Birgit Kleinfeld

Sie hatte die Dunkelheit gefürchtet

Sie hat die Dunkelheit gefürchtet
Leonie Lucas
 
„Hier ist Krause. Ihre Dame braucht ab heute nicht mehr zu meiner Frau zu kommen. Die ist tot.“ Normalerweise hasste Georg diese modernen Maschinen, die im ersten Moment klangen als wäre ein richtiger Mensch am anderen Ende der Leitung. Dabei war es nur eine menschliche Stimme, keine echte lebendige Frau, die im Büro des Pflegedienstes „Helfende Hände“ saß. Heute war er froh, denn er wollte weder ehrliches noch geheucheltes Beileid. Beides würde er noch früh genug ertragen müssen und er wollte auch nicht hören, ob er sicher sei und ob er den Arzt schon gerufen hätte. Natürlich war er sicher und der Arzt? Er wollte nicht, dass sie sie jetzt gleich holten und wegbrachten, sie einsperrten in einen engen dunklen Sarg. Sie hatte die Dunkelheit gefürchtet, weil sie als Kind so oft so lange alleine im Keller eingesperrt gewesen war. Er hatte ihren Vater dafür gehasst. 
Nein, sie sollte noch bei ihm bleiben. Er wollte sie beschützen, schützen vor der ihr so schrecklichen Dunkelheit, so lange es ging. Wirklich helfen konnte ihr jetzt doch niemand mehr. Nicht einmal er. Tot war tot. Er hatte so viele Tote gesehen im Krieg. Zu viele. Die meisten waren plötzlich aus einem jungen Leben gerissen worden und Mutti? Mutti hatte sich so gequält und er sollte dankbar sein, dass sie erlöst war. Georg setzte sich zu ihr auf die Bettkante und hielt ihre Hand, so wie er es all die Monate ihrer Krankheit so oft getan hatte und schaute ihr in die Augen. Ihre schönen blauen Augen, die ihr Alter immer  Lügen gestraft hatten, denn sie waren immer die Augen des jungen Mädchens geblieben, in das er sich vor fast 70 Jahren verliebt hatte: Strahlend, oft voller Schalk und immer voller Liebe. Nun war die einst so weiche und zärtliche Hand steif und die Augen, sie waren leer. So leer. Dennoch vermochte er es nicht sie ihr zu schließen. 
 „Augen, Georg, Augen sind die Spiegel der Seele.“ hatte sie immer gesagt. Ihre Seele war nicht mehr da, nicht in ihren Augen. Sie hatte ihren Körper verlassen Dennoch- würde er sie schließen, würde er dann nicht auch das letzte Türchen zu ihr schließen? Wäre es dann nicht so, als schicke er sie in die endgültige ewige Dunkelheit? Es fiel ihm etwas ein, das er für sie als junger Mann geschrieben hatte. Er räusperte sich und rezitierte es ganz leise und, wie er hoffte, so zärtlich wie damals: 
 
 
“Die Sonne strahlt vom Himmel,
 aber meine Augen die
strahlen noch mehr.
Denn da bist du,
stehst vor mir, lachst mich an.
Es ist Sommerwetter: warm und klar.
Und regnete es, ich merkte es kaum.
Denn:
Meine Welt fängt an in deinen Augen
endet in deinem Blick. 
Wo bin ich?
Zu Hause...“
 


