Tilly Boesche-Zacharow

HAIFA - STIMMEN EINER STADT

Es ist durchaus kein Sakrileg: der erste uns bekannte Fabrikant war der Schöpfer. Er stellte das erste Produkt her: die Natur. In das Urgeräusch begannen sich das Gezwitscher der Vögel, Gebrüll, Gemauze, Meckern und sonstige tierische Laute zu mischen, bis dann die letzte, noch vorhandene „Marktlücke“ geschlossen wurde und des Adam menschliche Stimme ertönte. Nach der Verbannung aus dem Paradies blieb dem Menschen keine andere Wahl, als sich ein eigenes Dach über dem Kopf zu schaffen sowie die Möglichkeit einer wirtschaftlichen Existenz.. Er ersann Gerätschaften zum Baumfällen, um Tiere zu erlegen, um auf Rädern voranzueilen und – bis zum heutigen Tage wurde es so immer lauter in der Welt. Je fortschrittlicher sich das irdische Leben gestaltete, umso mehr Krach produzierte es.
   Es gibt regionale und überregionale Geräusche. Bestimmter Lärm wird bis fast in die letzten Winkel zivilisierter Welt in ähnlicher Weise anzutreffen sein.
   Die  Überregionalen erkennt ein Globetrotter, selbst ein unbedarfter Tourist, wenn er sich schlaflos in seinem Hotelbett wälzt und den  unter seinem Fenster hörbar werdenden Lärmpegel  verfolgt. In jeder Großstadt jagen, heulen, hupen, bremsen, kreischen Autos. Das gesamte Verkehrswesen breitet sich auch hörbar aus. Mit kleinen, dem Laien oft kaum spürbaren Nuancen kann es da sogar zu einer Verfeinerung der ganz persönlichen Wahrnehmungsgabe führen. Empfindsamen Leuten gelingt es nur anhand des Gehöres, genau sagen zu können, ob und wo in der Umgebung sich eine Ampel befindet, die den Fahrlärm sozusagen in die Brandung eines aus- und abwellenden Meeres verwandelt, also der Tide nachahmend. In den Pausen, den Staus zwischen jeder neu heranrasenden Autowelle lassen sich die inzwischen zu wenigen Phon geschrumpften menschlichen Stimmen ausmachen, je nach Art und Wesen des gerade besuchten Erdteiles: Marktschreier, Schuhputzerangebote, Kindergeschrei, Troubadourgesänge, Bierseidelgeklapper, Gejammer verhungernder Katzen oder das Absingen von Nationalhymnen rauer, aber  nichtdestoweniger durch Alkohol sentimental gewordener Heimatloser.
   Natürlich gibt es auch ganz und gar regionale, unverwechselbare Geräusche, an die man sich so sehr gewöhnt, dass man – sucht man dann andere Länder auf – sie schrecklich vermisst, bis zu dem Punkt, dass man  ohne  sie nicht schlafen kann, selbst wenn  gerade sie es waren, die einen anfangs nicht zur Ruhe kommen ließen.
   Ich bin in Haifa, und früh morgens erwache ich von Rachenlauten, die ihren arabischen Ursprung nicht verbergen können. Ein lautes Gespräch unter Männern findet unter meinem Fenster  statt. Ohne auf die Uhr zu sehen, weiß ich, dass es halb sechs ist. Da unten hocken  auf der Bordsteinkante vier oder fünf Zwangsfrühaufsteher
    Sie warten auf den imaginären Glockenschlag sechs. Dann schnappen sie sich aus den gemieteten Abstellräumen der Badeanstalt ihre Besen, Schippen und Karren, um das Tagewerk eines Straßenkehrers zu beginnen.
   Nach einem weiteren kurzen Nickerchen erwache ich eine Stunde später, wieder ohne mich durch einen Blick zur Uhr vergewissern zu müssen – durch das rhythmische Sch-sch! Sch-sch! des sich Stufe um Stufe hinter dem Haus herabfächelnden Besens. Das Geklapper rollender Büchsen, denen der fleißige Besen  zum Tanz über die Stairs verhilft,  das Geschepper leerer Flaschen, das Geraschel kleiner und großer Plastiksäckchen beweist auch ohne einen Blick durchs Fenster: in der unmittelbaren Nähe hat eine Festlichkeit stattgefunden. Nun ist mir auch die Ursache der nachts immer wieder hörbar gewordenen Musik klar. Oder kann es sein, dass jemand nächtlicherweise Altutensilien aus seinem Haushalt entfernte?.  Das allerdings völlig lautlos, denn meine Ohren haben  nichts mitbekommen.
    In geheimen Nachtstunden müsste das ohnehin nicht  geschehen. Die tüchtige Müllabfuhr unserer Stadt nimmt täglich aufs Neue  den Kampf gegen die Drachen der Schuttberge beziehungsweise gegen ihre Verursacher auf. Abends im Straßenlampenschein, wenn sich der Hauptverkehr beruhigt, frühestens aber gegen halb neun und spätestens um halb zwölf rollt sie langsam – dafür umso geräuschvoller – durch die Straßen und nimmt mit, was sich an einem langen Tag in einer großen Stadt wegwerfen und ausrangieren lässt.

