Sieglinde Jörg

Augenblicke

 

 

Bruno war ein einfacher Bauer. Kleinbauer. Milchvieh. Er lebte von der Kundschaft aus dem Dorf. Einem vierhundert Seelen Dorf. Im frühen Morgengrauen, die Luft war noch kalt und nebelträchtig, trieb er das Vieh auf die Weide. Zum Ärger der sehr wenigen Berufstätigen auf der Durchfahrt. Besonders Irene ärgerte sich. Sie musste um 6.30 Uhr in der Bäckerei stehen. Sie hatte Glück, nur für den Verkauf zuständig zu sein. Sie war sehr zufrieden. Uwe, in den sie heimlich verliebt war, musste schon um 3 Uhr nachts in der Backstube stehen. Uwe hatte flinke Hände. Sie hatte ihm einmal zugesehen, wie er in Sekundenschnelle Brezeln in Form geschwungen hatte. Dabei hatte er ihr sogar einige Male in die Augen gesehen, so von der Seite herauf. Da hatte sie sich verliebt. Irene ärgerte sich, weil Bruno genau dann die dünne Absperrschnur über die Straße spannte, wenn sie auf der Durchfahrt war. Sie funkelte ihn fast jeden Morgen mit wütenden Augen an. Es war völlig egal, ob sie fünf Minuten früher oder später losfuhr. Bruno würde im richtigen Moment da sein.

Bruno, einfältig wie er war, sah in Irenes Blick etwas ganz anderes.Seit Juli sah er in diese Augen. Jetzt, wo es morgens noch dunkel war, half ihm sein Gedächtnis. Bruno hatte ein schiefes Gesicht und zu dicke Lippen, die deutlich nach rechts oben verschoben waren. Man sah Bruno seine Einfalt an. Sie stand ihm ins Gesicht geschrieben. Man konnte in seinen Augen sehen, dass sein Hirn nur langsam arbeitete, dass es gern dieselben Pfade ging. Bruno in seinen ausgebeulten Hosen und dem dreckigen Pulli, trieb das Vieh vor sich her, indem er hinter ihm mit seinem Fahrrad, das er mit seiner rechten Hand hielt und balancierte, hin und her ging. Er ging. Irene fragte sich oft, wozu er bloß dieses alte rostige Fahrrad mitnahm. Neben Bruno fuhr der alte Herbert mit einem Traktor aus dem letzten Jahrhundert her. Irene fand es erstaunlich, dass immer dieselben Kühe – mittlerweile konnte auch sie sie auseinanderhalten – einen Abstecher an den Straßenrand machten, um zu grasen. Sie grasten dort so lange, bis alle anderen Kühe an ihnen vorbeigezogen waren. Bruno deutete jedes Mal einen Tritt mit seinen klobigen grünen Gummistiefeln an und die Kühe reagierten, leicht verzögert, aber brav. Das letzte, was Bruno sah, bevor er dann die Absperrung mit einem lässigen Griff seiner abgearbeiteten Wurstfinger löste, erstaunlich flink löste, waren Irenes Augen. Er konnte sie nicht mit Worten beschreiben. Sein Wortschatz war zu gering und sein Gehirn zu wenig beweglich. Er hing in Irenes Augen und dachte an den winzigen See hinter dem Wald. Er dachte an grüne Blätter, die sich darin spiegelten. Es war der glücklichste Moment des Tages für Bruno. Das Bild von Irenes Augen, dem See und den grünen Blättern. Wie programmiert lief er mit seinem Fahrrad hin und her, folgte dem Rindvieh und hörte den Traktor in seinem Ohr vibrieren und knattern.

