Tilly Boesche-Zacharow

RIO DE JANEIRO / Karneval

Es war ein bedeutsamer Tag, sozusagen eine Sternstunde innerhalb des internationalen Flugverkehrs, bei der ich zugegen sein durfte.
   Einem rührigen Reiseunternehmer war es  gelungen, die Erlaubnis der in dieser Hinsicht (damals noch) recht zurückhaltenden brasilianischen Behörden zu erlangen, die Maschine im Direktflug Berlin – Rio de Janeiro starten zu lassen, im Direktflug, nicht im Nonstop. Drei Zwischenlandungen mussten zwecks Treibstoffauffüllung vorgenommen werden.
   Erste Station: Las Palmas / Gran Canaria.
   Zweite Station: Der militärische Stützpunkt Sal auf den Capverdischen Inseln.
   Dritte Station: Recife im Staat  Pernambuco, das bereits zu Brasilien gehört.
  
  In maximal 11.000 m Flughöhe, mit einer Stundengeschwindigkeit von 900 km und Außentemperaturen bis minus 54 Grad legte die Maschine etwa 13.500 km Luftlinie zurück. Die Flugzeit auf dem Hinweg – inklusive Zwischenlandungen – betrug 18 Stunden, und die Differenz von plus 3 Stunden auf dem Rückweg, lag daran, dass die Aeroamerica ihre erste Zwischenlandung nicht in Recife, sondern in Paramaribo / Surinam einlegte.
   Wenn in Deutschland noch Schnee und Eis liegen und sich jeder nach der ersten Krokusblüte  sehnt, herrscht jenseits des Äquators Hochsommer. Bei Schattentemperaturen von rund 35 Grad wird in Rio de Janeiro Karneval gefeiert; allerdings ein ganz anderer Karneval als der in unseren Breitengraden bekannte Mummenschanz..> Karneval in Rio < das   ist ein Ritual, ein Rausch der Farben, des Rhythmus´, die ekstatische Hingabe an den Sambatakt, der jedermann während dieser Tage im Blut steckt und der ihn bei jeder Tätigkeit wippen und wiegen lässt. Es ist Begeisterung und volle pralle Lebenslust, so wie es die Natur im Schöpfungsakt  vermutlich vorgesehen haben mag. Die mitunter sehr armen Menschen scheinen alles Negative um sich herum vergessen zu haben.
   Der Karneval in Rio ist kein Sauffest, keine bis zur Bosheit anschwellende Ausgelassenheit, hier handelt es sich eher um das ernsthafte Engagement einer Festivität, ganz im Sinn einer rituellen Handlung.
Jedermann hier gehört dazu, ist davon nicht nur einfach betroffen, sondern er ist involviert, ein so genanntes Rädchen im Werk. Festlich geschmückt wiegt sich die Stadt in einem einheitlichen Rhythmus.
   Am 19. Februar – einem Sonnabend, der erste von vier Karnevalstagen -  sind die Geschäfte bis zur Mittagszeit  noch offen. Doch Juweliere und Bankhäuser auf der Avenida Rio Branca und der Avenida Presidente Vargas haben sich längst verbrettert und zugenagelt, verrammelt und unzugänglich  gemacht – hofft man zumindest – für diejenigen, denen die allgemeine Abwesenheit von Alltag und Sorgen genug Spielraum für persönliche kriminelle Tätigkeiten bietet.
   Das Straßengangstertum feiert  fröhliche Urständ. Wer nicht gerade peinlich versteckt seinenSchmuck am Körper trägt, seine Barschaft mit Argusaugen bewacht, muss damit rechnen, dass ihm durch offene Autobusfenster, am Strand, im Sambataktgedränge jeder Straße Ketten, Armbänder, Uhren, Kameras oder Bargeld abgerissen, aus irgendwelchen Taschen herausgefischt oder völlig unbemerkt sonstwie entwendet  werden. Kostümierte Transvestiten lenken vor den Eingängen der großen Hotels die Aufmerksamkeit der internationalen Touristen ab, um fixen  kleinen Schwarzhautboys die  Gelegenheit für Taschendiebstähle zu bieten. Makumbatänzerinnen in einschlägigen Clubs machen in vorgetäuschter und das Publikum beeindruckender Trance Kumpane von der Bettlergilde auf optimale Opfer aufmerksam.
 
