende Schlucht zu erreichen. Doch sie hatten es geschafft, und nur darauf kam es an.

Kaum hatten sie sich in den Schutz der aufragenden Felswände begeben, ließ der Sturm unvermittelt nach. Zielstrebig drang Karen tiefer in die Schlucht ein, bis sie unterhalb eines überstehenden Felsens, der guten Schutz gegen den nach wie vor niederprasselnden Regen bot, schließlich anhielt. Das Pferd schnaubte zufrieden angesichts des Umstandes, daß sie dem Unwetter einstweilen entronnen waren, doch der Kampf gegen die Kräfte der Natur hatte Spuren in den Gesichtern der Gefährten hinterlassen. Es gab keinen unter ihnen, der nicht von Erschöpfung gezeichnet war und einen bemitleidenswerten Eindruck erweckte.

"Was glaubst du, wie lange das noch andauert?", fragte Glyfara, die mit einem nassen Ärmel versuchte, sich den Sand aus dem Gesicht und den Augen zu wischen. Taren zuckte ratlos mit den Achseln.

"Das kann man nie genau sagen, aber in der Regel verschwinden die Stürme in dieser Region genauso schnell, wie sie kommen."

Ein plötzliches heftiges Wiehern ließ Taren herumfahren. Erstaunt sah sie, daß das Pferd hektisch mit den Augen rollte, Schaum vor dem Maul hatte und der Panik nahe war.

"Es hat panische Angst, aber wovor? Hier sind wir vor dem Unwetter relativ sicher." Taren war ratlos.

"Vielleicht hat es vor etwas anderem Angst", überlegte Grimmbart während er die Wände der Schlucht absuchte. Aufgrund des starken Regens und den gelegentlichen peitschenden Windböen, die durch die Schlucht fegten und Staub und Sand mitbrachten, konnte er nicht allzuviel erkennen. Theoretisch hätte sich tiefer in der Schlucht eine ganze Horde von Ungeheuern aufhalten können, ohne daß sie das bemerken würden. Ehe er eine diesbezügliche Frage an Taren stellen konnte, ging plötzlich ein gewaltiger Ruck durch die Welt. Ohne Vorwarnung hob sich der Boden, als habe ein unterirdischer Riese seine Faust gegen die Erdkruste gehämmert. Die Erschütterung war so stark, daß es die Gefährten von den Füßen fegte. Rings um sie herum prasselte Geröll und kleine Steine auf den Boden. Nur der Umstand, daß sie unter dem Felsüberhang Schutz gesucht hatten, bewahrte sie vor schweren Steinschlagverletzungen. Einen Augenblick bebte die Erde noch nach, dann war es schlagartig vorbei. Glyfara kam es vor, als würde selbst der Sturm für einen Augenblick den Atem anhalten.

"Das war ein gottverdammtes Erdbeben!", fluchte Michael, der sich mühsam wieder aufrappelte und überrascht feststellte, daß Grimmbart Taren in Deckung gezogen und sie mit seinem breiten Rücken vor herabfallenden Gestein geschützt hatte. Michael führte das darauf zurück, daß der Zwerg wußte, wie wichtig Taren für das sichere Durchqueren der Wüste war, aber ganz sicher war er sich nicht über die Motivation des Zwerges. Im Moment war ihm das aber auch egal. Seine Beine fühlten sich an wie Pudding, und der Schrecken saß ihm noch tief in den Knochen. Nie zuvor hatte er ein Erdbeben erlebt. Er hätte nicht gedacht, daß man sich dabei so hilflos fühlen würde.

"Wackelig", beschwerte sich der Wühler, der mit seinem tropfnassen Fell einen amüsanten Anblick bot, aber im Augenblick war niemanden zum Lachen zumute.

"Das war kein Erdbeben", sagte Glyfara nachdenklich.

"Was soll es denn dann gewesen sein?", fragte Grimmbart aufgebracht. "Der Boden hat gebebt, als würde der Kriegsgott persönlich mit seinem Hammer auf die Erde einschlagen."