   Im allgemeinen ist es zwischen ein Uhr nachts und kurz nach fünf Uhr morgens recht still. Ab und an kommt zwar ein Riesentruck vorbei. Er nähert sich von Downtown, kommt auf den Hadar zu, an dessen erstem Hochstreben ich mein  Zuhause habe. Es fiel mir anfangs schwer, das anschwellende Geräusch nicht mit dem Herannahen einer im Flug befindlichen Bombe zu verwechseln, die meinen „Turm“ als Ziel hatte.
    Erst nachdem ich mehrmals im Bett saß, mit zitternden Nerven und voll der Spannung, ob die zweifellos erfolgende Detonation das Haus zusammenstürzen lassen würde, ließ ich mich durch das wieder abebbende und  spätestens nach der Chausseekehre in der Stille verlierende Tosen und Brausen davon überzeugen, dass sich dahinter kein neuer Krieg verbärge, sondern lediglich um einen der Nachschubtransporter für Supersolim auf dem Carmel handele.
   Sonst ruht der Verkehr nachts so gut wie ganz. Die Israelis sind fleißige Menschen, aber ein paar Stunden Schlaf brauchen auch sie, um fit zu bleiben. Die wenigen Spät- beziehungsweise Frühheimkehrer sind dafür umso lauter zu hören. Im Kontrast zu der fast atemlosen Stille, in der gelegentlich nur ein paar Grillen – der Romantik zu Ehren –zirpen, bewirkt  jeder Automotor einen  das Inferno des  `Jüngsten Tages´ vermutenden Effekt.
   Dagegen wirkt ein tagsüber gleichmäßig seine Phon ausstrahlender und ununterbrochen gleich anhaltender Pegel der Verkehrsgeräuschkulisse geradezu monoton und schaltet sogar sonst beängstigende Knalleffekte aus. Man nimmt sie nämlich kaum wahr.
   Hinein mischen sich Fetzen vom Vortrag eines Vorsängers in dieser oder jener Schul, die es an allen Ecken und Enden gibt. Das  jüdische Jahr  ist gefüllt  mit Festen und Feierlichkeiten, und so müssen immer wieder die dafür notwendigen Gebetsgesänge mit den Schülern eingeübt werden.
   Der Allah preisende Moslem, irgendwo in der Straße hinter meinem Haus an den Treppen, absolviert täglich, wenn über dem Mittelmeer die Sterne verbleichen, sein Morgengebet.
Ein schöner Ritus, die Sonne dankbar zu begrüßen, wenn sie  ihr erstes perlmutternes Rosa in den grauen Himmel einsickern lässt.
  
   Schulstunden und –pausen kann jeder in der Nähe einer Lehranstalt Wohnende genau verfolgen. Das Zeichen für Beginn und Ende des Unterrichtes ist die spieldosenähnlich erklingende Melodie von – man höre und staune! –  meist deutschen Kinderliedern. Ob man sich wohl darüber im Klaren ist, dass z.B. gerade das Lied, das die Schüler zu Aufmerksamkeit und neuer Konzentration antörnen soll, in Deutschland als Schlafmittelchen für „Windelpiraten“ eingesetzt wird, - zum erstenmal vom Komponisten Johannes Brahms genutzt, als  er die Schumann`schen Kinder  babysittete.
   „GUTEN ABEND – GUTE  NACHT,  MIT ROSEN  BEDACHT…!“
 
