Daniela Hoppaus

Die wilde Jagd

Thema Geschöpfe der Nacht

Märchen können wahr werden, Sagen werden lebendig. Die Nacht offenbart manchmal ihre Geheimnisse. Ich glaubte es nicht, damals. Ich war noch jung, keine 18, als eines Tages Ende Oktober dieser Mann in meiner Heimatstadt auftauchte. Er war ein Bettler, der durch die Städte zog und unter Brücken schlief. Sein grauer Mantel mochte einmal einen feinen Schnitt gehabt haben ,aber jetzt war er zerschlissen und dreckig. Der Staub der Landstraßen klebte auf ihm ebenso wie auf seinem grauen Haar, welches ihm lang und verfilzt auf die Schultern fiel. Einen Schlapphut hatte er tief ins Gesicht gezogen, er ging mit hängendem Kopf, vermied es, irgend jemand anzusehen. Er trug seine gesamte Habe in einem kleinen Rucksack bei sich, den er nachlässig über die Schulter geworfen hatte.
Er blieb in unserem Stadtpark, fütterte die Vögel und Eichhörnchen, die eifrig ihren Wintervorrat anlegten. Dort sah ich ihn jeden Tag, wenn ich von der Schule kam. Es war der 31. Oktober, und die Blätter fielen von den Bäumen, immer wieder aufgewirbelt vom kühlen Herbstwind, als ich wie üblich durch den Park von der Schule nach Hause ging, dick in einen Mantel vermummt und die Nase im Schal verborgen. Es war sehr kalt. Die Luft roch nach Schnee. Es war noch nicht richtig dunkel, obwohl die Nacht schon ihre Finger in Form von dunklen Schatten nach dem verlassenen Park ausstreckte und Dämmerung sich herab senkte.
Auf einer Parkbank saß wie üblich der Bettler. Er hatte seinen Rucksack neben sich stehen. Mit seinen dunklen, vom Leid überschatteten Augen blinzelte er mir zu, als ich an ihm vorbeiging. Trotz seines grauen Haares wirkte er jung. In seinem Blick lag ein Funkeln, das ich nicht deuten konnte.
Ich hielt mitten im Schritt inne. Aus einem Impuls heraus drehte ich mich um und musterte ihn eingehender.
Er hatte seinen Mantel zugeknöpft und einen grünen Wollschal um seinen Hals gewickelt. Seine Hände steckten in Lederhandschuhen, die auch schon bessere Tage gesehen haben mußten., denn die Finger schauten aus kaputten Nähten hervor.
Er erwiderte meinen Blick und sprach mich an: „Sag, Mädchen, hast du keine Angst vor der Dunkelheit?" Ich schüttelte den Kopf. „Warum denn nicht? Weißt du denn nicht, was passiert, nachts, wenn die guten Geister sich zur Ruhe begeben? Gerade um diese Jahreszeit, wo die wilde Jagd sich anschickt, neue Opfer zu finden?"
Ich entrang mir ein Lächeln und wollte seine Worte schon als Geschwafel abtun, als er mich plötzlich bei der Hand packte und zu sich zog. Der Schrei, den ich ausstoßen wollte, blieb mir in der Kehle stecken, als ich seine Augen sah.
Keine Pupille zeichnetet sich darin ab, nur Schwärze. Augen, die einem die Seele rauben konnte, in denen man sich verlor. Mir wurde schwindlig.
Er zog mich auf die kalte Bank, meinen Blick festhalten, hypnotisch. Mit eindringlicher Stimme redete er auf mich ein:
„Ich war noch jung, keine 18, als mich die Nacht in ihren Bann zog. Sieh mich an, heute ist mein Haar grau und mein Mut ist gebrochen. Einmal forderte ich die Herren der Nacht heraus, einmal wagte ich mich in ihre Nähe. Einmal reicht, um der Verlockung zu erliegen. Doch die Nacht hat ihren Preis, sie verlangt viel für die Offenbarung ihrer Geheimnisse."
Wider Willen spitzte ich die Ohren. Wovon redete er bloß?
Sein Blick umwölkte sich, als schaue er in eine ferne Zeit. „Meine Eltern waren nicht reich, aber sie lebten in Wohlstand auf einem Hof. Ich sorgte mich nicht ums Morgen und nur deshalb ging ich eines Nachts raus. Ein Spiel, nichts weiter. Eine Mutprobe für mich und ein besonderes Geschenk für meine große Liebe. Die wilde Jagd zu sehen, die Jäger der Dunkelheit, die Geister, die in unsere Welt eindringen, um über Berge und Täler hinweg zu brausen in wilden Galopp, mit schäumenden Pferden.