   Vor Bars und Läden tanzen Verkäufer und die Kundschaft gemeinsam im Sambaschritt, ohne ihre Tätigkeiten wirklich zu unterbrechen. Eltern, mit Kindern an der Hand bewegen sich, rhythmisch animiert  durch dumpfem Trommeltakt vorwärts. Ihren intimen Neigungen gehen jetzt unwahrscheinlich viele Männer nach. Die aufreizendsten Frauen sind männliche Wesen, die in Stöckelschuhen, mit Federboas, breitkrempigen Hüten, Perücken und auf der sonst flachen Brust die hüpfende Busenattrappe   heute hüfteschwenkend und Küsschen-Küsschen in die Zuschauermengen werfend  vorübertänzeln.
   Bis hinauf zum CORCOVADO, der neben dem weltbekannten „Sugar Loaf“, Rios imposantester Berg ist, tönt der Sambatakt, in dem sich eine ganze Stadt wiegt. Hier steht der 30 m hohe, aus Speckstein – zwischen den Jahren 1922 und 1931 – geschaffene Jesus, der zum Segen die Arme ausbreitet, sein Gesicht der  abends  wie eine mit Edelsteinen bedeckte Fläche  zugewandt, die als schönste Stadt der Welt – neben Hongkong – benannt wird. Die Bezeichnung „verkommene Schöne“, von einer bekannten deutschen Zeitschrift dem Leser nahegebracht, birgt  verschiedene Aspekte dieser faszinierenden Metropole in sich.
   Mit 5 Millionen registrierten Einwohnern ist Rio de Janeiro (d.h. Januarfluß) nach Sao Paulo die zweitgrößte Stadt Brasiliens. Die Dunkelziffer der nicht registrierten, ständig aus dem Hinterland einströmenden und von „goldenen Bergen“ träumenden Neueinwohner beläuft sich auf mindestens eine weitere Million.
   Nur wenige dieser neuen Bürger haben die Chance, einen Job zu finden. Unterhalb der Hänge des Corcovado, durch Christi Rückseite  als vergessen markiert,  stehen die Elendshütten der Armen, die Favelas, von denen jedoch viele abgerissen werden mussten, als ein etwa 3 km langer Tunnel durch den Berg gebrochen  wurde. Man brachte die Armen „anderweitig“ unter. Von ihren Eltern verlassene oder Waisenkinder im mitunter noch vorschulpflichtigen Alter verdienen sich mittels Schuhputz, durch Betteln  und Stehlen ihren kargen Lebensunterhalt – alle paar Tage eine Mahlzeit. Blinde Frauen jeglicher Hautfarbe, meist jedoch dunkelhäutig, ihre auf der Erde schlafenden Kleinkinder neben sich und weißhaarige, an Onkel-Toms-Hütten-Neger erinnernde Gestalten, oft mit böse  verkrüppelten Armen und Beinen sind Alltagserscheinungen dieser Stadt, in der die Oberschicht sich Wohnungen mit etwa 350 qm für die  monatliche Miete  von  40.000 Cruzeiros (das sind heute 4.000,00 Euro) leisten kann. Eine Privatyacht kostet 30.000 Cruzeiros  ( 3.000,00 Euro). Für eine Eintrittskarte zum   Karneval in Rios erstem Ball-Etablissement sind 700 Cruzeiros hinzublättern. Das ist genau so viel, wie der monatliche Verdienst eines Arbeiters ausmacht und in unsere heutige Währung umgerechnet 70,00 Euro bedeuten..
   Ein Fremdenführer, wie ihn Aeroamerica für die Betreuung ihrer Touristen engagierte, erhielt im Monat 4.000 Cruzeiros,  heute etwa 400,00 Euro.
   Eine Spezialkraft, z.B. als Schleifer beim Juwelier Roditi arbeitend, erhält einen Stundenlohn von 8 Cruzeiros, heute  in Eurowährung  sind das  etwa 0,80 Cent.
   50 Prozent der Bevölkerung ist unter 25 Jahre alt. An den Stränden Copacabana und Ipanema wimmelt es von samthäutigen jungen Schönheiten mit geradezu gazellenhaften Figuren, die Ausschau halten nach dem großen Glück in Gestalt eines reichen Mannes.
 
