Simon Edelbauer

Das Geheimnis der Familie Ames

Detective Chief Inspector Norman Crowell schob seinen monströsen Körper fluchend unter dem gelben Absperrband durch, als erste Regentropfen aus dem bleigrauen Himmel zu fallen begannen. Die Zigarre prangte glühend zwischen seinen Lippen, während er mit schweren Schritten auf den Tatort zuging. Er begrüßte die anderen mit einem schweigenden Kopfnicken und sah zu, wie sich in Fleecejacken und Isolierhosen bekleidete Medizinstudenten mit ihren Schaufel und Kellen an die Arbeit machten, den verwesten Leichnam so sorgsam wie möglich aus der lehmigen Erde zu puddeln.
„Ist das alles was von dem armen Kerl übrig geblieben ist?“ Angewidert starrte er auf den undefinierbaren Haufen von Knochen, Sehnen und Geweberesten hinab.
„Ist wohl anzunehmen - ja.“, antwortete der Gerichtsmediziner  während er alle Gegenstände wieder zurück in seinen Koffer packte. „Wie lange er schon hier in der Erde gelegen hat ist noch schwer zu sagen.“ Er neigte abschätzend den Kopf. „ Aber allzu lange kann es wohl noch nicht her sein.“
„Wer hat die Knochen gefunden?“
 „Der Grund hier wurde letzten November als Baugrund verkauft. Vor gut zwei Tagen haben sie angefangen, die Grube für das Fundament zu graben. Heute, um Mittag herum, hat dann der Baggerfahrer die Knochen gefunden.
„Weiß man schon, wer er war?“
„Der Leichnam ist auf jeden Fall männlich, so viel kann ich Ihnen schon einmal sagen. Den Rest, müssen Sie herausfinden.“ Er schloss seinen Koffer und ging vorsichtig über den schmierigen Lehmboden Richtung Auto.
„Wir haben auch schon einen Namen.“  Ein junger Sergeant mit einer eckigen Brille und dickem Wollschal schob sein Handy in die Hosentasche und stolperte durch den aufgeweichten Lehm zu ihnen hinüber.
„Ich habe eben mit der örtlichen Polizei hier telefoniert und sie sind kurz die Vermisstenakten durchgegangen. Der Einzige, der in den letzten zwei Jahren hier in diesem Dorf verschwunden ist hieß Robert Ames, fünfundvierzig Jahre alt. Er war Angestellter einer Firma im Nachbarort. Vermisst gemeldet wurde er vor etwa einem  Jahr. Und, halten sie sich fest.“ Einen Moment lang blätterte er verwirrt in seinem Notizblock. „Was jetzt kommt, finde ich noch viel interessanter. Die einzigen Hinterbliebenen, die Robert Ames hatte, waren seine beiden Kinder Larry und Lisa. Juliet, seine Ehefrau starb schon vor mehr als fünf Jahren bei einem Autounfall.“
Crowell machte ein missmutiges Gesicht und sah den jungen Sergeant ernst an. „Und, was soll daran so interessant sein?“
Der junge Mann sah trotz seiner Uniform irgendwie kindlich aus. Seine karottenroten Haare standen ihm im Wind in allen Richtungen vom Kopf, während er beschwichtigend die Hand hob und mit der anderen seinen Notizblock vor dem Regen schützte.
„Larry Ames, der Junge unseres Kumpels hier, sitzt seit dem Verschwinden seines Vaters in einer psychiatrischen Anstalt. Und er hat seit jenem Tag an kein einziges Wort mehr gesprochen.“
 
***
 
Larry Ames setzte sich in seinem Stuhl gerade auf, als Nancy Green hinter sich die Tür schloss und sich zu ihm an den Tisch setzte.
„Mein Name ist Nancy Green, aber Sie können auch ruhig Nancy zu mir sagen“, begann sie und faltete völlig gelassen die Hände auf dem Tisch. „Sie sind Larry Ames nicht wahr? Ist es in Ordnung, wenn ich Larry zu Ihnen sage?“
Der junge Mann nickte kaum merklich mit dem Kopf.
„Erinnern Sie sich an Ihren Vater, Larry?
Wieder kam nur ein zaghaftes Nicken zur Antwort.
„Was ist mit dem Tag, als ihr Vater verschwand? Erinnern Sie sich auch daran?
Larrys Gesichtsausdruck blieb völlig neutral, während seine leeren Augen neugierig Nancys Gesicht musterten.
„Vielleicht erinnern Sie sich ja an den Tag, als Sie zu uns in die Klinik kamen. Was ist da passiert, Larry?“
Die Erinnerung stieß ihm plötzlich auf, wie bittere Galle. Plötzlich hallten Lisas Schreie in seinem Kopf wider. Lisas hilflose Schreie. Wie ein Echo. Leise und undeutlich. Er wollte er hätte vergessen können, aber er erinnerte sich an diesen Tag, als wäre es erst gestern gewesen.
 
