Simon Edelbauer

Tod auf dem Weihnachtsmarkt


Der Schnee hatte
heuer länger auf sich warten lassen, aber gestern hatte er zum Einklang des alljährlichen Weihnachtsmarktes im englischen Dörfchen Durrington Einzug gehalten. In dicken
Flocken schwebte er vom Himmel und deckte die kahlen Felder in einen weißen winterlichen Schleier, der die wildromantische Landschaft Südenglands in einen Zustand der
Winterstarre fallen ließ. Wie jedes Jahr hatte man sich mit großer Vorfreude auf den Höhepunkt der Adventszeit vorbereitet. Ein Fest, dem schon langjährige Tradition beigemessen wurde. Man hatte liebevoll Kekse gebacken, hatte den Punsch mit dem letzten Spritzer Rum zur Perfektion gebracht, und die Weihnachtsstände geschmackvoll mit Tannenreisig, Thujen- und Buchszweigen dekoriert. Der Kirchenvorplatz wurde samt Straße abgesperrt und die Luft war mit dem vorweihnachtlichen Duft von Orangen, Zimt und rauchigen Bratwürstchen geschwängert. Zwischen den Ständen hatte man Schwedenfeuer aufgestellt, um frierenden Besuchern hier die Möglichkeit zu bieten, sich aufzuwärmen. Ein verkleideter Weihnachtsmann stampfte Glöckchen läutend die Straße auf und ab. Als sich der Kinderchor in Reih und Glied vor der mittelalterlichen Kirche aufgestellt hatte ließ die Chorleiterin letzte Kontrollblicke über die Schar aufgeregter Kinder schweifen. Lachend schlugen sie ihre schwarzen Liedermappen auf und blätterten nervös die Liedertexte durch. Dann wurde der Einsatz gegeben. Stille Nacht, heilige Nacht sollten sie singen – ein Paradoxon, wie sich später herausstellte, als eines der Kinder die Leiche entdeckte. Charlotte Duxbury, die chorleitende Pastorsgattin, war die Nächste die gellend aufschrie, als sie hinter dem Stand mit den selbstgezogenen Bienenwachskerzen die Tote umgeben von blutrotem Schnee sah. Sally Marshalls schwarzer Parka war bereits mit einer dünnen Schicht Schnee bedeckt, ihr hauchzartes Gesicht sah aus wie blau geäderter Marmor. Ihre glasigen Augen blickten starr in den stahlgrauen Himmel als suchten sie vergebens nach einer Antwort auf das, was man ihr eben angetan hatte. Charlotte Duxbury trat
unsicher näher an Sally Marshalls leblosen Körper heran und deutete den Kindern mit hysterischen Handbewegungen an, nicht näherzukommen. Der blutrote Schnee zog
ihre ängstlichen Blicke auf sich. Der weiße, reine, unschuldige Schnee getränkt vom unreinen Lebenssaft eines sündigen Menschen. Du musst ihr helfen, dachte sie. Fühl ihren Puls. Sei ein gutes Vorbild für die Schäfchen deines Mannes! Charlotte hatte das Gefühl, dass sie selber kurz davor war zu hyperventilieren, völlig die Nerven zu verlieren. Unschlüssig ließ sie sich nieder in den kalten Schnee und stieß einen spitzen Schrei aus, als sie sah, dass da noch jemand lag. Angelehnt an die gebretterte Rückwand des Bienenwachsstandes, mit einer blutenden Wunde am Kopf. Oh mein Gott,...das ist Jack, entfuhr es ihr bevor sie überhaupt darüber nachdenken konnte was sie sagte oder tat. Das Gesicht ihres Neffen war weiß wie Alabaster und über seine rechte Gesichtshälfte zogen sich bereits dünne Blutsfäden. Zitternd fasste sie ihm an die Schultern. Jack rührte sich nicht. Komm schon, flüsterte sie. Wieder schüttelte sie ihn an den Schultern. Jack schlug die Augen auf. Er lebte Und erst dann sah Charlotte Duxbury die tödliche Waffe in der Hand ihres Neffen.
 
