Sieglinde Jörg

Niemand

In der Fußgängerzone bleibt sie stehen. Die Menschenmenge strömt an ihr vorbei. So viele Gesichter. Braune Augen. Blau-graue. Gutmütige. Verschlagene. Die Menschen bekommen einen sanften Gesichtsausdruck, wenn sie ihr ins Gesicht sehen. Sie lächeln. Neigen den Kopf wie zum Gruß. Die Menschen mögen sie. Die meisten zumindest. Es gibt auch welche, die sie gar nicht leiden können. Warum, weiß niemand. Sie verschenkt Wärme. Manche Menschen vergessen ihre Sorgen für eine Weile, wenn sie um sie herum ist. Niemand weiß von dem Schmerz, der an ihr zerrt. Niemand weiß von den Tränen, die ihr über die Wange laufen. Sie hat Freunde. Aber sie erzählt ihnen nichts von ihrem Schmerz. „Walzer für Niemand“ (1). Ganz laut. Sie tanzt Walzer für alle. Aber niemand für sie. Sie findet das Leben schön, weil Frieden in ihr ist. Den Frieden hat die Psychiaterin in ihre Seele gezaubert. Es gibt noch jemanden, der das könnte. Er tut es aber nicht. Er hat Angst. Wie kann man nur Angst vor der Liebe haben? Sie hat Vertrauen in ihn. Vertrauen ins Leben. Vertrauen darauf, dass alles gut wird. Wann wird alles gut?

Im Winter machen die Leute andere Gesichter als im Sommer. Und wenn es stürmt andere als bei einer leichten Brise. Sie riechen auch anders. Sie mochte den Geruch ihrer letzten Verabredung nicht. Es war ein Versuch, ihn zu vergessen. Seinen Geruch mag sie. Immer. Er kennt die Melodie ihres Herzens. Er glaubt, dass er ersetzbar sei. Er glaubt, dass er ihr niemals genügen könne. Sie ist dem Blut der Sterne gefolgt. Ihm gefolgt. Aber wenn man in einer Sternblumennacht in den Feenwald geht, dann kehrt man voller Schmerz zurück. Bleibt für immer allein. - Nenia C'alladhan weiß das, und sie auch. Er ist aus Stein. Er redet nicht mehr mit ihr. Er schweigt. Ihr sei kein Vorwurf zu machen. Er sei es nicht wert. Und alles in ihr schreit: Ich will mehr. Ich will nicht mehr. Nicht mehr ohne ihn.

Viele Paare laufen durch die Fußgängerzone. So viele Menschen. Und keiner dabei, den sie haben wollen würde. Roman Koidl schreibt „Next, please“. Aber so einfach ist das nicht. Next, please. Abgeschoben. Weggeworfen. Vergessen. Next, please. Sie läuft durch die Menge. Gegen den Strom und mit dem Strom. Es wird dunkel. Die Straßen werden einsamer. Die Häuser sind voller Licht. Sie würde gern mit ihm das Licht teilen. Aber er hat es ausgeknipst, bevor sie es gemeinsam anschalten konnten. Er braucht wohl ein anderes Licht. Er ist zu alt für ein neues Licht. Glaubt er.

Es wird kalt. Es ist kalt. Die Welt ist voller Wärme und trotzdem so kalt. Sie sieht ihn, aber sie spricht ihn nicht an. Sie ist voller Wärme für ihn und friert. Sie gehen aneinander vorbei wie Fremde. Niemand würde vermuten, dass sie gern in seinen Küssen versinken würde. Niemand. „Walzer für Niemand“.

 

 

 

 

 

 

___________________________________

 

1: Walzer für Niemand, CD und Lied von Sophie Hunger

Vorheriger TitelNächster Titel
 

Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Sieglinde Jörg).
Der Beitrag wurde von Sieglinde Jörg auf e-Stories.de eingesendet.
Die Betreiber von e-Stories.de übernehmen keine Haftung für den Beitrag oder vom Autoren verlinkte Inhalte.
Veröffentlicht auf e-Stories.de am 13.10.2013. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

Die Autorin:

  Sieglinde Jörg als Lieblingsautorin markieren

Bücher unserer Autoren:

cover

Endstation Zoo Ein Bahnhof sagt Adé (Lyrische Hommage) von Jakob Wienther



Sein offizieller Name lautet Berlin Zoologischer Garten. Bekannt ist der Bahnhof Zoo, wie im Volksmund genannt, weit über die heimatlichen Grenzen hinaus. Er ist Mythos und Legende zugleich und kann auf eine mehr als 100 jährige, bewegende Geschichte zurückblicken.

In der vorliegenden Hommage vereinen sich Gedanken, Hoffnungen und Wehmut über diesen Bahnhof und den nahe gelegenen Kurfürstendamm.

Möchtest Du Dein eigenes Buch hier vorstellen?
Weitere Infos!

Leserkommentare (2)

Alle Kommentare anzeigen

Deine Meinung:

Deine Meinung ist uns und den Autoren wichtig!
Diese sollte jedoch sachlich sein und nicht die Autoren persönlich beleidigen. Wir behalten uns das Recht vor diese Einträge zu löschen!

Dein Kommentar erscheint öffentlich auf der Homepage - Für private Kommentare sende eine Mail an den Autoren!

Navigation

Vorheriger Titel Nächster Titel

Beschwerde an die Redaktion

Autor: Änderungen kannst Du im Mitgliedsbereich vornehmen!

Mehr aus der Kategorie "Einfach so zum Lesen und Nachdenken" (Kurzgeschichten)

Weitere Beiträge von Sieglinde Jörg

Hat Dir dieser Beitrag gefallen?
Dann schau Dir doch mal diese Vorschläge an:

Ein ungleiches Paar oder Realistischer Idealismus von Sieglinde Jörg (Einfach so zum Lesen und Nachdenken)
Hochzeitstag von Martina Wiemers (Einfach so zum Lesen und Nachdenken)
Mit seinem Namen leben von Norbert Wittke (Einfach so zum Lesen und Nachdenken)

Diesen Beitrag empfehlen:

Mit eigenem Mail-Programm empfehlen