Selma I. v. D.

Der Schiffbrüchige

Rücksichtslos hauen die Wellen gegen die Brüstung. Schaumend und wütend stürzt die Mauer von Gewalt gegen den Hafenkai. Wird er standhalten? Gegen diese Gewalt der Natur? Der Wind zerrt an meinem Rock, so fest dass ich Angst habe ich stehe gleich nur noch in meiner Unterhose vor der Haustür. Im Halbdunkel finde ich meinen Schlüssel und das Schlüsselloch. Endlich bin ich in der sicheren Umgebung meiner Wohnung. So einen Sturm hatten wir lange nicht mehr. Die ganze Wohnung jammert und stöhnt unter der Naturgewalt. Klagend kommt mein Kater Sammy mir entgegen.
"Hallo mein Lieber, wie geht es Dir? Hast Du Angst? Vielleicht hast Du auch nur hunger?“ Ich streichle meinen roten Kater über seinen Kopf. In der Küche mache ich das Licht an und gehe zum Kühlschrank. Sammy krümmt seinen Rücken und geht an meine Beine entlang, bis ich ihn gefüttert habe. Dann geh ich ins Wohnzimmer und stell den Fernseher an. Der Sturm rast nicht nur hier aber sondern durch ganz Europa. Die Fernsehbilder zeigen entwurzelte Bäume, abgeknickt wie Streichhölzer, abgerissene Dächer, Autos die von Deichen und Straßen verweht sind. Die Deichen werden streng überwacht. Das sind Maßnahmen die sehr notwendig sind in einem Land wie unseres. Zweidrittel befindet sich immerhin unter dem Meeresspiegel.
 
Mit einem eleganten Sprung landet Sammy auf der Couch. Über die Rücklehne geht er zur Mitte der Couch. Gleich wird er runterrutschen und sich auf meinen Bauch hinlegen. Heute, vor genau einem Jahr habe ich ihn am Strand gefunden. An dem Tag raste genau so einen Sturm übers Land wie heute. Vor der Küste war nachts ein Schiff untergegangen. Als ich am nächsten Morgen ans Strand gegangen bin lag der ganze Strand voll mit Teilen der Fracht: Taschen, Flaschen, Shampoo, Fahrradteile. Der Himmel war so blau, bemalt mit weissen Wolken. Es sah aus wie ein Gemälde. Sammy fand ich an diesem Tag mehr tod als lebendig. Er hatte sich festgeklammert an einem Stück Holz. Nachdem ich ihn mit nach Hause genommen hatte, erholte er sich rasch. Sammy trug ein Halsband mit einem Röhrchen daran, das sich sehr schwierig öffnen ließ. Als ich es dann schließlich geöffnet hatte, befand sich ein Zettel drin der kaum zu lesen war. Nachdem ich mir viel Mühe gegeben hatte, konnte ich es endlich entziffern:
„Mein Name ist Sammy, wenn du mich so nennst, dann werde ich dir gehorchen. Versorgst du mich, dann werde ich dich belohnen. Nimmst du mich liebevoll auf in deiner Wohnung, dann werde ich dir eines Tages mein wahres Gesicht zeigen.“
Und so geschah es, dass ich ihn Sammy nannte. Ich habe ihn gehegt und gepflegt bis er wieder ein grosser und gesunder Kater war. Sammy hat außergewöhnlich grüne Augen: sein linkes Auge ist ganz hell und hat viele goldfarbige Fleckchen. Sein rechtes Auge ist dunkel grün. Wenn ich tagsüber durch die Dünen spazieren gehe, dann spaziert Sammy oft ein Stück mit mir mit. Manchmal sehe ich ihn eine ganze Weile nicht, aber immer taucht er wieder auf. Es ist als ob er mich beobachtet. Nein! Es ist eher als ob er mich beschützt!
"Komm Sammy, wir gehen ab ins Bett, schlafen.“ Wenn er das Wort "Bett“ hört dann öffnet er seine Augen und dehnt sich. Der Wind zerrt noch immer an der Wohnung. Die Bäume stöhnen. Sie werden noch immer gequält von dem Sturm.
Auf der Kommode in meinem Schlafzimmer befindet sich meine Sammlung Schätze. Schätze die das Meer ausgespuckt hat: Muscheln, Seesterne, Seepferdchen, sogar das Stück Holz worauf ich Sammy damals gefunden habe. Einmal habe ich sogar eine Flasche mit einem Zettel drin gefunden. Der Text war leider nicht mehr zu lesen. Schade! Wer weiß welchen Prinz ich hätte retten können!
 
