Florence Siwak

Die Buchhalterin


 
Anna lauschte genervt auf den Lärm, der aus der Wohnung unter ihr drang.  Er hatte schon wieder die Bässe aufgedreht, die Musik
brachte ihre Fußsohlen zum Vibrieren. Tagsüber trank er sich fast ins Koma. Nein, nicht ins Koma, dann wäre er ja wohl ruhig. Er trank sich in eine streitsüchtige Stimmung. Wenn er dann seine Frau anbrüllte und ihre Erwiderung einforderte, klang dieser Dialog wie das Gebell zweier Hunde. Er war der Kampfhund; sie der weinerliche Pinscher.
Mittags gab es kurz Ruhe; er musste seinen ersten Rausch ausschlafen. Nachmittags ging es dann mit frischer Kraft und neuem Stoff weiter.
Wie oft hatte sie ihn schon gebeten, ihn aufgefordert, sich an die Hausordnung zu halten. Brüllendes Gelächter war die Antwort. Seine in talgiges Fett eingebetteten Augen musterten sie geringschätzig.
Zu alt für Geilheit; zu jung für Respekt schienen sie zu sagen, in der Grauzone eben.
„Such dir eine ordentliche Arbeit; dann musst du nicht zu Hause deinen Arsch breitsitzen“ war seine grobe Antwort gewesen, bevor er ihr die Tür vor der Nase zugeschlagen hatte.
Anna seufzte und strich sich vor dem Spiegel die Haare streng hinter die Ohren. Diese Arbeit, die sie liebte, machte sie schon seit vielen Jahren zu Hause. Und seit einem Jahr in dem kleinen gemütlichen Arbeitszimmer ihrer Wohnung. Kein enges Büro, keine schmalhüftige, großbusige Kollegin, kein prahlerischer Hahn, der sie schikanieren konnte. Sie war ihr eigener Herr, ihre eigene Frau eigentlich. Konnte sich die Arbeit einteilen; war nur ihren Kunden Rechenschaft schuldig, deren Buchführung sie besorgte. Sie hatte inzwischen mit einem Klienten so viel zu tun, dass sie sich nach und nach ganz auf ihn konzentriert hatte und glänzend damit verdiente.
Diesen Monat allerdings würde sie ihn enttäuschen müssen. Schon zwei Nächte war sie nicht zur Ruhe gekommen.
„Ich werde mir ein Hotelzimmer nehmen müssen oder ein Arbeitszimmer außerhalb der Wohnung“ hatte sie ihrem Arbeitgeber mitgeteilt.
„Die anderen Mieter sind alt, schwerhörig oder gehören zur ängstlichen Sorte. Hören Sie nur…“
Sie hielt den Telefonhörer dicht über den Boden. Die Schwingungen teilten sich ihrem Gesprächspartner deutlich mit.
„Gut“ seufzte er. „Nächsten Montag dann. Aber nicht später. Und – es muss doch eine Lösung geben. Ziehen Sie einfach um!“
Sie wollte nicht umziehen; schon wieder. Das war ihre dritte Bleibe in zwei Jahren. Ganz bewusst hatte sie sich für diese helle Wohnung im vierten Stock entschieden. Niemand über ihr!
Nein!
Aber der Himmel selbst hatte ein Einsehen. Drei Tage später klingelte Frau Radaubruder bei ihr. Tränen lagen wie schleimige Schnecken auf den eingefallenen grauen Wangen.
„Überfahren worden ist er. Einfach so, hat nicht mal angehalten“, schluchzte sie.
Anna tröstete sie zwar – wie es sich unter Nachbarn gehörte, hatte aber nicht das Gefühl, dass die Trauer tiefer unter die Haut ging. Im Stillen bedankte sie sich bei dem Fahrer. Es war sowieso ein Wunder, wie der Säufer es immer wieder geschafft hatte, ungeschoren über die Straße zu kommen. Gottlob konnte sie nicht Auto fahren; sie wäre wahrscheinlich selbst in die Versuchung geraten, ihn aufs Korn zu nehmen.
Ein paar Tage lang gingen in der Wohnung unter ihr seine Freunde ein und aus, um zu kondolieren, nahm sie an, aber es gab auch Ruhepausen; herrliche Ruhe, die man förmlich hören konnte. Die Arbeit ging ihr von der Hand wie selten zuvor; sie blühte geradezu auf.
Nach einigen Wochen jedoch, die Urne war kaum in der Erde, hatte sie ein akustisches „déja vu“ Wieder wurde die Musik bis zum Anschlag aufgedreht und die Stimme des Mannes stand der des Verstorbenen nicht nach.
Als sie klingelte, öffnete ihr ein dünnes, eingefallenes Männchen. Halb so schwer wie sein Vorgänger, aber er ließ sie ebenso laut und frech abfahren.
Diesmal durfte sie die Arbeit nicht wieder so lange liegen lassen, schwor sie sich.

Ihr Chef, der Pate, verdiente ihren vollen Einsatz. Er würde auch diesmal wieder für Ruhe sorgen.
 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 30.10.2013. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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