"Drauf gehauen", pflichtete der Wühler ihm solidarisch bei. Die anderen nickten zustimmend, mit Ausnahme von Taren.

"Aber hier hat es noch nie ein Erdbeben gegeben", hielt sie entgegen.

"Einmal ist immer das erste Mal", knurrte Grüneich.

"Ich denke, daß irgend etwas anderes dahinter steckt", spekulierte Glyfara. "Ich hoffe nur, daß dies nicht bedeutet, daß der Bann gebrochen ist."

"Unsinn", wiegelte Grimmbart ab. "Wie soll der Wandler die Siegel gebrochen haben?"

"Auf dieselbe Weise, wie er selbst in diese Welt gelangt ist. Vielleicht hat er ein wenig nachgeholfen und die Grenze zwischen unseren Welten weiter aufgebrochen."

"Dann kommt deine Warnung zu spät", sinnierte Taren. "Wir können umdrehen."

"Können wir nicht", erwiderte Glyfara, die beschloß, Taren in die ganze Geschichte einzuweihen. "Es gibt da nämlich noch eine Kleinigkeit, die du noch nicht weißt", fing sie an und erzählte Taren den wahren Grund ihrer Reise. Als sie schließlich das sorgsam verstauten Artefakt aus ihrer Ledertasche holte und Taren zeigte, war diese erstaunt, daß dieser unscheinbare Gegenstand einen Krieg verhindern und die Dämonen auf immer in ihre Welt der Schatten verbannen könnte.

"Und du bist sicher, daß sich damit der Bann aufrechterhalten läßt?", fragte sie sicherheitshalber nach. Glyfara nickte.

"Dann können wir nur hoffen, daß dies wirklich nur ein Erdbeben war, anderenfalls werden wir bald das zweifelhafte Vergnügen haben, als Gejagte an der größten Treibjagd in der Geschichte dieser Welt teilzunehmen", stellte Taren nüchtern fest.

"Halali", brummte der Wühler.

 

Tarens Einschätzung der Wetterlage erwies sich als zutreffend. Als der Morgen graute, verschwand das Unwetter genauso schnell, wie es gekommen war. Angesichts der unwirklichen Stille der Morgendämmerung kam den Gefährten das Erlebte wie ein Traum vor.

Schnell sorgte die aufgehende Sonne dafür, daß auch die letzten Spuren des sintflutartigen Regens sich bald in Wohlgefallen auflösten, und selbst die Kleidung der Gefährten trocknete bei den schnell ansteigenden Temperaturen schneller, als es ihnen lieb war. Zum Glück bot die Schlucht genug Schatten, um den Tag geschützt zu verbringen. Taren, die sich gemeinsam mit Glyfara zum Ausgang der Schlucht begeben hatte, um sich ein Bild von den Auswirkungen des Sturms zu machen, kam mit zuversichtlichem Gesicht zu ihrem improvisierten Lagerplatz zurück.

"Das Wasser im Flußbett ist bereits wieder versiegt", teilte sie den Gefährten mit. "Es ist zwar noch schlammig, doch die Sonne wird dafür sorgen, daß es heute Nacht wieder befahrbar ist."

"Hoffen wir, daß uns weitere böse Überraschungen erspart bleiben", brummte Grüneich.

 

Als der Tag sich dem Ende zuneigte sah der Himmel aus, als habe die noch immer glühendheiße Wüste ihn in Brand gesetzt. Es war ein prächtiges Farbenspiel, wie Michael es noch nie zuvor in seinem Leben gesehen hatte, und es machte ihm zugleich bewußt, wie weit weg er von Zuhause war. Wie oft hatte er von Abenteuern in fernen Ländern geträumt, und jetzt, wo er mitten in einem gefährlichen Abenteuer steckte, wünschte er sich nichts mehr, als wieder in seiner vertrauten Umgebung zu sein. Er seufzte tief, als sich die Sonne endgültig anschickte, diesen Teil der Erde zu verlassen und die Dunkelheit über sie hereinbrach. Flugs wurde das Lager abgebrochen, und erneut machte sich die Gruppe unter Tarens kundiger Führung auf ihren beschwerlichen Weg.

