Ernst Dr. Woll

1946 mit dem Motorrad nach Berlin

Noch in guter Erinnerung habe ich die Erlebnisse einer „Motorradreise“ im Sommer 1946 nach Berlin mit einigen für die Nachkriegszeit typischen Ereignissen. Ich war 15 Jahre alt. Mein 10 Jahre älterer  Cousin war 1945 aus dem Sudetenland nach Gera umgesiedelt worden. Er wollte in Berlin im französischen Sektor in der Botschaft für sich und seine Frau, die aus Saarbrücken stammte, einen legalen Umzug ins Saarland erwirken. Ich hatte noch Schulferien und er nahm mich mit.
Mein Cousin hatte das Motorrad als Gebrauchtfahrzeug gekauft und in den Papieren stand: „Mit Beiwagen.“ Aus Kostengründen verzichtete er auf dieses Zubehör und ließ aus Nachlässigkeit die Fahrzeugzulassung nicht ändern. Wir kamen in Berlin ungehindert in die Westsektoren. Bei der Rückfahrt wurden wir am Übergang zur Ostzone von sowjetischen Soldaten und deutschen Hilfspolizisten kontrolliert. Sie stellten fest, dass der Beiwagen fehlte. Man glaubte, wir hätten diesen  in Westberlin verkauft. Wir wurden getrennt verhört und uns Strafen und Festnahme angedroht. Der sowjetische Offizier, der mich vernahm, ließ den Dolmetscher sagen, wir würden erschossen, wenn sich herausstellte, dass wir Schwarzhändler oder Spione wären. Ich hatte wirklich sehr große Angst und versuchte alle Fragen ganz wahrheitsgemäß zu beantworten. Hinterher machte mir mein Vetter Vorwürfe, denn ich hatte auch ganz offen über den Zweck der Reise berichtet. Deshalb wurden alle seine Taschen durchsucht und man fand die Unterlagen aus der französischen Botschaft; damit kamen Verdachtsmomente hinzu, dass wir Spione wären. Wahrscheinlich schützten uns mein jugendliches Alter und meine Naivität vor weiterer Strafverfolgung; oder man hatte damals noch Verbindungen zu den anderen Besatzungsmächten, jedenfalls wurde während meiner Vernehmung auch viel telefoniert.   Ohne irgendwelche Begründungen durften wir ungefähr nach 3 Stunden unsere Fahrt fortsetzen.
Auf der weiteren Heimfahrt, es ging auf den Abend zu, als kurz vor Leipzig die Motorradkette riss. Wir suchten mehrere Reparaturwerkstätten auf, aber man wollte oder konnte uns nicht helfen. Wir bekamen aber den Hinweis, es auf dem Schwarzmarkt in Leipzig zu versuchen, um Adressen von Handwerkern zu bekommen, die eventuell die Reparatur durchführen könnten. Wir schoben das Fahrzeug ca. 5 km und kamen, als es schon dunkelte, am berüchtigten Schwarzmarkt am Hauptbahnhofsvorplatz an. Wir begaben uns in das Getümmel, hatten aber nur Geld und keine anderen gefragten Tauschobjekte. Auf Anraten von Insidern, die Auskünfte für Geld anboten, kauften wir zunächst amerikanische Zigaretten für 8.- Mark das Stück. Wir fanden dann einen Mann, der uns für zehn Klimmstängel eine Adresse für die Kettenreparatur übergab. Wir vermuteten ein windiges Geschäft, hatten aber keine andere Wahl. Wir waren sehr erleichtert, als am nächsten Tag alles zu unserer Zufriedenheit klappte. Vorher erlebten wir abends noch eine Razzia auf dem Schwarzmarkt. Plötzlich kam Bewegung in die vielen herumstehenden Leute und wir rannten mit dem Menschenstrom in die Nebenstraßen. Ich wurde von einem dort absperrenden Polizisten am Arm festgehalten. Mein Vetter konnte mich wegziehen und wir entgingen einer Festnahme. Dieses Erlebnis hat sich mir tief eingeprägt. Die Angst während der Razzia und vor allem die Gesichter der Individuen, die  Geschäfte machten,  konnte ich lange nicht vergessen. Mir fiel es schwer, nach den Gesten und der Mimik zu unterscheiden: „Wer war Betrüger? – Wer war ehrlich?“ Allein wäre ich völlig verloren gewesen. Die meisten Tauschgeschäfte spielten sich in Häusernischen  ab.  Die Ruinen ringsherum verschärften die gespenstische für mich sehr ängstliche Lage. Während unserer anschließenden Übernachtung auf dem Fußboden in ! der gro& szlig;en Bahnhofsvorhalle verfolgten mich  im Traum diese Bilder. Wir mussten abwechselnd unser Gepäck bewachen, deshalb waren die Schlafperioden nur sehr kurz. Die Bahnhofshalle glich einem Heerlager von Obdachlosen.
Letztlich kamen wir nach 4 Tagen wieder in Gera an und meinem Cousin und Frau gelang es tatsächlich ins Saarland, das damals noch zu Frankreich gehörte, umzusiedeln. Sie konnten sogar ihre bescheidene Wohnungseinrichtung mitnehmen. Mein Vetter eröffnete dort als gelernter Drogist eine Drogerie und baute eine bis heute existente gut fundierte Großhandelsfirma auf.

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