Ich weiss nicht mehr wie lange ich geschlafen habe bis ich aufwache von meinem Husten. Ein ekliger Rauch prickelt in meinem Hals. Das ganze Zimmer ist voller Rauch. Ich kann keinen Unterschied machen zwischen Wänden, Türen und der Kommode. Mit meiner Hand suche ich Sammy. Er ist nicht mehr da.
"Sammy, wo bist du?“ Keine Antwort.
"Nee, natürlich nicht,“ denke ich ärgerlich. "Blöde Katze.“ Ich springe aus meinem Bett, aber mit einem Schrei beeile ich mich so schnell wie möglich zurück. Der Fussboden ist glühend heiß. Ich krieche bis ans Ende meines Bettes und suche meine Klamotten und Stiefel. Ich krieche auf dem Boden bis zur Tür und öffne sie langsam. Wie ein Geist kommt mir ein heißer Qualm entgegen. Wenn ich die Treppe runtergehe, sehe ich, dass die Flammen schon an dem Treppengeländer lecken. Ich stürze die Treppe runter und versuche die Wohnungstür zu öffnen. Sie ist zu. Logisch, ich schließe ja auch abends immer alles ab. In meiner Panik kann ich den Schlüssel nicht finden. Mit einer Hand taste ich die Wand entlang. Ich muss hier so schnell wie möglich raus. Ins Wohnzimmer angelandet, stolpere ich und stürze zum Boden. Ich stoße meinen Kopf am Tisch. Mir wird es schwindlich. Es rinnt etwas klebriges mein Gesicht entlang. Ich versuche mich aufzurichten. Dann heben mich plötzlich zwei Hände in die Höhe, raus aus der Wohnung in die frische Luft. Jemand legt mich ins nasse Gras. In der Ferne höre ich die Sirene des Feuerwehrs. Zwei grüne Augen schauen mich an und flüstern mir was zu.

Etwas was ich nicht verstehen kann. Mit meinen letzten Kräften klammere ich mich fest an meinem Retter. Ich bitte Ihn zu wiederholen was er gerade gesagt hat. Dann versinke ich in eine endlose Tiefe. Mein Kopf tut weh. Meine Lippen und mein Hals sind stofftrocken. Ich weiß nicht so genau wo ich bin. Jedenfalls nicht in meinem eigenen Schlafzimmer. Meine Sicht ist verschwommen. Am Fußende steht jemand. Es ist eine Frau. Sie trägt ein weißes Kleid. Sie zieht an meine Bettdecke. Wenn sie bemerkt, dass ich wach geworden bin, nähert sie mich und nimmt meine Hand in ihre. Mit ihrer anderen Hand streichelt sie meine Locken aus meinem Gesicht. Genau so habe ich Sammy gestreichelt.
"Sammy,“ denke ich. Langsam erinnere ich mich an vergangene Nacht: der Sturm, das Feuer, wie ich gestolpert bin, wie ich gerettet bin.
"Ich muss jetzt los,“ sag ich.„Ich muss meine Katze Sammy suchen.“
"Das geht jetzt nicht. Legen Sie sich bitte wieder hin,“ sagt die Frau in dem weißen Kleid. „Sie haben sehr viel Glück gehabt. Wenn Ihr Freund Sie nicht aus der brennenden Wohnung gerettet hätte, dann hätten Sie diese Geschichte nicht nacherzählen können.“
"Freund?“ denke ich.
"Welcher Freund?“
"Möchten Sie etwas trinken?“ Ohne auf meine Antwort zu warten schiebt Sie mir eine Plastik Trinktüte in dem Mund. Der Tee fließt wie heilendes Elixier in meinen Mund, findet seinen Weg runter in meinen ausgetrockneten Hals. Um meinen Kopf spüre ich ein grosses Verband. Auch meine rechten Hand und mein rechter Arm sind verbunden. Mit einem tiefen Atemzug lege ich mich wieder in mein weiches Kissen. Alles ist zerstört. Meine ganze Wohnung, mein ganzes Leben.