Wie von Taren angekündigt, hatte die Sonne sämtliche Spuren der vergangenen Nacht beseitigt. Trotzdem atmeten die Gefährten erst erleichtert auf, als sie die Hochebene und damit das Flußbett hinter sich gebracht hatten und sich wieder durch die eintönige Landschaft der Wüste quälten. Hier würde ihnen bei einem erneuten Unwetter zwar der Regen nicht mehr gefährlich werden, allerdings verspürte niemand den Wunsch, einem ausgewachsenen Sandsturm in dieser schutzlosen Umgebung zu trotzen. Die Erinnerung an die tausend glühende Nadelstiche war allen noch bestens in Erinnerung verhaftet. Es war daher nicht verwunderlich, daß die Gefährten immer wieder verstohlene Blicke in den Himmel warfen, saß ihnen doch der Schreck über die tausend Winde dieser Wüste noch tief in den Knochen. Selbst der stoische Grüneich ließ es sich nicht nehmen, alle zehn Minuten den Nachthimmel nach Anzeichen einer Bewölkung abzusuchen. Doch dort war nichts, abgesehen von den unzähligen Sternen, die wie winzige Diamanten am Nachthimmel funkelten. Zur allgemeinen Überraschung erreichten sie mit dem ersten zarten Rosa am Horizont, das den nahenden Tag ankündigte, eine winzige Oase, die eingerahmt von ein paar Felsformationen einen schon fast unwirklichen Anblick in dieser ansonsten kahlen Umgebung bot. Gelb blühende Disteln und Akazienbüsche wuchsen neben einem Dutzend simpel aus Holz und Stein errichteten Hütten. Ein paar kleine Haine aus hoch aufragenden Dattel- und Fächerpalmen versprachen Schutz vor der kommenden Hitze des Tages. Dazwischen wuchsen gelegentlich kleinere Bäume, die Michael nicht einordnen konnte. Bei nüchterner Betrachtung hätte das Ganze eher trostlos gewirkt, doch nach dem tagelangen Marsch durch die Eintönigkeit der Wüste, kam Michael sich vor, als habe er das Paradies betreten. Ein kurzer Gang durch das Dorf belegte, daß es verlassen war. Ein Geisterdorf.

"Es wird nicht dauerhaft bewohnt, sondern dient nur den Nomaden auf ihrer Reise durch die Wüste als vorübergehende Unterkunft", erklärte Taren, die das Unbehagen der Gefährten spürte. Nach kurzer Diskussion entschieden sie sich, den Tag im Schatten eines Palmenhains am Rande des Dorfes zu verbringen und banden das Pferd an eine der schattenspendenden Fächerpalmen an. Erst dann machten sie sich an die Untersuchung des in Stein gefaßten, uralt wirkenden Brunnens in der Dorfmitte. Zur allgemeinen Freude erwies sich der überraschend tiefe Brunnen sogar noch als voll funktionsfähig und bot den Gefährten die Möglichkeit, ihre stark zur Neige gegangenen Wasservorräte wieder aufzufüllen. Inzwischen hatte die Sonne ihre Reise über den Horizont angetreten und ließ die Temperaturen rasch ansteigen, so daß sich die Gefährten beeilten, in den Schatten der Palmen zu gelangen. Auch hier war es immer noch heiß, aber zumindest erträglich. Aus einer der nahe gelegenen Hütten hatten sie ein paar hölzerne Pritschen herbei getragen, auf denen die Gefährten sich nun von den Strapazen der nächtlichen Wanderung erholten. Das laute Schnarchen Grimmbarts und das gelegentliche Grollen des Trolls wehten zu Michael hinüber und gemahnten ihn an seine eigene Müdigkeit. Schläfrig drehte er sich auf die Seite und kam sich beim Anblick der Palmen um ihn herum ein wenig so vor, als befände er sich im Urlaub. Er fragte sich, wie die Gegend wohl mit einem Schwimmingpool einer Bar und jeder Menge leicht bekleideter Urlaubsgäste aussehen würde, was ihn wiederum daran erinnerte, wie sein Freund Tomas seinen Urlaub verbrachte. Dann übermannte auch ihn die Müdigkeit und er fiel in einen tiefen Schlaf.