Dann saß er einfach weiter schweigend da und hielt ihre Hand, hielt ihre Hand. Er hatte das Gefühl, dass sie ihm mit jeder Minute fremder wurde, dass es wirklich mehr und mehr nur ihre - wie sagte man immer – ihre “Hülle“ war, hier bei ihm. Aber gleichzeitig war es doch immer noch auch die Frau, die er so geliebt hatte. Die Frau, die die Dunkelheit so gefürchtet hatte und die er nicht bis in alle Ewigkeit davor bewahren konnte, in dunkler kalter Erde begraben zu werden. 
Plötzlich vernahm er ein zaghaftes „Herr Krause?“ hinter sich. Die Dame vom Pflegedienst. Nach dem ersten Schreck, er hatte ganz vergessen, dass sie einen Schlüssel hatte, war er erleichtert, dass sie doch gekommen war. Denn sie stand da ohne Heuchelei in den Augen, sondern mit echtem Mitgefühl. 
“Herr Krause, ich habe Ihre Nachricht gehört und wollte aber gerne nach Ihnen beiden schauen. Ich hoffe das ist in Ordnung?“ 
Georg nickte stumm und beeilte sich, aufzustehen und zu ihr in die Diele zu kommen. Er wollte nicht, dass sie, so nett sie auch immer war, in Muttis Nähe kam. Noch nicht. 
“Schön, dass Sie da sind. Dann koch ich uns mal wie immer erst mal einen schön starken Kaffee.“ 
Er versuchte ein zaghaftes Lächeln, tat so, als bemerke er das Zögern nicht, und machte sich auf den Weg in die Küche, nicht ohne die Tür zum Schlafzimmer zu schließen. 
 „Ja, Herr Krause“, hörte er sie sagen, als er den Wasserkessel schon füllte. „Sie wissen ja, auf Ihren Kaffee freue ich mich sehr. Aber danach sollte wir dann Dr. Hohmann anrufen, damit er herkommt und nicht ein fremder Arzt, oder?“ 
Daran hatte Georg noch gar nicht gedacht. Nein, ein Fremder sollte sie nicht so sehen. 
 „Ja, “ sagte er, „das machen wir.“ Plötzlich fiel ihm das Beerdigungsinstitut ein. Fremde, die sie so sehen, sie sogar holen würden. Seine Gedanken überschlugen sich: 
“Das Beerdigungsinstitut, meinen Sie, die ändern noch etwas an der...“ –es fiel ihm kein anderes Wort ein - „der Bestellung,“ „Ja ich denke schon, warum?“ „Ich möchte, dass sie es so hell wie möglich hat und darum soll der Stoff …“ Er seufzte bevor er es aussprach, „im Sarg weiß sein. Und dann…“ 
Er ließ sich auf einen Stuhl fallen und kramte in der Küchentischschublade bis er gefunden hatte, was er suchte. Nach kurzem Zögern hielt er der jungen Frau eine alte zerbeulte Taschenlampe entgegen und leuchtete ihr mit deren hellen Strahl ins freundliche Gesicht. 
„Meinen Sie, sie darf die mitnehmen? Sie hat die Dunkelheit doch immer so gefürchtet.“ 
Auf ihr Nicken hin, war er beruhigt. Ja, nach einem stärkenden Kaffee mit ihr würde er bereit sein, Dr. Hohmann und auch das Institut anzurufen und seine Martha dahin gehen zu lassen, wo sie vom Licht der Lampe, seiner Lampe, vor der Finsternis beschützt, auf ihn warten würde. Bis auch seine Zeit kommen würde …
 

Gibt es hier auch zum Hören

http://www.e-stories.de/hoerspiele-player.phtml?818

Irgendwie war diese Geschichte mein bisher, größter
Erfolg, denn sie war die Eröffnungsgeschichte in einer
Anthologie.
Birgit Kleinfeld, Anmerkung zur Geschichte

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 24.09.2013. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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Die Öffnung der ostdeutschen Grenzen im Herbst 1989 ruft in Achim Wossow die Erinnerung an die Vergangenheit wach. Nur wenige Monate vorher hatte für den jungen Oberarzt und seine Familie nach der Flucht ein neues Leben jenseits der Mauer begonnen. Nach der Wende läßt Wossow seinen Werdegang zum Arzt noch einmal Revue passieren. Dabei treten ihm die politisch bedingten Unzumutbarkeiten der medizinischen Ausbildung und der Krankenhauspraxis deutlich vor Augen. Er hatte erfahren, daß Systemkonformismus oft mehr wert war als Kompetenz.

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