***
 
„Was wollen Sie von mir?“ Lisa sah von ihrem Kleinen auf, den sie sachte in den Armen wiegte.
„Detective Chief Inspector Norman Crowell, vom Foxglove Hill Police Department“, stellte er sich vor und hielt ihr seinen Ausweis beinahe aufdringlich unter die Nase.
„Polizei?“ Sie machte ein verwundertes Gesicht. „Habe ich denn etwas angestellt?“
Crowell füllte mit seiner massigen Gestalt den gesamten Türrahmen aus, als er über die Türschwelle trat. „Eigentlich bin ich hier, wegen dem Fall ihres vermissten Vaters. Ich gehe doch recht in der Annahme, dass ihr Vater Robert Ames vor gut zwei Jahren als vermisst gemeldet wurde?“
Annes Gesicht wurde augenblicklich Leichenblass. „Die Ermittlungen zum Fall meines Vaters sind doch bereits seit mehr als einem Jahr abgeschlossen? Was also wollen sie von mir?“
„Vielleicht wäre es besser wenn Sie sich setzen würden“, sagte er, zog ihr einen Stuhl unter dem Tisch hervor und wartete bis sie sich gesetzt hatte.
„Sie haben ihn doch nicht etwa gefunden, oder?“
„Leider doch. Und das was von ihm übrig ist, ist nicht mehr viel. Bauarbeiter haben ihn heute Mittag während der Ausgrabungsarbeiten auf einer Baustelle gefunden.“
„Und sie sind sicher, dass er es ist?
Crowell nickte. „ Ihr Vater war der Einzige hier in der Umgebung, der in den letzten Jahren als vermisst gemeldet wurde. Wir gehen also ab heute von der Vermutung aus, dass ihr Vater ermordet wurde.“
Lisa sah ihn mit großen Augen an. „Sie denken also, dass man Vater ermordet hat?“
„Naja, irgendjemand muss ihn ja vor einem Jahr vergraben haben.“, rechtfertigte sich Norman Crowell. „Was ist an dem Tag passiert, als sie ihn damals als vermisst gemeldet haben?“
Lisa überlegte einen kurzen Moment bevor sie antwortete. „Es war an einem Samstag, als es passierte. Vater war mit einigen seiner Freunde auf ein paar Bier gegangen, und ist an diesem Abend nicht nach Hause gekommen. Als er am nächsten Tag immer noch nicht zurück war, haben ihn ich und mein Bruder als vermisst gemeldet.“
„Laut früherer Ermittlungen ist ihr Bruder in einer psychiatrischen Klinik untergebracht? Ist das wahr?“
„Ja.“ Lisa Ames zögerte einen Moment, bevor sie weitersprach. „Larry wurde damals eingewiesen, als Vater verschwand. Er hatte so eine Art psychischen Zusammenbruch. Die Ärzte sprechen von einem Trauma. Aber niemand weiß, wo es herrührt. Er spricht ja nicht mit uns.“ Sie hielt einen Moment inne. „Er spricht überhaupt mit niemandem mehr“, sagte sie schließlich traurig, stand auf und legte ihren Kleinen in sein Bettchen, um sich eine Zigarette anzuzünden. „Sie wissen gar nicht, wie deprimierend das ist, wenn ich ihn besuche und er sagt einfach kein einziges Wort. Sitz einfach nur da, und starrt völlig abwesend ins Leere.“ Entspannt blies sie den Rauch der Zigarette durch ihre Nasenlöcher und sah Crowell nachdenklich an. „Denken Sie, er wir jemals wieder normal sein?
 