 

Bei Einbruch der Nacht machten sich die Gefährten frisch gestärkt an die letzte Etappe ihrer Wüstendurchquerung. Ein Hauch von Bedauern legte sich auf Michaels Gemüt, als sie den Schutz der kleinen Oase gegen die Kargheit der Wüstenlandschaft eintauschten und ihre Wanderung wieder aufnahmen.

 

Die nächsten zwei Tage verliefen ohne besondere Ereignisse, sah man einmal davon ab, daß sich die Landschaft allmählich zu verändern begann. Der allgegenwärtige Sand wurde nun nach und nach durch eine steinige Landschaft ersetzt, in der vereinzeltes Buschwerk und gelegentlich versteinert wirkende Bäume das nahe Ende der Wüste verkündeten. Als das Licht der aufgehenden Sonne die Gefährten an diesem Morgen begrüßte, lag die Wüste endgültig hinter ihnen. Sie hatten es tatsächlich geschafft. Anerkennend klopften die Gefährten Taren auf die Schulter, und selbst der knurrige Grimmbart fand ein paar Worte des Dankes, worauf Taren verlegen errötete.

Entgegen der Gewohnheit der letzten Tage, schlugen die Gefährten bei Tagesanbruch kein Lager auf, sondern fuhren weiter, bis sie auf die ersten Anzeichen einer nahen Siedlung stießen. Karge, bewirtschaftete Felder und ein paar Olivenbäume säumten nun ihren Weg, und irgendwo in der Ferne glaubte Michael sogar den Ruf eines Ziegenhirten zu vernehmen. Gegen Mittag stießen sie schließlich auf ein einsames Gehöft, in dem sie freundlich aufgenommen wurden. Wie sich herausstellte, gehörte es dem Ziegenhirten, den sie am frühen Morgen gehört hatten. Dieser staunte nicht schlecht über die ungewöhnliche Gruppe, die es gewagt hatte, die Wüste der tausend Winde zu durchqueren. Als Glyfara den Hirten zwischen zwei Bissen saftigen Ziegenfleischs, das er ihnen angesichts des Goldes, das Grimmbart zutage gefördert hatte, gerne serviert hatte, auf das Beben der Erde ansprach, nickte dieser zustimmend.

"Seht her. Der Mörtel zwischen den Steinen ist überall gebrochen, und auf dem Dach fehlen etliche Schindeln", verkündete er mit ernstem Gesicht. "So etwas ist hier noch nie passiert", ergänzte er. Glyfara nickte, als würde die Aussage etwas bestätigen, was sie ohnehin vermutet hatte.

"Ist dir vorher sonst irgend etwas aufgefallen, etwas Ungewöhnliches, vielleicht andere Reisende, die hier durchgekommen sind? Oder unerklärliche Spuren?", fragte Grimmbart.

Der Hirte schüttelte den Kopf. "Nur Brigo, mein Hund, hat kurz vorher klagend angeschlagen. Das war alles. Habe ich irgend etwas zu befürchten?"

"Schwer zu sagen. Aber ich denke, es kann nicht schaden, euer Heim des Nachts gut zu verschließen. Es treibt sich eine Menge Gesindel dieser Tage in der Welt herum", riet Streitaxt mit unergründlichem Gesichtsausdruck.

