Andreas Roller

Es steht geschrieben, dass Jesus...

Es steht geschrieben, dass Jesus, kurz bevor er am Kreuz hätte sterben sollen, zu Kräften gekommen ist.
Ein Jesus wie wir ihn heute sehen, weinend vielleicht? Zu sich und seinem Vater murmelnd, mit den Sünden der Welt auf den Schultern. Ein verkommener Jesus, gleichgeschaltet mit dem Abschaum, und wie Abschaum, so muss er sich gefühlt haben.

Was viel interessanter ist:
Unser Jesus, der geblutet hat und dessen Wunden nicht schließen, überlebt den Abend. Und er soll die Nacht sehen. Und in der Nacht, als alle verschwunden sind, da fragt sich Jesus, ´warum bloß? Warum nur ich?´. Und er richtet sich an Gott und fragt diesen nüchtern ´Tja, warum?´. Und da kommt plötzlich eine Wut über Jesus, die lang anhalten soll.
Er reißt den Arm vom spröden Holz und atmet Luft und atmet Gold.

Und als er läuft, mischt sich die Wut mit frischen Tränen, Tränen die ins Blut laufen, und Heilige mögen sagen, dass sei das Gemisch, das alles bedeutet, auch den Tod und auch das Leben. Jesus, im Innern ohnmächtig, eine traurige Gestalt vielleicht (aber schön), als er zu Kräften kommt dämmert es ihm: Die Konsequenz. Und wie reagiert er, mit dem kalten Sand unter den baren Füßen? Er pfeift drauf.

´Die Menschen´, sagt sich Jesus, ´die Menschen wissen schon bescheid. Sie wissen jetzt, was Gut ist und was Recht und was Schlecht. Ein Leben habe ich verbracht, es ihnen zu zeigen. Viel zu kurz war es mir. Sie wissen schon bescheid. Da kommt es auf einen Toten nicht mehr an.´

Oh, vergisst unser Jesus da das allheilige Nachleben? Ist es ihm entfallen? Oder glaubt er nicht daran? Und wenn doch, wie sollte er zu seinen Gunsten argumentieren? Glaubt er vielleicht viel eher, er kann den Menschen noch etwas Größeres schenken, mit seiner Freiheit? Ein arroganter Jesus also.
Es ist also arrogant, auch für den gläubigsten seiner Anhänger, Jesus auf seine Barmherzigkeit zu reduzieren. Zu behaupten, in Jesus habe nicht der tiefe Wunsch geschlummert, aufzugeben oder auch, es ihnen heimzuzahlen, den Menschlichen.

Weil die Jahre in der Geschichte immer im Flug vorbei ziehen, ist Jesus gealtert.
Der Alte sitzt mit seiner ihm treuen Frau unterm Akazienbaum, fernab von seiner Vergangenheit. Von ihm wird nicht mehr geschrieben, er ist ja nur der Alte. Doch das kümmert ihn nicht. Seine Söhne kommen gelaufen und er gibt ihnen eine Weisheit mit auf den Weg, keine Weisheit, wie man sie hätte aufschreiben können. Vielmehr ein einfacher Satz, ein Sprichwort vielleicht. ´Wer andern eine Grube gräbt...´
Als die Söhne abziehen, umarmt der Alte seine Frau und ist glückselig. Er freut sich noch immer, weil sie die Krankheit, die im letzten Winter an ihrer Gesundheit gezehrt hatte, überlebt hat. Er ist aber keinem dankbar dafür.
Der Alte küsst sie auf die Wange, so einer ist das. Simpel und liebenswürdig, aber auch göttlich, auf seine eigene verschrobene Weise. Der Alte hätte nichts tun können um ihr zu helfen.
Jetzt aber sitzt sie bei ihm, blickt mit ihm den Hang hinab, zählt die Schafe, die eigenen, und streichelt ihm durchs Haar.
Und kurz bevor die beiden nach der Abenddämmerung zu Bett gehen, da denkt sie sich ´Ich werde ihn morgen noch fragen müssen, ob es jemals eine andere Liebe gab´.

Es steht geschrieben, dass Jesus, kurz bevor er am Kreuz hätte sterben sollen, zu Kräften gekommen ist.
Oder steht es nicht geschrieben? Ich dachte.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 17.04.2003. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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