   In Haifa hat man es mit der guten alten europäischen Musiktradition. Auch der Mann auf dem die Straßen  (ebenso wie in Tel Aviv) durchkreuzenden Speiseeiswagen posaunt durch einen Trichter und kündigt sein Erscheinen an, indem er flotte Wiener Walzer aufdröhnen. lässt.
   Unser neuer, backenbärtiger Hausgenosse unter mir hält es mit anderer Musik, der aus Amerika, wo er herstammen soll. Mit ihm eingezogen sind ein elektrisches Klavier oder Harmonium, sowie ein Kontrabaß, von dem man weiß, dass sein dumpfer Schlag vor keiner Wand haltmacht. Wenn Joel schon seine Finger betätigt, warum sollte man denken, dass sein stimmgewaltiger Bariton da nicht auch noch mithält?
   Für den wunderschönen großen Paradiesvogel, der in seinem klitzekleinen Käfig an der Außenwand des Hauses hängt, zwischen rostigen Abwasserrohren,  und sich vor brütender Sonne sowie dem scharfgrellen  Strahl des vom Sportplatz herüberschießenden Scheinwerfers nicht retten könnend, muss es die Hölle sein. Vielleicht träumt er – wenn sich mal eine Ruhe-und Lichtpause ergibt, von den schattenspendenden Palmfächern seines Urwaldes, in dem er aus dem Ei schlüpfte..
   Ich kann ihn von meinem Balkon aus beobachten, sehe, wie sein rotbuntes Köpfchen über der blauen Halskrause hin und her ruckt, als suche er Schutz. Er hängt kopfüber mit den Krallen am Gitterdach und schaut zu mir herauf. Seine gelben Flügelchen versuchen sich zu öffnen – doch zu eng ist der Käfig für die Spannweite. Er ist der einzige Farbfleck vor dem schmutzigen Grau der Hausfassade. Nun kreischt er, stößt spitze, kurze, scharfe Schreie aus.
Jammert er, fleht er um Hilfe? Die Tierliebe des Menschen geht seltsame Wege.
   „Wo sind meine Palmen?“ kreischt er zum Himmel empor, wo doch auch sein Schöpfer sitzt. „Warum gabst du mir Flügel, wenn ich jetzt hier auf einer Stange in enger Vergitterung umkommen muss?“
   Sein Besitzer unterbricht den eigenen Gesang und ruft jemand lachend zu: „Sind wir nicht ein  gutes Paar? Makumbe singt mit mir im Duett. Los, Makumbe, dein Einsatz – pst – pst – pst,- ja, gut, tov – tov meot!“
   Der Vogel kreischt, was das Zeug hält. Wie wohl würde sein Lied – übersetzt – heißen?
          "Ich sehn´ mich nach Schutz und nach Ruhe.
                 Jetzt ist die Zeit, meinen Kopf
                 unter den Flügel  zu stecken,
                  ich möchte erwachen im Morgenlicht
                  und hinauf fliegen, hoch und höher,
                  direkt in den Himmel hinein,
                  und Gott sieht mich und zeigt auf mich.
                   Er ruft mir zu
                   Wie hübsch du aussiehst
                    mit  deinen bunten Farben
                    im Grün des Urwaldes.
                   Da hab ich
                   einen guten Einfall gehabt,
                    als ich dich schuf…!´ “
  Ich höre den letzten Aufschrei vor der folgenden Stille:
                    „Aber nein, - das sagt er nicht,
                    er sieht m ich gar nicht,
                     und – wenn er mich sähe,
                     ich wär´ ihm egal!“
 
 
 „Dieser schreckliche Vogel!“ sagt am anderen Tag ein weiterer Hausbewohner zu mir. „Wie kann man  so etwas aushalten? Ich hab letzte Nacht kein Auge zutun können. Am liebsten würde ich dem Schreihals den Kopf abreissen.“
  
  Zur weiteren Geräuschkulisse Haifas gehört das Geschrei der Kinder, die am Nachmittag auf den Stairs spielen, mitunter sonderbare Spiele.
   Katzen und Hunde, ohnehin meist heimatlos und halb verhungert, werden gejagt, Bäume werden richtiggehend nach und nach abgeholzt,  Fensterscheiben zertrümmert, kleine Feuerchen angefacht, Kartonhaufen zerdröselt, obwohl gerade von einem Reinlichkeitsfanatiker aufgeschichtet. Hier und da schreien Mütter, die sich ihrer Kinder erinnern, aus dem Fenster, vom Balkon - immer dieselben Namenspaletten herunter: Jossi, Abi, Dani, Moni, Rafi, Esti, Judy. Und ich sage die reine Wahrheit, auf jeden Namen folgt mindestens fünfmal die Antwort:: „ Ken,  ima, ani po!“ (Ja, ich bin hier , Mama!)
 
   Ein ähnliches Getöse vollführen die Kinder auf der anderen Seite des Hauses, in der Badeanstalt. Da geht es hoch her im kühlen Element. Aber man spürt den Ausdruck sportlicher Lebensfreude.
   Später am Abend werden die Kindergruppen abgelöst von Erwachsenen. Zuerst findet die Saison  der Männer statt. Noch später, schon in der Nacht, erscheinen die Frauen. (Da sind die männlichen Besucher natürlich bereits gegangen!) Der Lärm, den diese mitunter nur Zweier- oder Dreier-Grüppchen vollführen, wirkt sich schlafstörender aus, als ein ganzer Kindergarten. Aber – der Mensch ist ein Gewohnheitstier…
 
   Der Tag hat vierundzwanzig Stunden. Jede einzelne Stunde hat ihre Geräusche für sich. Wenn man genau darauf achtet, braucht man gar keine Uhr, und dennoch weiß man, was die Stunde geschlagen hat, wie spät es ist.
   Haifa, du und deine Geräusche sind für mich unverwechselbar. Es wird mir schwerfallen,
irgendwann mal ohne euch auskommen zu sollen.
 
 
 
                                                         
                                SCHALOM
                             LE   HIDRAOT
 
 
 
Entnommen aus:  Immigrantin auf Zeit  / Tagebuchblätter    (veröffentlicht)              (C) TBZ

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 21.10.2013. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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