***

Larry Ames hatte die Hände vor der Brust verschränkt, und starrte angespannt an die kahle Wand ihm gegenüber, während Nancy Green ein Notizbuch aus ihrer Tasche nahm.
„Vielleicht interessiert es sie, dass man die Leiche ihres Vaters heute Morgen gefunden hat.“ Nancy Greens provokative Stimme schnitt durch die Stille, die sich über den kleinen Raum gesenkt hatte.
Sein Gesicht wurde plötzlich blass. Unwillkürlich erfasste ihn ein Schaudern, beinahe so, als wäre eben ein Windstoß durch das Zimmer gezogen, und die Vergangenheit holte ihn wieder ein. Er hörte plötzlich wieder die unerbittlichen Schreie seiner Schwester in seinem Kopf widerhallen. Wehrlos und klagend. Es war so oft passiert und er selbst hatte nichts dagegen tun können. Seit seine Mutter gestorben war hatte es sich fast jeden Abend wiederholt. Er wusste, dass es wieder passieren würde, wenn sein Vater in Lisas Zimmer ging, und die Tür hinter sich schloss. So unbemerkt und leise, wie er es sonst nie tat. Und dann hörte er Lisas jämmerliche Schreie, die in dem alten Gemäuer ihres Hauses widerhallten.
 
***
 
Eine Träne rollte über Lisa Ames Wangen, als versuchte die Vergangenheit von sich abzuschütteln.
„Woran denken Sie gerade?“ Crowell legte seine Hand über die ihre und berührte sie sanft.
Lisa sah ihn aus traurigen Augen an. „Sie müssen wissen, dass sich vieles für uns verändert hat, als Mutter starb.“ Sie machte eine kurze Pause und starrte auf den Kleinen, der völlig zufrieden in seinem Bettchen schlief. „Es hatte begonnen, kurz nachdem Mutter unter der Erde lag.“
„Was, Lisa? Was hatte da begonnen?“ Crowells Stimme klang sanft und mitfühlend.
„Vater hatte sich fast jeden Abend betrunken. Wenn er wieder einmal betrunken von der Arbeit nach Hause kam, da wusste ich schon, dass er bald darauf in mein Zimmer kommen würde. Und dann können Sie sich wahrscheinlich vorstellen was er mit mir gemacht hat.“
„Er hat sie also ...“
„... vergewaltigt? Ja das hat er!“ Lisa begann plötzlich zu zittern. „Er hat mich immer Juliet genannt. So wie meine Mutter.“
Crowell sah den Zorn in ihrem Gesicht, der sie plötzlich erfasste. Diesen eiskalten Tränen der Wut, die ihr über das Gesicht strömten. Sie sah hinüber zu dem Kleinen, der immer noch friedlich schlief.
„Können Sie sich vorstellen, wie es ist, wenn man das eigen Fleisch und Blut seines Vaters in sich austrägt?“
Crowell drückte ihre Hand fester und versuchte sie zu beruhigen.
„Er ist tot Lisa. Er kann Ihnen nichts mehr antun.“
„Glauben Sie mir. Was Vater mir angetan hat, kann niemand je wieder gut machen.“ Sie wischte sich mit der bloßen Hand über das Gesicht. „Es ist sein eigenes Erbe, das er mir hinterlassen hat. So als hätte ich ihn selbst wieder zur Welt gebracht.“
„Lisa, möchten Sie mir erzählen, was an dem Tag geschehen ist, als ihr Vater verschwunden ist? Es war nicht so, wie Sie es mir erzählt haben, nicht wahr?“
Sie schüttelte den Kopf. „Er ist wieder einmal stockbesoffen nach Hause gekommen. Er wollte an diesem Abend, dass ich es ihm besorge. Und plötzlich ist Larry in der Tür gestanden. Er hatte ein Messer in der Hand, aber als Vater ihn gesehen hat, hat er ihn einfach nur ausgelacht. Damals war er nur mein kleiner Bruder. Aber heute ist er mein Held.“
 
***
 
Er musste es tun. Für sie. Für seine Schwester.
Nancy Green schaltete das Tonbandgerät ein und legte es vor ihn auf den Tisch.
„Mein Name ist Larry Ames und ich habe meinen Vater umgebracht.“
 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 12.09.2013. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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