"Ich werde es mir merken", antwortete der Hirte, der sich plötzlich gar nicht mehr wohl in seiner Haut fühlte. Auch wenn sie ihn gut bezahlt hatten, war er doch dankbar, als sich die seltsame Gruppe am Nachmittag wieder auf den Weg machte.

 

Der Rest des Tages und die zwei folgenden verliefen ohne nennenswerte Ereignisse. Nach und nach hatte sich ihre Umgebung nun in eine sanft gewellte, grüne Hügellandschaft verwandelt hatte, die weit in der Ferne in eine bergige, bewaldete Landschaft überging, deren friedlicher Anblick Michael an das Weserbergland erinnerte.

"Nett", brummte der Wühler, der gut gelaunt neben dem Wagen herlief, der sich angesichts des unebenen Untergrunds des Wegs, dem sie kontinuierlich nach Norden folgten und den leichten Steigungen, die es immer wieder zu bewältigen galt, nur langsam aber stetig vorwärts bewegte.

"Ja, wir nähern uns unserem Ziel. Dies ist die Kornkammer des Nordens", erläuterte Glyfara nicht ohne hörbaren Stolz in der Stimme. In der Tat waren in die Hügellandschaft eine Unzahl von goldgelben Weizenfeldern eingebettet, die sich sanft im warmen Sommerwind unter dem tiefblauen Himmel bewegten, auf dem träge ein paar Schäfchenwolken entlang zogen. Die Gegend war einfach zauberhaft, und zum ersten Mal machten sogar die Zwerge einen entspannten Eindruck. Grüneich ließ es sich sogar nicht nehmen, Glyfara zu fragen, ob ihr Vater auch in dieser Gegend über Ländereien verfügte. Der Troll konnte sich gut vorstellen, hier seßhaft zu werden und war enttäuscht zu hören, daß dies nicht der Fall war. Gelegentlich stießen sie auf ein paar Bauern, die alle einen äußerst beschäftigten Eindruck machten und die seltsame Gruppe, die da durch ihr Land zog, kaum eines Blickes würdigten. Angesichts des unkomplizierten Vorwärtskommens saß jeder der Gefährten einmal auf dem Bock des Wagens, so daß Taren ausgiebig Gelegenheit bekam, sich mit ihren Reisegefährten im Gespräch anzufreunden. Mit Verwunderung registrierte Michael dabei, daß sie sich offensichtlich am liebsten mit Grimmbart unterhielt, der nicht müde wurde, sie mit Geschichten aus seinem abenteuerlichen Leben zu unterhalten. Abends unterwies Taren ihn dafür in der Kunst des Messerwerfens, wobei sich der Zwerg leidlich geschickt anstellte und dabei mehr als nur einmal beinahe den Wühler getroffen hätte, der davon überzeugt war, daß der Zwerg das mit Absicht machte. Grimmbart wiederum versuchte Taren die Kunst des Streitaxtkämpfens nahe zu bringen, was sich angesichts der Schwere der Waffe jedoch als unmöglich erwies. Taren konnte die schwere Waffe kaum heben, was Grimmbart wiederum bewundernde Blicke einbrachte, wenn er demonstrierte, mit welcher Leichtigkeit er die mörderische Waffe zu handhaben verstand. Auf diese Weise verging die Zeit unbeschwert nahezu wie im Flug, bis am Mittag des dritten Tages Glyfaras Stimme, die gerade mit Michael gemeinsam auf dem Bock saß und den Wagen lenkte, die Gefährten alarmiert aus ihrer relaxten Stimmung riß.

"Raus aus dem Wagen, und seht euch das an, hier stinkt etwas ganz gewaltig", warnte die Elbin, die den Wagen mit einem Ruck zum Halten brachte.

"Was bei Mulgos Streithammer ist hier passiert?", fragte Grimmbart verblüfft, als er einen Augenblick später gewahr nahm, was die Elbin zum Halten veranlaßt hatte.