***
Sally Marshall stand hinter dem Bienenwachsstand und zog begierig von ihrer klimmenden Zigarette. Erleichtert stieß sie den überflüssigen Rauch durch die Nasenlöcher wieder aus. 
„Wo warst du?“, fragte sie als ihr Ehemann Jack um die Ecke kam.
„Ich war mit Matt und Steve auf der Eisbahn, aber nach drei Partien war‘s genug.“ Er stellte seinen Eisstock auf den Boden ab. „Ich möchte, dass du noch einmal mit deinem Vater sprichst.“
„Dad hat gemeint er würde heute Abend einmal vorbei schauen.“, sagte sie und stieß wieder wirbelnd den Rauch durch ihre Nasenlöcher.
„Denkst du er kommt?“
„Bis jetzt ist er noch jedes Mal gekommen.“ Jacks Schmunzeln zeugte von seiner Zufriedenheit.
„Was ist wenn er sich wieder quer stellt?“ Sally zuckte mit den Schultern. „So weit wird es nicht kommen. Wir schenken ihm gratis Punsch aus, Dad wird lockerer, er unterschreibt und der Konzern gehört uns.“
„Denkst du es wird funktionieren?“
„Das hängt vom Punsch ab“, meinte Sally lachend, „aber ich werde dafür sorgen dass er stark genug ist.“
Der Beobachter stand gleich um die Ecke am Schwedenfeuer und tat so, als würde er sich am lodernden Feuer die Hände wärmen. Er hatte alles gehört. Jedenfalls das, was von Belang war.

 
***
Das Schneetreiben war stärker geworden, als wenig später Sergeant Crowell mit schweren Schritten auf den Tatort zustampfte. Zuständige Beamte hatten den Tatort bereits mit einem gelben Absperrband gesichert, dessen Enden lose im kalten Wind flatterten. Schwerfällig schob er sich unter dem Absperrband durch. Der Gerichtsmediziner war bereits
vor Ort. Norman Crowell war ein kräftig gebauter Mann Mitte fünfzig, hatte grau zerzaustes Haar, dichte Augenbrauen und trug einen braunen Wildledermantel. Die klobigen Winterstiefel ließen ihn irgendwie formlos und tollpatschig aussehen. Er steckte sich eine frische Zigarre und genoss den Geschmack würzigen Tabaks in seinem Mund.
„Wie heißt sie?“, fragte er schließlich. Die Zigarre hinderte ihn sichtlich am Sprechen.
„Sally Marshall“, sagte Charlotte Duxbury bestimmt. „Das ist Sally Marshall.“
Charlotte  Duxbury selbst hatte sich auf der Antrittsstufe des Bienenwachsstandes niedergelassen. Mit den Händen umklammerte sie zitternd eine Tasse mit glühend heißem Punsch.
„Sally Marshall.“ Inspector Crowell schien in seinen Gedanken zu wühlen. „Sally Marshall, die Tochter des Konzernchefs?“
Charlotte nickte.
„Kannten Sie sie gut?“
Wieder nickte sie. „Jack ist mein Neffe und Sally war seine Ehefrau.“
Inspector Crowell nahm seinen Notizblock zur Hand und schien das nötigste auf ein paar Worte zusammenzufassen.
„Erzählen Sie mir ein bisschen von den Beiden.“
„Sie haben sich oft gestritten.“
„Worum ging es dabei?“
Charlotte zuckte unsicher mit den Schultern. „Belangloses. Wie in einer normalen Ehe eben.“
Wieder machte sich Inspector Crowell eine Notiz in seinen Block.
„Wie geht es Jack jetzt?“, fragte Charlotte schließlich und nippte an ihrer Tasse.
„Mr. Marshall ist auf jeden Fall bei Bewusstsein. Die Sanitäter bringen ihn gerade ins nächste Krankenhaus.“
Die Pastorsgattin schien beruhigt und nahm wieder einen kleinen Schluck von ihrem heißen Punsch.
„Danke“, sagte Inspector Crowell schließlich. „Das war es dann fürs Erste.“ Er kaute einen Moment lang nachdenklich auf seiner Zigarre herum bevor er sich dem Gerichtsmediziner zuwandte.“
„Sieht aus, als hätte der Täter mit einem glatten runden Gegenstand zugeschlagen.“ Der Gerichtsmediziner fuhr mit seinem Latexhandschuh bildhaft über die tiefe Wunde.
„Neben dem Ehemann des Opfers hat die Spurensicherung einen Eisstock sichergestellt. Wäre es möglich, dass dieser als Tatwaffe verwendet wurde?“
„Die Form und Beschaffenheit würden jedenfalls zur Wunde passen.“
 
