Marc Schmidt

Eher unvorsichtig

Lustig, gerade jetzt fällt mir unsere erste Begegnung ein. Als wir einander vorgestellt wurden, verweigertest du mir eiskalt den Handschlag. Wegen der Ansteckungsgefahr, sagtest du. Ich war dir nicht böse, also nicht direkt, da ich ziemlich gut über Sachen hinwegsehen kann. Deswegen hat unsere Freundschaft wohl so lange überlebt. Recht schnell lernte ich deine kleinen Eigenarten kennen und lieben.
 
Dein übertriebenes Hygienebewusstsein und deine ständige Hypochondrie wären da zu nennen. Deine Lieblingslektüre waren Fachzeitschriften für Ärzte und Bücher über selten vorkommende Tropenkrankheiten, von denen du jede Woche an einer anderen erkrankt warst. Ach, Gefahren lauerten prinzipiell überall. Am sichersten fühltest du dich zu Hause. Aber selbst da musstest du ständig kontrollieren, ob der Herd auch wirklich aus war, ob irgendwo Gas ausströmte, ob die Leitungen alle dicht waren, ob der Kühlschrank nicht gleich explodieren würde und ob andere Dinge, die du als Bedrohung ansaßt, tatsächlich in funktioneller Ordnung waren. Du gingst am Tag öfter an den Sicherungskasten als auf die Toilette.
 
Auswärts zu essen wäre für dich einem Selbstmordversuch gleichgekommen. Selbst zu kochen war dir zu gefährlich. Deine kalte, sterile Küche war für mich stets ein deprimierender Anblick. Meistens hat man dich mit einer Scheibe trockenem Knäckebrot gesehen, Zwieback ging auch noch. Andere Lebensmittel landeten bei dir recht schnell im Müll. In Sachen Mindesthaltbarkeitsdatum trautest du keinen Verpackungshinweisen. Lieber auf Nummer sicher gehen. Könnten sich ja bereits Keime gebildet haben. Mikroben und Bakterien zählten auch zu deinen natürlichen Feinden.
 
Manche Dinge hast du nie benutzt, aus Angst davor, sie könnten kaputt gehen. Bisschen arg vorsichtig, findest du nicht, jetzt im Nachhinein? Ich meine, ich wäre der letzte, der sich darüber beschweren würde, schließlich hast du mir aus diesem Grund viele Sachen geschenkt, die du einfach nicht mehr sehen konntest. Deine gesamten Elektronikgeräte (Stromfresser! Explosionsgefahr! Elektrosmog!)  gingen nach und nach in meinem Besitz über, auch Küchengeräte – irgendwie fällt mir gerade auf hast du Geräten nicht getraut, was? Sei’s drum.
 
Tja, wir sind alle älter geworden, haben geheiratet und Familien gegründet. Du hattest keine Lust auf die Ehe, bist eher noch vorsichtiger geworden. Auf Beziehungen mit Frauen hast du dich sowieso nie eingelassen, aus Angst vor Enttäuschungen. Immer auf der sicheren Seite, so wie man das von dir kennt. Drogen? Gott bewahre! Alkohol hast du auch nie getrunken. Wolltest stets die  Kontrolle wahren. Sehr löblich. Auch wenn ich mich erinnere, wie du auf Feiern immer griesgrämig mit deinem Wasserglas dasaßt; das Wasser natürlich vorher abgekocht, wegen den Bakterien. Nur mit viel Mühe konnte ich dich überhaupt auf solche sozialen Events mitschleppen. Spaß hattest du aber nie. Mensch, wärst du doch nicht so übervorsichtig gewesen und hättest dich mal gehen lassen!
 
Ja, du warst wirklich ein bisschen übervorsichtig. Umso unerklärlicher, dass du vor einer Woche eher unvorsichtig warst. Beim Überqueren der Straße schaust du doch normalerweise Links-Rechts-Links, dann nochmal Rechts-Links und ein letztes Mal - und zur absoluten Sicherheit - Rechts! Aber an diesem Tag? An diesem Tag, da gingst du einfach drüber. Warum auch immer. Wir werden es wohl nie erfahren. Vielleicht warst du in Eile. Leider war es der Autofahrer auch. Unschön.
Ich glaube, ich spreche im Namen aller hier Anwesenden auf dieser kleinen Trauerfeier, wenn ich sage: Wir werden deine kleinen Eigenarten vermissen. Du warst ein aufrichtiger Kerl! Ein paar kleine Macken, durchaus, aber geschenkt! Ruhe in Frieden, mein Freund.
 

Vorheriger TitelNächster Titel
 

Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Marc Schmidt).
Der Beitrag wurde von Marc Schmidt auf e-Stories.de eingesendet.
Die Betreiber von e-Stories.de übernehmen keine Haftung für den Beitrag oder vom Autoren verlinkte Inhalte.
Veröffentlicht auf e-Stories.de am 01.09.2013. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

Der Autor:

  Marc Schmidt als Lieblingsautor markieren

Bücher unserer Autoren:

cover

Strophen und Marotten von Götz Grohmann



Dieser eigenwillige, humorvolle und originelle kleine Gedichtband stellt einen Querschnitt der Arbeiten von Götz Gohmann dar mit Gedichten für Kinder und Erwachsene zum lesen und zum singen. Die Lustigen Katzen, die auf der Ausstellung das Erscheinen der Besucher als Modenschau kommentieren, das Mäuschen vor dem leeren Schrank das singt: „Piep, piep der Speck ist weg“ oder die Nachtigall, die spielt Krähe spielt und von ihren schlimmen Beobachtungen aus der nächtlichen Großstadt erzählt, sie alle haben Ihre Marotten, die vielleicht auch manchem Leser nicht ganz unbekannt sind.

Möchtest Du Dein eigenes Buch hier vorstellen?
Weitere Infos!

Leserkommentare (1)

Alle Kommentare anzeigen

Deine Meinung:

Deine Meinung ist uns und den Autoren wichtig!
Diese sollte jedoch sachlich sein und nicht die Autoren persönlich beleidigen. Wir behalten uns das Recht vor diese Einträge zu löschen!

Dein Kommentar erscheint öffentlich auf der Homepage - Für private Kommentare sende eine Mail an den Autoren!

Navigation

Vorheriger Titel Nächster Titel

Beschwerde an die Redaktion

Autor: Änderungen kannst Du im Mitgliedsbereich vornehmen!

Mehr aus der Kategorie "Wie das Leben so spielt" (Kurzgeschichten)

Weitere Beiträge von Marc Schmidt

Hat Dir dieser Beitrag gefallen?
Dann schau Dir doch mal diese Vorschläge an:

Eier wie Rosinen von Marc Schmidt (Sonstige)
FLORIBUNDA - ... genau so von Monika Hoesch (Wie das Leben so spielt)
Die Erlösung von Michael Reißig (Trauriges / Verzweiflung)

Diesen Beitrag empfehlen:

Mit eigenem Mail-Programm empfehlen