   Rio ist ein Schmelztiegel der Rassen. Besonders auffallend sind viele blonde Menschen. In südlichen Landstrichen können von 30 Kindern einer Schulklasse 25 Blondschöpfe sitzen.
   Während der Karnevalszeit ist Rio international. In der „Catacombe“, einem bekannten Nachtclub werden die Besucher auf ihre Herkunft angesprochen und mit ihren bekanntesten „Nationalsongs“  begrüßt. So vernehmen die Israelis  „Havannah gila“, die Kubaner Belafontes „Matilda“, Leute aus Jamaika „Island in the sun“ und allen Deutschen wird „In München steht ein Hofbräuhaus“ als Ehrung  entgegen geschnettert, was z. B. von Berlinern mit Übellaunigkeit vermerkt wird.
   Aber immerhin sind  doch 70 Prozent der Karnevalsbesucher Einheimische aus dem brasilianischen Hinterland und anderen Großstädten wie Sao Paulo, Curitiba, Petropolis, Bahia, Brasilia und anderen.
  
1502 – so berichtet die Geschichte – wurde die Bucht von Guanabara von einer portugiesischen Expedition ausgemacht, die Amerigo Vespucci (nach dem Amerika - nicht ganz rechtens - seinen Namen erhielt) anführte. Man hielt sie für einen Fluss, und weil die Entdeckung in den Januar fiel, nannte man das angeschipperte Land Januarfluss = Rio de Janeiro.
   Das Kreuz des Südens und die christliche Missionierung, zu der die Portugiesen sich berufen fühlten, brachten es mit sich, dass die Bezeichnung  >Cruzeiros< für die Landeswährung gewählt wurde. (Sie stand 1977 im Verhältnis 5 : 1 zur D-Mark).
   Als man später einen Schutzheiligen für Rio de Janeiro erkor,  war es St Sebastian, und  so ist auch der offizielle Name der Stadt  >Sao Sebastian do Rio de Janeiro<.
   Rios Hafen wird gekrönt durch die 14 km  lange Brücke – die zweitlängste der Welt – um die  eigentliche City mit dem bevorzugten Wohnvorort Niteroi zu verbinden. Neun Kilometer der Brücke erstrecken sich über Wasser.
   Rios ursprüngliche, im spanischen Stil erbaute Häuser sind längst hypermodernen Großbauten gewichen. Entlang der Avenida de Presidente Vargas  sowie zu Seiten der ersten Hauptstraße,  der Avenida Rio Branco, haben sich Banken und Hotels etabliert und zeigen nachts ihre riesigen erleuchteten Reklameflächen.
  Mit einem nächtlich ankommenden Flugzeug hier zu landen, ist einfach märchenhaft, als würde man von einem edelsteinfunkelnden Tuch aufgefangen.
    Nur die Wohnviertel auf der halben Höhe des Corcovado (704 m) dürfen keine Hochbauten haben. Hier befinden sich die ehemaligen Sommerhäuser reicher Stadtbewohner, die nunmehr jedoch ständig bewohnt sind. Es handelt sich um malerisch im spanischen Stil erbaute Villen. Einst gab es  auch riesige Kaffeeplantagen hier, bis sich die brasilianische Regierung vor etwa 120 Jahren dazu entschloss, den Naturzustand wieder herzustellen. Demzufolge baute man Naturpflanzen und vor allem tropische Gewächse jeder Art an.
   Brasilien hatte bereits mehrere Hauptstädte. Die erste war Bahia. Jedesmal, wenn eine entscheidende politische Wendung im Lande eintrat, wählte man einen neuen Standpunkt für die Regierung.
   1808 traf der portugiesische Hof in Rio ein, um von hier aus den Staatsgeschäften  nachzukommen, nachdem er von Napoleon ins Exil getrieben worden war. Brasilien wurde 1815 Bestandteil des portugiesischen Königreiches. Als 1821 König Joao VI. nach Portugal zurückkehrte,  überließ er seinem Sohn  Dom Pedro die Regentschaft. Bereits ein Jahr später proklamierte Dom Pedro die Unabhängigkeit Brasiliens und wurde zum Kaiser gekrönt.
