Margit N.
NUR EIN SCHNITT
Gestern in der Frühe sah ich sie, obwohl wir uns schon sehr lange Zeit flüchtig kannten, zum ersten Mal genauer an. In den zurückliegenden Jahren habe ich sie immer nur im Vorbeigehen wahrgenommen und mir weiter keine Gedanken über ihr Aussehen gemacht. Und da wir nur in unregelmäßigen Abständen mal mehr und mal weniger Blickkontakt hatten, machte ich mir auch keine großen Gedanken über sie. Der Mensch ist eben ein Gewohnheitstier. Das übliche „Guten Morgen“ an jedes Mal dieselben Frühaufsteher, die ebenso wie ich auf dem Weg zur Arbeit sind und ein „Guten Abend“ auf dem Weg zurück bezeichnet im Groben auch unsere Beziehung.
Apropos Frühaufsteher: was weiß ich schon von dem hochgewachsenen graumelierten Herrn, der immer schnellen Schrittes und mit einer großen abgenutzten schwarzen Aktentasche an mir vorbei zur Bushaltestelle eilt? Ob er einen Teil seiner Arbeit jeden Tag zum Erledigen mit nach Hause nimmt? Oder ist er von den Anforderungen im Betrieb, die von ihm immer häufiger eine Umstellung und Anpassung an das Arbeiten mit den elektronischen Medien verlangt, überfordert? Hat er etwa zum Aushalten dieser psychischen Überforderung seine tägliche Ration alkoholischer Getränke dabei? Behält er seinen Tagesablauf, aufstehen, frühstücken, Weg zur Bushaltestelle und zurück, wegen „der Leute“ bei, obwohl er seit Monaten in keinem Beschäftigungsverhältnis mehr steht und Arbeitslosengeld bezieht? Lebt er alleine und wenn nicht, weiß seine Frau davon?
Sind die täglichen Herausforderungen an die Frau, die mir morgens mit zwei quengelnden Kleinkindern entgegenkommt zu schwer? Kommt ihr manchmal fast hysterisches gesprochenes „komm endlich“, „lass liegen“, „wir haben keine Zeit“, „nein, du muss jetzt nicht, du kannst im Kindergarten auf die Toilette“ daher, weil zuhause die pflegebedürftige Mutter auf sie wartet? Ist ihr Lebensgefährte während der Woche auswärts auf Montage unterwegs und kommt nur am Wochenende heim? Oder beides gleichzeitig? Würde ein eventueller Arztbesuch mit Neueinstellung des Schilddrüsenmedikamentes nach der Operation ihr hormonelles Gleichgewicht wieder herstellen?
Ich werde von den Schicksalen und Lebensumständen, die hinter diesen beiden und vielen anderen Menschen stehen, nichts erfahren. Außer der Zufall führt die Hand und öffnet die Augen für den Blick hinter die Kulissen – hier in der Realität oder dort in der Symbolik.
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Und er hat bei meiner gestrigen Begegnung Hand geführt. Klar und deutlich konnte ich erkennen, dass sie sehr dünn geworden war. Sie fiel mir diesmal ganz besonders auf, weil keine Morgennebel den Weg und die Straße mit weißgrauen Nestern bedeckten, die Luft klar und frisch, und die Konturen allesamt gut zu erkennen waren. Ich blieb für einige Augenblicke ruhig stehen, schaute sie einige Zeit an und mit ihrer Symbolgestalt löste sie einen neuen Denkprozess aus: Altes, Verwelktes oder Störendes abschneiden, wie es früher die Großmutter mit der Sichel tat, anschließend das Kleingehakte zusammenziehen, binden und dem Feuer übergeben – Entsorgen und Platz für Neues schaffen.
Impuls-
geber
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© Margit N.
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 01.11.2013.
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Lilly Nett ist ein überaus durchschnittlicher Mensch und Lichtjahre davon entfernt, sich selbst bedingungslos zu lieben. Sie fühlt sich zu dick, ihr Mann ist nur die zweite Wahl und grundsätzlich entpuppt sich ihre Supermarktschlange als die längste. Ihr Alltag gleicht der Hölle auf Erden. Lillys Seele schickt ihr beständig Zeichen, doch ihr Ego verhindert vehement, dass Lilly Kontakt zu ihrem inneren Licht findet. Bis ein einschneidendes Erlebnis den Wandel herbeiführt und sie wie Phoenix aus der Asche neu aufersteht: Geliebt, gesehen, vom Leben umarmt.
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