Peter Somma

Allerheiligen

Eigentlich war sie anderes gewohnt, denn ein halbes Leben hatte sie in einer Fünfzimmerwohnung zugebracht, in der sie mit ihrem Mann und den drei Kindern gewohnt hatte. Sie war dort glücklich gewesen, hatte dort ihre Kinder groß gezogen, und als die das Nest verlassen hatten, hatte sie noch eine schöne Zeit mit ihrem Mann dort gehabt. Dann war er gestorben und sie hatte nicht mehr allein in dieser großen Wohnung verbringen wollen, wo sie zu viel an die Zeit mit ihm und ihren Kindern erinnerte und außerdem war ihr die Arbeit zuviel geworden, die so eine große Wohnung erforderte.

Da war sie dann, wenn auch nicht sehr gerne, hierher gezogen, denn sie hatte eingesehen, dass irgendwann die Zeit kommen werde, in der, wenn ihr einmal etwas zustoßen würde, sie nicht mehr allein und ohne Hilfe wohnen werde können, und da hatte sie die Bequemlichkeit ihres Zuhauses, gegen die Betreuung in einem Heim eingetauscht.

Hier, in diesem Heim musste sie sich mit dem kleinen Zimmerchen begnügen, in dem gerade Platz genug war für einen kleinen Tisch, zwei Sessel, einem Schrank, einem schmalen, allzu schmalen Bett und dem Schminktischchen, das sie von daheim mitgenommen hatte.

In der vergangenen Woche hatte sie ihren fünfundachtzigsten Geburtstag in fröhlicher Runde gefeiert, hatte das eine oder andere Gläschen getrunken und sich eigentlich gar nicht so alt gefühlt. Aber jetzt, da sie schon einige Minuten, ihren Kopf auf beide Hände gestützt, vor dem Spiegel ihres kleinen Schminktischchens verbrachte und ihr Antlitz musterte, ließ ihr das Gesicht, das ihr aus dem Spiegel entgegenstarrte, keine Möglichkeit eines Zweifels über ihr Alter. Denn es war verrunzelt wie ein alter Apfel, zahlreiche Furchen und Falten durchzogen die Oberfläche ihrer Haut und das gefiel ihr gar nicht, denn trotz ihres Alters legte sie immer noch großen Wert auf ihr Aussehen und sie dachte: Wo war nur meine Pfirsichhaut hingekommen, wo mein jugendliches Aussehen. Dann richtete sie ihren Blick auf die vielen kleinen Tiegelchen auf dem Schminktischchen, die ihr versprochen hatten, dass ihr Inhalt ihr helfen werde, ihrem Aussehen ewige Jugend zu schenken und ewig schön zu bleiben, und sie murmelte: „Alles nur unnützer Plunder“ und griff doch zu einem der kleinen Gefäße, entnahm ihm mit ihren Fingern ein wenig des Inhalts, rieb die salbige Substanz in ihre Haut ein und überprüfte danach das Ergebnis ihrer Tätigkeit, aber es konnte sie nicht wirklich überzeugen, denn es hatte sich nicht viel geändert, wie sie sich eingestehen musste. Danach versuchte sie noch aus ihren grau gewordenen Haaren, die einmal blond geglänzt hatten, so etwas wie eine Frisur zu formen, humpelte dann die paar Schritte zum Schrank, wobei sie auf den Gehstock verzichtete, den sie sonst immer benützte, denn er war ihr lästig, machte ihr ihre Behinderung bewusst und wann immer es ging verzichtete sie auf ihn. Sie öffnete den Kasten, und musterte die wenigen Kleidungstücke, die sie von zu Hause mitgebracht hatte. Daheim, da hatte sie so viele Klamotten gehabt, dass ihr oft die Auswahl schwer gefallen war, aber hierher hatte sie nur einige, wenige Stücke mitgenommen, die ihr immer besonders gefallen hatten.

