Florence Siwak

Mangelnde Aussicht


 
Helene ging nicht zur Beerdigung; sie mochte Gaby lebendig. Im Sarg wollte sie sich nicht vorstellen.
Danach – am Nachmittag war reges Treiben in der Wohnung gegenüber Gaby und ihr Mann, jetzt ihr Witwer, wohnten im 2. Stock.
Die großen Fenster luden geradezu ein, an dem Leben teilzuhaben. Die drei erwachsenen Kinder kamen oft vorbei und brachten ihre
eigene Familie oder Freunde mit.
Hoffentlich blieb das auch ohne Gaby so, dachte Helene, als sie es sich am Fenster gemütlich machte. Sie kam nur noch selten runter
aus ihrer Wohnung im dritten Stock, aber die Tage mit Gaby – und die Abende, wenn sie grüßend zu ihr hoch winkte und sich auf ihrer roten Couch zusammen rollte und den Fernseher bis in die Nacht laufen ließ, waren ihr Entschädigung.
Zweimal die Woche kam Maja, Helenes Haushaltshilfe, um all das zu tun, was sie nicht mehr selbst erledigen konnte – also fast alles außer
kochen, essen und abwaschen.
Ob Herbert die Wohnung behalten würde? Ängstlich nahm Helene ihr Opernglas zu Hilfe und legte es auf die Fensterbank neben den Teller mit
belegten Schnittchen. Mit verzweifelter Gründlichkeit arbeitete sie sich durch den ansehnlichen Haufen. Schuldbewusst putzte sie immer wieder kleine Krümel ab, die auf ihrem umfangreichen Busen landeten.
Die „Feier“ war früh zu Ende. In Gabys Zimmer konnte sie die älteren Töchter beobachten, die ihrem Vater, der seit mehr als 20 Jahren tot war,
wie aus dem Gesicht geschnitten waren. Robert, der Sohn, der Nachkömmling, ähnelte seinem Vater, Herbert, überhaupt nicht; er sah aus wie seine Mutter, üppig und lustig. Die „Mädchen“ räumten die Schränke leer, beobachtete Helene und dann – sie war schockiert – zogen sie die Vorhänge zu.
Dicht sogar. Noch nie in den letzten Jahren, seit Gaby ihr Extra-Wohnzimmer bezogen hatte, wurden diese Vorhänge zugezogen.
Sogar die Fadengardinen waren immer an den Seiten gerafft, so dass Helene den vollen Durchblick hatte. Und Gaby, die großzügige,
warmherzige Gaby, hatte nichts dagegen. Oft hatten sie sich sogar noch nachts zugewinkt; beide litten unter Schlaflosigkeit.
Entmutigt verließ Helene ihren Platz und schlich zum Kühlschrank. Ein Eis musste her. Das konnte ja heiter werden.
Die Kinder würden bestimmt nicht mehr so oft in ihrem alten Zuhause sein und Herbert? Der hatte schon zu Lebzeiten seiner Frau in seiner
Freizeit nur am Computer im Wohnzimmer gesessen. Da gab es nichts zu sehen.
Seufzend schloss Helene mit diesem Kapitel ab.
Die nächsten Wochen vergingen für sie ohne Aussicht, aussichtslos sogar. Nur Majas Neuigkeiten; ihre erneute Trennung von ihrem
Freund, dem Vater ihrer drei Kinder. Nein, eigentlich war er nur der Erzeuger der letzten beiden.
Schwungvoll berichtete sie beim Bürsten, Fegen, Wischen und Saugen, während Helene ihren umfangreichen Körper vor Kummer noch
vergrößerte, von ihrem Liebsten, den sie nun ohne Ende hasste. Sie ballte die Fäuste und schwor Rache.
Nach einigen Wochen brachte ihre Freundin Carola beim Kaffee dann die Neuigkeit.
„Herbert gibt die Wohnung auf“, vertraute sie ihr an, während sie Helene missbilligend musterte.
„Du bist ja noch schwerer geworden“ kaute sie kopfschüttelnd, während sie wohlgefällig über ihren für eine Siebzigerin flachen Bauch strich
und genüsslich den Löffel ableckte.
„Na, was habe ich sonst denn noch…“ seufzte Helene, um im gleichen Atemzug zu fragen, woher sie denn diese Neuigkeit hätte.
„Von Edelgard Trunk, der Hauswirtin. Kennst du doch; sie wohnt drüben im Hinterhaus, der billigsten Wohnung“ schnaufte sie verächtlich.
„Mal sehen, wer da einzieht“.
 
Das sollten sie bald erfahren.
Drei Wochen später fuhr mit großem Getöse ein Umzugswagen vor. Neugierig lugte Carola ihrer Freundin über die Schulter.
„Ist ja nichts Tolles, was die da ausladen; hätte ich schon auf den Sperrmüll geworfen. Und Kinder scheinen sie auch zu haben.“
„Viele Kinder“ ergänzte sie. „Und ist da nicht deine Putzfrau, die mit ablädt. Jetzt winkt sie sogar hoch“ zischte sie Helene ins Genick,
die freudestrahlend zurück winkte und sofort die Gardinen aufzog.
„Lass das doch“! Carola versuchte, sich wieder hinter der Gardine zu verstecken.
„Nein, müssen wir nicht mehr“ flötete Helene und schob sich im gleichen Atemzug ihren bequemen Stuhl zurück an seinen angestammten Platz.
„Maja hat nichts dagegen; sie hat nichts zu verbergen, sagt sie immer.“
„Wie hat sie bloß von der Trunk die Wohnung bekommen? Die Kinder – und sie ist ja auch nicht gerade diskret. Ziemlich laut sogar – finde ich.“
Carolas Nasenspitze zuckte und sie kniff Helene in den Oberarm.
„Warum nicht?“ zuckte Helene mit den Schultern. „Sie hat ein festes Einkommen, Kindergeld und Alimente…“
und meine Bürgschaft ergänzte sie für sich ganz im Stillen.
Frau Trunk war nur bereit gewesen, Maja als Mieterin zu akzeptieren, als sie – Helene – eine Mietbürgschaft unterschrieben hatte.
Warum nicht? Sie konnte es sich leisten und ihr einziger Verwandter, ein verknöcherter Neffe, war auf ihr Geld nicht angewiesen.
Obwohl er es sicher nicht abgelehnt hätte.
So habe ich zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen, dachte Helene frohgemut. Maja kommt zwei- dreimal die Woche rüber zu mir
und die anderen Tage – Bühne frei.
Goldene Tage und Nächte lagen vor ihr. Auch ihre Haushaltsstütze ging spät, sehr spät schlafen und liebte offene Fenster.
 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 03.11.2013. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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