Klaus-D. Heid

Verlorener Sieg

Der Lärm des Sieges erfüllte die Luft und unterdrückte das Klagen der Unterlegenen. Niemand hörte das Stöhnen derer, die verletzt in ihrem Blut lagen oder derer, die weinend um ihre Angehörigen trauerten. Der leise Schmerz der Niederlage fand keinen Platz im ohrenbetäubenden Jubel der Sieger. Auch nach diesem Krieg degenerierten die Schwächeren zu Menschen, denen nichts außer dem nackten Leben blieb. Plündernde Horden zogen durch die Straßen, schlugen Fenster ein und nahmen sich, was immer ihnen gefiel. Männer, denen jedes Gefühl für Menschlichkeit abhanden ging, vergewaltigten Frauen und Mädchen, die zu schwach waren, vor den Bestien des Sieges zu flüchten. Männer, die vor dem Krieg ein normales unauffälliges Leben führten, verwandelten sich durch den Schrecken des Krieges in Mörder und Vergewaltiger. Verstärkt durch das berauschende Gefühl, einen grausamen und langanhaltenden Krieg als Sieger überlebt zu haben, gewann eine animalische Brutalität die Oberhand. Das Eigentum der Verlierer gab es nicht mehr und ebenso hatten sie alle Rechte verwirkt, als Menschen behandelt zu werden. Die Jagd auf die Schwachen hatte begonnen!

Mit jedem Kilometer, den die Soldaten tiefer in Feindesland eingedrungen waren, ging ein Stück Achtung vor dem Leben verloren. In den langen Jahren des Krieges gewöhnte man sich irgendwann an den Anblick sterbender Kameraden, an zerfetzte Körper und an das Schreien der Kinder, die den Verlust von Mutter und Vater beklagten. Man gewöhnte sich daran, dass Leichenteile aus dem blutgetränkten Schlamm der Straßen ragten. Anblicke, die in anderen Zeiten jedem Menschen den Verstand raubten, wurden zu etwas Alltäglichem. Selbstverständliche Grausamkeiten wurden zu einem Alibi für Täter und zum furchtbaren Schicksal für die Opfer.

Legitimiert durch das Recht des Stärkeren, verwandelte sich der Kriegsschauplatz in ein Schlachtfeld, in dem nicht einmal die Regeln des Krieges galten. Wie in einer gewaltigen Entladung aufgestauter Aggressionen und explodierenden Hasses, wurde getötet, wann immer man Lust dazu verspürte. Noch viel intensiver und furchtbarer als vor dem Sieg prallte die hemmungslose böse Seite des Menschen auf den geschlagenen Feind. Nun plötzlich fielen alle Schranken, hinter denen der Soldat zum Teufel in Uniform mutierte.

Längst hatten die Vorgesetzten jede Kontrolle über ihre Leute verloren. Wenn sie selbst keine Gräueltaten verübten, so hatten sie es zumindest aufgegeben, ihren Untergebenen Einhalt zu gebieten. Im Blutrausch der Masse war es auch für jene lebensgefährlich, die sich einen Rest Menschlichkeit bewahrt hatten, sich gegen den Pöbel zu stellen. Macht und Ohnmacht wüteten Hand in Hand. Der Schrecken des Krieges entfesselte sich nach dem Sieg zu einem tobendem Feuer, dem niemand mehr entgehen konnte. Das Land brannte – und die Sieger schürten das Feuer, indem sie es mit den Körpern der Unschuldigen fütterten. Ein Geruch von verbranntem Fleisch und brennenden Häusern überzog das Land.

Der Wahnsinn regierte...

Vereinzelt sah man Männer und Frauen, die mit erhobenen Händen auf die Straße liefen oder einfach nur eine weiße Fahne schwenkten. Sie bettelten um Gnade für sich selbst und für ihre Kinder. Sie ahnten nicht, dass es nicht die Zeit für Gnade war. Sie alle wurden von Soldaten erschossen, denen ein Menschenleben nichts mehr bedeutete. Ihre Körper füllten die Straßen und Häuser wie eine einzige unauslöschliche Anklage, die sich in den Erinnerungen der Zeit einbrannte, wie ein Wundmal auf der Haut.

Zwei Wochen und sieben Tage dauerte der Horror an. Unzählige Menschen fanden in dieser Zeit den Tod, obwohl der Krieg längst beendet war. Der Terror der Sieger wurde mit den unzähligen Toten in riesigen Gräbern verscharrt und mit Erde zugeschüttet.

Nachdem die Stadt geplündert, die Frauen vergewaltigt und die Männer ermordet worden waren, zogen die Soldaten ab. Singend und grölend hinterließen Männer eine Stadt, die mit ihren Bewohnern gestorben war. Diejenigen, die als Sieger einmarschiert waren, verließen die Stadt als Verlierer ihrer eigenen Menschlichkeit. Es gab keine Sieger. Keine wirklichen Sieger.

Sie alle hatten verloren –

und manche von ihnen nur das Leben...

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