Die meisten Damen im Heim bevorzugten graue, dezente Kleidung, aber sie wollte doch noch etwas Bunteres an sich haben, etwas in dem sie sich jünger fühlte, in dem sie ihr Alter vergaß und deshalb wählte sie nach langem Überlegen einen roten Rock und eine bunte Bluse. Die beiden Kleidungsstücke hatte sie gut und gerne schon dreißig Jahre, aber immer noch trug sie sie gerne. Dann verließ sie ihr Zimmerchen und bevor sie den Raum verließ, warf sie noch einen flüchtigen Blick in den Spiegel, verzog ihr Gesicht zu einer Grimasse und meinte nur „Na ja“.

Es war selten, dass ein junger Priester ins Heim kam, um mit den Alten in der Kapelle die Heilige Messe zu feiern, aber heute zu Allerheiligen, war es wieder einmal soweit. Wenn er ins Heim kam, konnte er sich immer über eine rege Beteiligung an seiner Messfeier freuen, denn es kamen dann nicht nur die, die wirklich gläubig waren, sondern auch die, die zwar nicht mehr an Gott glaubten, aber genug Zeit hatten, mit der sie nichts Rechtes anzufangen wussten und auch die kamen, die erst jetzt wieder zu glauben begonnen hatten, da sie an der Schwelle zu einem anderen, dem ewigen Leben standen. Von den alten Damen ließ sich kaum eine die Gelegenheit entgegen, an der Messfeier teilzunehmen, denn sie hatten wenig Gelegenheit jungen Menschen zu begegnen, wenn man von den Schwestern absieht, die sie betreuten, und der junge Priester, den die Kirche immer wieder einmal zu ihnen ins Heim schickte, war ein fescher junger Mann und das war für viele vielleicht Grund genug, seine Gottesdienste zu besuchen und die Kapelle war dann immer bis zum letzten Platz besetzt. Auch sie beeilte sich, soweit es ihr der Gehstock erlaubte, in die Kapelle zu kommen, um noch einen guten Platz zu bekommen. Nur von den Männern im Heim ließen sich nicht allzu viel blicken, denn die bevorzugten da eher den Besuch eines benachbarten Gasthauses.

Heute gepredigte er von den vielen Heiligen, denen dieser Tag gewidmet sei, dass das kein Tag zum trauern sei, vielmehr ein Tag der Zuversicht und der Freude. Er sprach davon, dass die Heiligen uns als Beispiel gegeben seien, und dass sie für uns ein gutes Wort einlegen konnten bei Gott, wenn wir sie darum bäten. Er sagte auch, dass auch heute Heilige unter den Lebenden seien, von denen niemand wusste, ja dass auch unter ihnen viele sein könnten, die dereinst als Heilige ins Himmelreich heimkehren würden.

Sie hatte es nicht so eilig mit der Heimkehr ins Himmelreich, war es ihr da durch den Kopf gegangen, denn, wenn sie auch ihr alter Körper von Zeit zu Zeit arg quälte, so lebte sie doch noch ganz gerne. Und wenn auch nicht alles perfekt war auf dieser Erde, so gefiele es ihr hier viel zu sehr, um schon Abschied zu nehmen von all dem Schönen, an dem sie sich immer noch erfreute. Freilich, dachte sie, dass es bei ihr für ein zukünftiges Sein als Heilige wohl nicht reichen werde, da sie, obwohl sie sich stets redlich bemüht hatte, als anständiger Mensch zu leben, sie doch dem einen oder anderen Laster gefrönt, dass sie in ihrer Jugend die Liebe mit den jungen Männern wohl zu sehr genossen, und dass sie keine Gelegenheit ausgelassen hatte, sich an der Liebe zu erfreuen.

Aber sicher war sie nicht die einzige, der solche Erinnerungen durch den Kopf gingen, denn bestimmt wanderte die Phantasie auch bei so mancher älteren Dame in vergangene Zeiten zurück, in denen sich auch um sie junge Männer gerissen hatten und sie vergaßen ganz, sich auf den Gottesdienst zu konzentrieren.