Es geht mir jeden Tag ein wenig besser. Das einzige worüber ich grübele sind zwei Fragen: Wo ist Sammy und wer hat mich gerettet? In meinen Träumen erlebe ich jedes Mal aufs neue wie mich zwei Hände hochheben. Wie sie mich auf den nassen Rasen hinlegen. Wie zwei grüne Augen mich angucken. Wie die Lippen mir was zuflüstern, etwas was ich nicht verstehen kann. Es kommt mir alles so bekannt vor. Ich weiß aber nicht genau was mir da so bekannt vorkommt. Jedes Mal wenn ich denke, dass ich die Lösung gefunden habe, löst sie sich in Rauch und Nebel auf.
 
Nachdem ich aus dem Krankenhaus entlassen worden bin, wohne ich bei einer Freundin. Heute Morgen habe ich mich zum ersten mal wieder richtig wohl gefühlt. Das schöne Herbstwetter hilft natürlich auch. Ich ziehe meine Jacke und Stiefel an und werde einen Spaziergang machen durch den Dünen. Vielleicht ist Sammy dorthin geflohen. Zwischen dem Trümmern meiner Wohnung hat man keine verbrennte Katze gefunden. Die Platzwunde an meinem Kopf ist fast geheilt. Die Brandwunden an meinem Arm und an meiner Hand werden für immer sichtbar sein. Ich klettern den Dünen hoch, rieche das salzige Meer schon lange bevor ich es sehen kann. Noch ein Moment wird es dauern….aber jedes Mal bringt es mich wieder zum Staunen. Jedes mal raubt sie mir den Atem: die Pracht des Meeres. Ich wundere mich über seine Verschiedenheit in Laune und Farbe. Heute bildet das Meer, zusammen mit dem Himmel, ein Dekor das sich nicht übertreffen lässt. Die Wellen tanzen sanft auf die Kadenz des Windes. Das hohe Gras singt seine Melodie. Welcher Unterschied im Vergleich zu wie das Meer vor ein paar Wochen war! Einmal oben halte ich meinen Schritt, warte einen Moment und geniesse die Aussicht.
 
Touristen gibt es kaum in dieser Jahreszeit. Der Strand streckt sich vor mir aus wie eine Jungfrau. Ganz weit weg, in der Ferne, geht jemand. Es ist aber keine Katze, es geht ja auf zwei Beinen. Die Bewegung und die frische Luft tun mir gut. Ich rutsche die Düne runter und beeile mich bis zur Flutlinie. Ich versuche so nahe an die Wellen zu kommen, ohne dass meine Füssen nass werden. Fasziniert von dem Spiel bemerke ich nicht das die Gestalt aus der Ferne immer näher rann gekommen ist. Seine ganze Körperhaltung kommt mir irgendwie bekannt vor. Ich bin neugierig aber gleichzeitig habe ich Angst für die Konfrontation. Ich kann aber nicht anders als auf Ihn zugehen. Wie ein Magnet zieht er mich an ihm ran. Sein Blick wird immer aufschlussreicher. Nur noch einen Schritt sind wir von einander entfernt. „Hallo Silke, ich habe auf dich gewartet. Dort wo wir uns zum ersten mal getroffen haben, hier am Strand.“ Er nimmt mein Gesicht in seine Händen und streichelt meine Haare. Seine vollen Lippen lachen. Seine Haut ist hell und bedeckt mit ganz vielen feinen rotblonden Haaren. Ich schaue in zwei wunderbare grüne Augen; das eine Auge ist dunkelgrün und das andere ist hellgrün mit goldfarbigen Fleckchen. „Ich bin so froh, dass du mich gefunden hast, Sam.“ Zufrieden und glücklich lege ich meinen Kopf auf seine Schulter und spazieren wir zusammen weiter daein gemeinsames Leben entgegen.
 
Selma van Dijk
Januar 2011
 
 

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 10.11.2013. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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