Und ein Kleinod vom Zaumzeug des dunklen Grafen."
„So ein Unsinn!", sagte ich und rückte wieder ab von ihm. Er hielt mich fest. „Nein, kein Unsinn! Hör mir zu! Es ist 500 Jahre her und ich kann nicht zurück. Meine Liebe ist verloren, dort bei jenen aus alten Tagen. Als ich das Kleinod stahl, entfernte ich mich aus der Welt. Ich bin ein Wanderer durch die Zeit, auf der Flucht, auf der Suche nach ihr, meiner Liebe und meiner Heimat. Staub ist sie, doch ich bin gestrandet in einer Zeit, zu der ich nicht gehöre. Ich kann nicht sterben! Ich warte Jahr um Jahr, immer auf die Nacht der wilden Jagd und biete ein Opfer, um sie wieder zu sehen, um mit ihr vereint zu sein. Nichts, niemals nehmen sie an! Sie ist verloren, so wie ich."
Fünfhundert Jahre? Ich starrte ihn an. Er mußte betrunken sein. Dennoch blieb ich, wo ich war. „Was für ein Opfer? Was wollen Sie?"
„Ich weiß es nicht, ich weiß nicht, weiß nicht...." Er vergrub das Gesicht in seinen Händen. Seine Schultern zuckten, als ob er weinte.
Verlegen schaute ich mich um. Was sollte ich tun? Irgendwie fürchtete ich den Mann, andererseits zerriß mir das Mitleid fast das Herz. Plötzlich gewahrte ich aus den Augenwinkeln eine Bewegung. Ich drehte den Kopf, aber da war nichts. Was immer es gewesen war, es war verschwunden. Der Mann sprach weiter, wie zu sich selbst:" Ich muß es finden, das Opfer, das Mittel, das alles ungeschehen macht, das mir meine Liebe wieder bringt und die wilde Jagd besänftigt. Hilfst Du mir dabei?" Ich schrak zusammen. Ich hatte die Umgebung abgesucht, um den Schatten wieder zu entdecken, der meinen Augen Streiche spielte. Wind kam auf. Die Sonne war vollends untergegangen, es war dunkel. Kein Stern am Himmel und die Lampen im Park erleuchteten nur kleine Inseln in der Wirklichkeit. Dort, wo ihr Licht nicht hinreichte, bewegte sich etwas. Ich spürte es mehr, als ich es sah. Da draußen war etwas. Ich bekam eine Gänsehaut. Ich wollte aufspringen, meine Tasche packen und fliehen, aber der Mann hielt mich unerbittlich am Arm fest. „Hilfst DU mir?" Seine Stimme hatte einen seltsamen Unterton angenommen, den ich nicht einordnen konnte. „Lassen Sie mich los!" flehte ich. Ich wand mich in seinem Griff. „Bitte, lassen Sie mich gehen! Ich muß nach Hause, meine Eltern machen sich sicher Sorgen um mich..."
Aber er lachte. Er lachte immer lauter und hielt mich so fest, das mein Arm schmerzte. „Der Dunkle Graf kommt." , murmelte er. Die Bewegung in den Schatten wurde konkreter. Eine Gestalt bildete sich aus der Dunkelheit. Ein großes, schwarzes Pferd mit einem Reiter, der einen Hut mit einer roten Feder trug und einen langen, grünen Umhang um seine Schultern gelegt hatte. Seine Kleidung wirkte altertümlich, wie in Filmen aus dem Mittelalter. Dahinter mehrere Gestalten, ebenfalls hoch zu Roß, dunkel und undeutlich.
Leise hörte ich verhaltenes Gemurmel, Hufe scharren und Pferde schnauben.
„Bitte, ich muß nach Hause..." flüsterte ich. Vor Angst war ich wie gelähmt. Ich dachte mir, das kann nicht sein. Ich träume. Was hatte dieser Mann mit mir gemacht?