Nach der Messe ging es dann in den Aufenthaltsraum zum Mittagessen. Sie unterhielt sich ein wenig mit ihren Tischgenossen und zog sich danach in ihr Zimmer zu einem Mittagsschläfchen zurück. Als sie erwachte, hatte sich der Hochnebel, der den Vormittag grau erscheinen hat lassen, verzogen und hatte einer spätherbstlichen Sonne Platz gemacht, die mit ihren Strahlen, die langsam sterbende Natur noch einmal wärmte. Obwohl sie sich schwer tat mit dem Gehen, litt es sie nicht zu Hause und sie wanderte langsam durch den herbstlichen Park.

Überall begegneten ihr junge Leute, die Hand in Hand durch die Wege schlenderten, und sichtlich die wärmenden Sonnenstrahlen genossen und einige Verliebte gingen umschlungen und küssten sich innig. Sie blickte ihnen nach und erinnerte sich an die Zeiten als sie selbst noch jung und schön gewesen war, in denen auch sie am Arm junger Männer gegangen war und auf ihrem alten Gesicht zeigte sich ein kleines Lächeln. Ohne es zu wollen, strich sie sich eine Locke aus ihrem Gesicht, die sich aus der Frisur gelöst hatte und sie spürte die Runzeln, die ihr Gesicht verunstalteten. Da wanderten wieder ihre Gedanken in die Vergangenheit zurück, dabei hätte sie so gerne auch noch Pläne für eine Zukunft gewälzt. Aber wie viel Zukunft hatte sie denn noch, für die es Sinn machte, noch Pläne zu schmieden?

Als sie am Abend mit den anderen Heiminsassen den Film im Fernsehen sehen wollte, merkte sie, dass sie der Spaziergang durch den herbstlichen Park doch mehr angestrengt und müde gemacht hatte, als sie gedacht hatte, denn sie konnte nur mühsam der Romanze folgen, die sie gerne gesehen hätte. Immer wieder fielen ihr ihre Augen zu, und nur dann und wann riss sie der eine oder andere laute Ton wieder aus ihrem Schlaf und es dauerte nicht lange und sie war wieder eingeschlafen. Schließlich entschloss sie sich, da sie das Geschehen am Schirm ja doch nicht mehr beobachten konnte, ihr Zimmer aufzusuchen und schlafen zu gehen.

Nachdem sie sich mit Mühe entkleidet, und ihr Nachtgewand angelegt hatte, fiel sie müde ins Bett und schlief sofort ein. Nichts störte mehr ihren ruhigen und tiefen Schlaf in dieser Nacht.

Am nächsten Tag erwarteten ihre drei Tischgenossinnen sie vergebens am Frühstückstisch. Es war schon öfter vorgekommen, dass sie sich verspätet hatte, aber als sie immer noch nicht im Saal erschienen war, als die anderen längst fertig gegessen hatten, machten sie sich doch ein wenig Sorgen und baten eine Schwester nach ihr zu sehen. Angstvoll und nichts Gutes ahnend folgten ihr die drei in das Obergeschoß und als sie die Türe zum Zimmer geöffnet hatten, sahen sie sie ruhig in ihrem Bett liegen und auf den ersten Blick hätte man glauben können, dass sie schlafe, aber als die Schwestern näher hin sahen bemerkten sie dass sie verstorben war. Sie musste an etwas Schönes gedacht haben, als sie ganz ruhig schlafend hinüber gegangen war, denn ihr altes Gesicht zierte ein kleines Lächeln.

Dem herrlichen Allerheilgentag war ein trüber Allerseelentag gefolgt. Es rieselte leicht, als man den Sarg durch das Spalier der Mitbewohner aus dem Haus trug. Einige von ihnen, dachten daran, wer wohl der Nächste sein werde, der ihr nachfolgen werde. Andere erinnerteten sich an die Worte des Priesters, dass niemand wisse, wie viele von den Lebenden als Heilige ins Himmelreich heimkehren würden und daran, dass es der Tag Allerheiligen war, an dem sie gestorben war.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 04.11.2013. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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