"Ich denke, daß wir hier die Ursache für das Erdbeben vor uns haben", antwortete Michael, der mit einem unguten Gefühl im Magen die aufgerissene Landschaft vor ihnen betrachtete. Es sah aus, als hätte ein Riese das Land gewaltsam auseinandergerissen und dann wieder notdürftig zusammengeschoben. Ein Riß, der sich links und rechts bis zum Horizont zu erstreckte, zog sich im Zickzackkurs durch die Landschaft. An einigen Stellen hatten sich Meter hohe Verwerfungen gebildet, an anderen klafften tiefe Spalten auf, aus denen grüne Dampfsäulen steil aufstiegen, bis sie vom leichten Sommerwind zerfasert wurden. Der Anblick war apokalyptisch, zumal er im krassen Gegensatz zu der sonst so friedlichen Landschaft stand. Unwillkürlich drängte sich Michael die Assoziation einer höherer Macht auf, die dieser friedlichen Landschaft den Todesstoß versetzt hatte. Wie nahe er damit der Wahrheit kam, wurde ihm erst bewußt, als Streitaxt, der bisher beeindruckt von dem Anblick geschwiegen hatte und die Seite jenseits des Spaltes untersucht hatte, sich düster zu Wort meldete.

"Hier sind eine Menge Spuren", verkündete er, während er sich bückte und mit der Hand prüfend über den Erdboden glitt. "Schwer zu schätzen, aber es könnten gut und gerne tausend Mann und mehr gewesen sein. Die Spur führt von hier aus in Richtung Norden."

"Seltsam ist nur, daß es so aussieht, als würde sie hier plötzlich aus dem Nichts beginnen. Das gefällt mit ganz und gar nicht", knurrte Grimmbart an Glyfara gewandt, die mit einem eleganten Sprung den Riß überwand und zu Streitaxt hinüberging, wo sie nun ihrerseits die Spuren untersuchte.

"Das sind keine Menschenspuren", verkündete sie nach einem Augenblick bitter. "Ich hatte leider Recht. Es sieht ganz danach aus, als sei es dem Wandler gelungen, erneut die Grenze zwischen den Welten aufzureißen, um seinen Kreaturen Zugang zu verschaffen. Die Macht, die bisher die Mauer zwischen unseren Welten aufrecht erhalten hat, verliert immer mehr an Kraft. Sonst wäre das nicht möglich gewesen."

"Magie", stimmte der Wühler zu, nachdem er seine Nase ausgiebig in die Spuren gesteckt hatte. "Böse", fügte er hinzu.

"Dann ist also alles wahr, was ihr mir erzählt habt", hauchte Taren, der plötzlich übel geworden war. Daß die Reise nicht ungefährlich werden würde, war ihr ja klar gewesen, daß sie aber geradewegs in einen apokalyptischen Krieg führen könnte, war jedoch ein anderes Kaliber. Nur zu gut erinnerte sie sich noch daran, was auf dem Paß passiert war. Glyfara nickte mit grimmigen Gesicht, was Taren nicht gerade beruhigte, dann wandte sich die Elbin an den Troll.

"Wie schätzt du die Lage ein?"

"Solange wir uns hinter ihnen halten, droht uns keine unmittelbare Gefahr. Sie werden kaum davon ausgehen, daß die Bauern dieser Gegend ihnen nachfolgen und sie angreifen werden", spekulierte Grüneich, der beim Anblick der Spuren routinemäßig erst einmal seine Tötzwanzig überprüft hatte. Zu seiner Beruhigung funktionierte sie einwandfrei und würde ihm in Kürze vermutlich gute Dienste erweisen. Doch die Worte Grüneichs vermochten Glyfara nicht zu beruhigen. Im Gegenteil.

"Das nützt uns nur nichts. Wir müssen vor ihnen bei der Bruderschaft sein, anderenfalls war alles umsonst, und ich sehe keine Möglichkeit, wie wir das noch schaffen sollen. Diesmal haben wir endgültig verloren", erwiderte sie resigniert, worauf ihr Michael, der inzwischen ebenfalls auf die andere Seite gewechselt hatte, tröstend die Hand auf die Schulter legte.