***
Sally warf den Zigarettenstummel auf den Boden und trat mit ihrem Schuh die klimmende Spitze in den Schnee.
„Warum bist du noch hier?“
„Ich wollte wissen ob du die Papiere dabei hast.“
„Alles dabei.“, sagte sie zustimmend und rieb sich fröstelnd die Hände. „Aber selbst wenn Dad unterschreiben würde, was nicht mehr lange dauern wird, würde die Firma mir gehören.“
„Sally wir sind verheiratet!“ Die Empörung brachte seine Stimme hörbar ins Schwanken.
„Das tut nichts zur Sache. Es ist die Firma meiner Familie und damit basta.“
„Und der Name?“
„Wird sich auf Marshall ändern!“
Die Selbstverständlichkeit schien Jack aufs äußerte zu verärgern.
„Du bist ein egoistisches Schwein, weißt du das“, sagte er schließlich.
Sie zuckte belanglos mit den Schultern. „Sag mir etwas, das ich noch nicht weiß.“
„Was denkst du wird dein Bruder dazu sagen?“
„Der soll die Finger davon lassen. Mein Bruder würde alles nur ruinieren.“
Plötzlich fuhr Jack panisch herum. „Verdammt. Hast du das gehört? Irgendjemand hat uns
belauscht.“
Sally zuckte wieder mit den Schultern. „Selbst wenn es so wäre, ginge es mir am Arsch
vorbei.“
„Verdammt nochmal, da war wirklich jemand, Sally!“
Der Gegenstand schien plötzlich aus den Nichts zu kommen und krachte mit voller Wucht auf Sally Marshalls Schädel nieder. Der Schrei blieb stumm in ihrer Kehle stecken, als sie die Augen verdrehte und zu Boden viel. Jack sah wie die rote Gestalt auf ihn zukam. Er wollte sich umdrehen und weglaufen, aber die Zeit war wie stehen geblieben.  Ein Schmerz. Dann wurde ihm schwarz vor Augen.

 
***
Der verkleidete Weihnachtsmann schob sich hastig durch die Menge von Schaulustigen und blieb vor dem gelben Absperrband stehen.
„Was ist passiert.“
„Man hat Sally umgebracht“, sagte Charlotte empört. „Schrecklich, finden Sie nicht auch Jim?“
Die Nachricht schien ihm für einen Moment lang den Atem zu rauben. Jim stand einfach nur da und starrte auf Sallys Leiche, die völlig bewegungslos im blutgetränkten Schnee
lag.
„Jack ist auch verletzt“ Charlottes Augen wurden nass als sie das sagte. „Aber er hat es
überlebt.“
Der Sergeant schien etwas in Sallys Parka gefunden zu haben, als er sich aus dem Schnee hievte und schwerfällig auf die Beiden zu stapfte.
„Man hat diese Papiere soeben sichergestellt. Überschreibungsformulare für den Konzern. Wissen Sie zufällig etwas darüber, Mrs. Duxbury?“
„Das müssen Sie schon Sally Marshalls Bruder selber fragen.“
„Sally Marshalls Bruder?“
„Na Jim, der Weihnachtsmann. Er steht doch direkt neben Ihnen.“
Norman Crowell schien überrascht als er sich zu Jim umdrehte und ihn von oben bis unten
musterte. An der schweren Glocke, die er fest umklammerte, hielt er inne. Die Glocke. Glatt und rund. Der Gerichtsmediziner gesellte sich zu ihnen. „Dieser rote Kunststoffknopf ist
unter der Leiche im Schnee gelegen. Halten Sie also Ausschau nach einer knallroten Winterjacke oder ... einem Weihnachtsmannkostüm.“
Jim lies die Glocke fallen und wollte eben davonlaufen, als er über sein eigens gestelltes Hindernis stolperte. Nun war die Glocke auch ihm zum Verhängnis geworden. Das Einzige, das Jim Thorne seinem Dorf hinterließ waren seine schweren Fußabdrücke im Schnee, die zum Polizeiwagen führten. Und selbst die waren schon bald bedeckt von einer Decke weißen Schnees. 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 10.09.2013. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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