   Erst nach Beginn der Republik im Jahr 1889 begann Rios eigentliches Wachstum. Noch vor dem  Ersten Weltkrieg ließen die Bürgermeister viele alte Straßen und Häuser zerstören, Hügel abtragen, Buchten zuschütten und legten dafür moderne Prachtstraßen an. Die Seilbahnen auf den Zuckerhut sowie den Corcovado wurden angelegt und in Betrieb genommen. Nach  1930 wuchs der Stadtteil Copacabana zur übervölkerten Südzone heran.
   Heute ist Rio nicht mehr die Hauptstadt Brasiliens, sondern ein Stadtstaat innerhalb des Staates Guanabara.
   Als Präsident Kubitschek 1956 sein Amt antrat, wollte er sich ein unvergessliches Denkmal setzen. Er verwirklichte, was seit langem der Traum der Brasilianer war, er legte den Grundstein für eine neue Hauptstadt. Brasilia wurde so gut wie aus dem Boden gestampft. Auf einer öden, unfruchtbaren Fläche mit dunkelroter Erde legte man einen künstlichen See an, der die in Flugzeugform erdachte neue Stadt ohne Seele BRASILIA umgibt. Architekt der neuen Hauptstadt war Oscar Niemeyer, ein Freund des Präsidenten Kubitschek. Den Grundriss der Stadt jedoch entwarf Niemeyers Freund und Lehrer Lucio Costa.
   Brasilia kostete den Staat schätzungsweise 4 Milliarden Mark – bis jetzt !(1977), denn es ist noch längst nicht fertig. Immerhin ist es seit 1960 als Hauptstadt in Funktion. Es ist die z. Zt. modernste Metropole der Welt, die jedoch schon im Jahr 2000 von einem neu anvisierten brasilianischen Projekt abgelöst werden soll, das für Groß-Rio geplant wird.
   Brasilia ist eine sterile Stadt, wenig beliebt bei den Politikern, die als Wohnsitz immer noch Rio bevorzugen und hier auch weiterhin viele ihrer Geschäfte abwickeln. Der neue Regierungssitz befindet sich 1200 Kilometer von Rio entfernt. Man braucht etwa eine Stunde und 20 Minuten Flugzeit, und in einem Reisebus schafft man die Strecke in rund 22 Stunden.
   Lediglich das angenehm trockene Klima, das krass von der feuchttropischen Hitze Rios absticht, bewegt viele Leute, dort hinzuziehen. Anfang März beginnt die dortige Regenzeit. Sie beinhaltet einen Zustand, der uns ideal erscheinen würde: zwei- bis dreistündiger Regen täglich zwischen Sonnenschein vorher und Sonnenschein danach.
Man ist der Ansicht, dass Brasilia erst nach Jahrzehnten eine „richtige Stadt“ werden wird.
 
                                        _____________________________________
 
EDELSTEINSCHLEIFER   BEI  RODITI
*    RIO DE JANEIRO    *
Hundert Stunden schleife ich Steine….
Sie funkeln und blitzen.
Mir tränen die Augen.
Dann erhalt ich den Lohn.
In meinen schwarzen Händen
seh´ ich die Scheine.
Mir  tränen die Augen.
Ich geh und kauf das billigste Billett
für meinen Hundertstundenlohn,
um beim Karneval in Rio
die gleichen Steine zu sehn,
die ich zum Strahlen gebracht.
Jetzt glitzern sie langweilig
am Hals schöner Frauen.
Meine Kinder schlafen auf Steinen,
auf grauen, von Schweiß dampfenden Steinen.
Warum nur ist meine Frau so hässlich?
Mir tränen die Augen.
<><><> 
© TBZ
_________________________
Hinweis:
Der vorliegende Bericht
entspricht der Situation des Jahres 1977
 
___________________________________
 
 
 
 
 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 20.10.2013. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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