Irene gab Gas. Sie würde zu spät kommen. Warum hatte Bruno so lange herüber gestarrt? Irene war nicht wohl gewesen. Sie stellte sich vor, was passieren würde, wenn Herbert einmal krank sei und Bruno allein im Morgengrauen das Vieh über die Straße trieb. Bruno sah aus, als hätte er Bärenkräfte. Kräfte, die ins Unermessliche steigen würden, wenn sie mit Brunos Trieb vereint würden. Irene hoffte, Uwe noch anzutreffen. Sie wollte ihm von ihrem Unbehagen erzählen. Uwe sah gut aus, hatte stahlblaue Augen und schön geschwungene Lippen. Er war stattlich, aber das stand ihm. Irene wusste nichts von Uwes Leben außerhalb der Backstube und vertraute ihm ihre Ängste an.

Die Tage waren in den letzten zwei Wochen kühler geworden, zogen in den November hinein. Bruno spannte wie jeden Morgen die Absperrung über die Straße. Er fühlte die Feuchte in den Stiefeln, die er über Nacht vor der Türe hatte stehen lassen. In seinem dumpfen Empfinden machte sich eine ungewohnte Unruhe breit. Heute war etwas anders. Bruno spürte das, obschon er es nicht in Worte fassen konnte. Herbert hätte ihn sowieso nicht verstanden. Der Traktor war zu laut und Herbert zu taub. Irene fehlte, aber ihr Auto stand da. Die Tür war offen. Bruno stutzte. Er bekam eine Gänsehaut. Ein Gefühl, das er nicht kannte. Er hätte nicht sagen können, dass Irene immer erst dann angefahren kam, wenn er das Seil in die Hand nahm. Er hätte nicht sagen können, dass Irene sicherlich nicht angehalten hätte, wenn das Seil noch nicht gespannt war. Er spürte, dass er die Kühe und Herbert im Stich lassen musste. Er ließ das Fahrrad fallen. Seine Füße trugen ihn zum See hinter dem Wald. Viele Schritte, die er mehr rannte als lief, die beschwerlich in den feuchten Stiefeln waren, da die Socken längst herunter gerutscht waren. Sie führten ihn zu Irene, die halb nackt und verdreht am Ufer lag. Bruno zitterte. Noch nie in seinem Leben hatte er gezittert, nicht einmal, als er die erste Totgeburt erlebt hatte. Es war seine Lieblingskuh gewesen, in deren Augen er eine Trauer gesehen hatte, die ihn ins Herz getroffen hatte. Noch nie hatte er eine echte Frau so gesehen. Bruno gab unverständliche Laute von sich. Er deckte Irene mit Klamottenfetzen zu. Dann trug er sie den langen Weg durch den Novembermorgen. In seinem Kopf Bilder: der graue See ohne Blätter. Irenes Augen so zugedeckt. Im Dickicht sah er in ein Augenpaar, das er noch nie gesehen hatte. Es war hart wie Stahl. Es grub sich in Brunos Gedächtnis.

Endlich kam Hilfe. Und die Polizei. Jeder verdächtigte Bruno. Da war sonst niemand. Er konnte sich nicht angemessen artikulieren. Und Herbert hatte nicht auf Kleinigkeiten geachtet. Seit wann der silbergraue Corsa da stand? Seit wann Bruno auf den Beinen sei? Was Bruno mit Irene zu schaffen habe? Welcher Mann will sie nicht, diese Frau. Wie heißt sie? Irene? Wer will denn keine Frau? Das war alles, was Herbert zu entlocken war. Bruno wurde in Gewahrsam genommen und Irene wachte auf dem Weg ins Krankenhaus wieder auf. Die Sanitäter sahen das Entsetzen in ihrem Blick und fragten sie danach. Augen wie Stahl. Im Dickicht. Das war alles, was Bruno aussagen konnte. Er sah diese Augen und Irene erst beim Prozess wieder. Das war im Frühjahr. Er fühlte sich nicht wohl in dem Saal und war froh, als er am nächsten Morgen mit dem Fahrrad in der Hand das Vieh das erste Mal in diesem Jahr auf die Weide trieb mit dem Bild im Kopf von Irenes Augen, dem See und den grünen Blättern darin. Bruno deutete einen Tritt mit seinen klobigen grünen Gummistiefeln an und die Kühe reagierten, leicht verzögert, aber brav. Die Sonne ging vorsichtig auf. 

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 22.10.2013. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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