Warum kam kein Mensch in den Park und half mir? Solche Gedanken schossen mir durch den Kopf, als der Mann sich erhob und mich auf das große Pferd zu zerrte. Der Reiter blickte interessiert auf mich herunter. „Nimm sie!", schrie der Bettler dem Reiter entgegen. „Nimm sie und laß mich zu meiner Liebe gehen! Gib mir meine Welt zurück! Gib sie mir zurück!" Seine Stimme überschlug sich, als er den Reiter anbrüllte. Dieser blieb im Schatten, ich konnte nur ein rotes Glühen sehen, wo sich seine Augen befinden sollten. Der Atem des Pferdes sah aus wie Rauch in der kalten Luft. So, als glühe in seinem Inneren das Feuer der Hölle. Es scharrte ungeduldig mit den Hufen.
Als der Reiter seine Stimme erhob, erschien sie mir wie Musik, aber lauter als Donner. Der Wind erstarb und Blätter fielen zu Boden. Lautlos, wie unwirklich. Alles um mich herum schien in Watte gepackt zu sein, nur der Reiter und sein Pferd waren klar und real.
„Dein Verbrechen ist noch nicht gesühnt. Kein Opfer kann deine Schuld begleichen. Gib DU mir zurück, was DU mir genommen und ich schenke dir .... Tod!" Der Landstreicher wurde blaß. Er schluckte. „Das ist es also. Warum hast du mich gequält, Graf, wenn es doch so einfach ist?"
„Strafe muß sein!" kam die Antwort, triefend vor Sarkasmus.
„Es MUSS ein Ende haben.", seufzte der Mann, „ich ertrage es nicht mehr..."
Der Reiter nickte.
Der Bettler ließ mich los, ging zurück zur Bank und öffnete seinen Rucksack.
Er suchte darin nach etwas, fand es und barg es in seiner Hand. Ich konnte nicht erkennen, was es war. Seufzend ging er auf den Reiter zu, der sich herunter beugte und die Hand ausstreckte. Gebannt wartete ich. Als der Bettler seine Hand öffnete, sah ich nur ein Leuchten. Schnell nahm der Reiter das Ding an sich und verstaute es in seiner Satteltasche. Dann wendete er sein Pferd wortlos und wurde samt seinem Gefolge eins mit der Dunkelheit.
„Warte!", schrie der Mann ihm hinterher. Er machte ein paar Schritte in die Nacht.
„Warte!"
Der Wind erhob sich wieder und fuhr mit voller Wucht in den Mantel des Bettlers.
Dieser schrie auf und sank auf die Knie.
Ich drehte mich um und lief. Ich warf keinen Blick zurück. Was immer da geschehen war, konnte mir gleich sein. Ich rannte. Ich lebte. Nach Hause. In Sicherheit.
Als ich am nächsten Morgen auf den Weg zur Schule war, mußte ich wieder durch den Park. Nur zögernd ging ich diesen Weg. Ich war müde, hatte nicht viel geschlafen. Noch immer kreisten meine Gedanken um das, was am Abend zuvor geschehen war. Als ich mich der Stelle näherte, wo der Bettler immer gesessen hatte, sah ich einen Krankenwagen.
Zwei Männer hoben eben eine Bahre hinein, auf der ein zugedeckter Körper lag. Mit klopfenden Herzen ging ich auf den Wagen zu. „Was ist passiert?", fragte ich. Einer der Sanitäter sah mich an. „Der Bettler, der sich seit ein paar Tagen hier in diesem Park herumgetrieben hat, ist heute nacht erfroren. Kein Wunder, bei den Temperaturen." Ich schaute ihn groß an.
„Kanntest du ihn etwa?
Ich schüttelte den Kopf. „Ich kannte ihn nicht. Er ist mir nur aufgefallen." Bevor er mir noch irgendwelche Fragen stellen konnte, drehte ich mich um und setzte meinen Weg fort.
Die Geschichte behielt ich für mich. Niemand würde mir glauben, was sich an dem Abend zugetragen hat und das der Bettler nach 500 Jahren endlich von seinem Schicksal erlöst worden war.
Noch heute, wenn der Herbst ins Land zieht und die wilde Jagd über das Land fegt, schaudert es mich. Manchmal meine ich, in solchen Nächten Pferde schnauben zu hören. Aber ich bin sicher, es ist nur der Wind. Ich habe ein Geheimnis der Nacht erfahren und ich hoffe, daß der dunkle Graf und sein Gefolge sich nie an mich erinnern.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 22.10.2001. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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