"Unsinn, verloren ist ein Kampf erst, wenn er wirklich vorbei ist", erwiderte er mit Zuversicht in der Stimme. "Wir müssen eben schneller sein als sie und sie überholen."

"Er hat Recht", stimmte Streitaxt zu. "Noch haben wir eine Chance."

"Aber versteht ihr das denn nicht? Die haben einen riesigen Vorsprung", wandte Glyfara pessimistisch ein. "Das Beben ist schließlich schon ein paar Tage her."

"Was nicht bedeuten muß, daß sie gleich aufgebrochen sind. Ein Heer, egal wie groß es ist, muß organisiert werden, bevor es sich in Bewegung setzt. Insbesondere, wenn es aus solchen Kreaturen besteht, wie die, die wir bereits kennengelernt haben. Es ist daher gut möglich, daß der Vorsprung gar nicht so groß ist. Außerdem haben sie, den Spuren nach zu urteilen, schweres Gerät dabei, und damit kommt man nicht schnell voran", wandte Grimmbart ein, aus dem der kriegserfahrene Söldner sprach. Das gab Glyfara wieder Mut.

"Dann laßt uns keine Zeit verlieren und den Wagen auf die andere Seite bringen", sagte sie.

 Wird fortgesetzt........

 

Vorheriger TitelNächster Titel
 

Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Klaus-Peter Behrens).
Der Beitrag wurde von Klaus-Peter Behrens auf e-Stories.de eingesendet.
Die Betreiber von e-Stories.de übernehmen keine Haftung für den Beitrag oder vom Autoren verlinkte Inhalte.
Veröffentlicht auf e-Stories.de am 31.08.2013. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

Der Autor:

  Klaus-Peter Behrens als Lieblingsautor markieren

Bücher unserer Autoren:

cover

Gedichte der Liebe. Sag mir ein Zauberwort von Barbara Priolo



Von Liebe und Verletzlichkeit sprechen die Gedichte Barbara Priolos in immer neuen,überraschenden Variationen. Sie benennen die Süße erwachender Zuneigung, die Inbrunst fraulichen Verlangens nach Zärtlichkeit, und sie wissen zugleich von herber Enttäuschung, von Trennung und Leid des Abgewiesenwerdens. Deswegen aufhören zu lieben wäre wie aufhören zu leben. ** Das Schönste ist,was man liebt **, bekennt die griechische Lyrikerin Sappho auf Lesbos. Diese Einsicht-aus beselingender und schmerzlicher Erfahrung wachsend-ist Ausgangspunkt der sapphischen Dichtungen.

Möchtest Du Dein eigenes Buch hier vorstellen?
Weitere Infos!

Leserkommentare (1)

Alle Kommentare anzeigen

Deine Meinung:

Deine Meinung ist uns und den Autoren wichtig!
Diese sollte jedoch sachlich sein und nicht die Autoren persönlich beleidigen. Wir behalten uns das Recht vor diese Einträge zu löschen!

Dein Kommentar erscheint öffentlich auf der Homepage - Für private Kommentare sende eine Mail an den Autoren!

Navigation

Vorheriger Titel Nächster Titel

Beschwerde an die Redaktion

Autor: Änderungen kannst Du im Mitgliedsbereich vornehmen!

Mehr aus der Kategorie "Fantasy" (Kurzgeschichten)

Weitere Beiträge von Klaus-Peter Behrens

Hat Dir dieser Beitrag gefallen?
Dann schau Dir doch mal diese Vorschläge an:

Der Kater und sein Magier 1 von Klaus-Peter Behrens (Fantasy)
Casandra von Silke Schück (Fantasy)
Für eine gute Freundin von David Polster (Freundschaft)

Diesen Beitrag empfehlen:

Mit eigenem Mail-Programm empfehlen