Werner Kemper

"Mogren"

Anmerkung für die werten Leser: Der folgende Auszug ist eigentlich keine Kurzgeschichte, sondern die Einleitung zu meinem Roman "Mogren." Ich stell' den Text trotzdem hier 'rein, weil es mir einfach ein Bedürfnis ist. Falls der Fortgang der Handlung jemanden interessiert: Email genügt ;-)°                

                                                                                          Intro: Send In The Clowns:

                                                                                                         
                                                                                                               Höhe

 

Das Schreien weckt mich, stört mich aus fötaler Stellung auf. Sogar den Daumen habe ich im Mund. Als ich mich langsam strecke, rinnt es wie Fruchtwasser an mir ab.

Ich öffne die Augen, sehe zunächst vor mir halbmeterhoch graugefleckten Stahl oder Eisen, darauf, wie kleine Aknepusteln, Rost; unsicher um mich tastend setze ich mich auf, mühsam, steif, wie nach Alpträumen, die mir nicht mehr gewärtig und, von den Spinnweben meines Gedächtnisses gleich Morgentau eingefangen, im Nachtdunkel zurückgeblieben sind.

Weit über mir wieder ein einzelner Schrei, der mich neugierig in die Höhe blinzeln lässt.

Gelbe Wolken, winzig-gischtige Regentropfen.

„......me on the ground and you in midair“ klingt ein irgendwo irgendwann gesungenes melodramatisches Lied schwermütig in mir nach. Echos.

Der erste Blick nach oben zieht mich so lange marionettenhaft hoch, bis ich stehe, mich weiter umschauen kann und bemerke, dass ich mich auf einer quadratischen Plattform befinde. Diese schwankt, wirkt aber sicher verankert. Diesbezüglich also kein Grund zur Beunruhigung. Schon mal was.

Vor mir erkenne ich eine dicke Eisenkette. Ich greife intuitiv nach ihr, halte mich fest, lasse meinen Blick an ihr entlang hochwandern. Sie spinnt sich, zusammen mit drei anderen, weit hinauf ins Gelbgrau und scheint irgendwo im Himmel, dort wo die Wolken die Sicht vernebeln, mit ihnen zusammenzulaufen.

„Tolle Perspektive“, denke ich ironisch. Der erste bewusste Gedanke seit dem Aufwachen.

Zurück zur Plattform. In etwa Brusthöhe ist parallel zur Bodeneinfassung eine windige, aus vier etwa 40 Zentimeter breiten, rotweißrot lackierten Brettern bestehende Brüstung angebracht, die möglicherweise als eine Art Schutz gegen unvermitteltes Ausrutschen und Abstürzen gedacht ist.

Abstürzen?

Ich sehe nach unten:

Noch mehr gelber Nebel und eine weitere Kette, die wohl von der Mitte der Plattform in eine nicht erkennbare Unendlichkeit fällt.

Wieder dieses Krächzen aus dem Nichts, nun von der Seite. Heiser, kehlig und trotzdem nicht beunruhigend.

Ich mustere prüfend meinen nackten Körper, der, wie alles hier, vor Nässe trieft. Flüssigkeit rinnt in kleinen Strömen von oben nach unten, von meinen Haaren ins Gesicht, von der Brust zwischen meine Beine und dann hinab zu meinen Füßen. Das Wasser ist nicht unangenehm, es ist warm und stört mich so wenig, dass ich es eigentlich kaum wahrnehme.

Die Absurdität meiner Situation erscheint mir ganz selbstverständlich, so, als wäre ich immer schon hier gewesen. Ich stehe vollkommen unbekleidet auf einer träge schaukelnden, zweimal zwei Schritt großen, rostenden Metallplattform, die irgendwo, weit oben, vielleicht jenseits der alles umfließenden gelben Wolken, festgemacht ist.

Seltsam, all das.

Trotzdem muss ich lachen.

                                                                                                   

                                                                                                     Dimension Drei

Nadeln.

Links. Rechts.

Schatten von Rot, irgendwo in grauen, labyrinthischen Windungen. Rot ist die Farbe der Liebe, die des Blutes.

Weiß über mir, Weiß unter mir. Weiß, hinter und an mir. Weiß ist die Farbe der Jungfräulichkeit und wenn man sie verliert, bleibt doch als Erinnerung das Weiß. Auf Sizilien, nach der Hochzeitsnacht, Rot auf Weißen Decken. Aufbewahrt als Zeichen für Neubeginn, Ende der Unschuld. Warum klagen nur Frauen in alten Büchern über das Ende der Weißen Zeit, warum strebt das Männliche so schnell es geht nach Rot?

Weißes Land, spurenlos verschneit.

Weiß in Moby Dick: Abwesenheit aller Farben, das einzig Böse, das auch auf allen Meeren und mit einem Bein zu jagen es sich lohnt. Weiß ist der Untergang.

Weiß ist die Farbe des Todes, Weiß ist die Farbe der Ärzte, Schwestern, Kranken, Engel, Götter.

Weiß bindet mich ein.

Krankenhäuser riechen Weiß.

Jemand schreit. Laut. Eindringlich. So unmittelbar schmerzvoll, wie es nur Kinder tun, wenn sie das erste Mal Verlust spüren.

Einsamkeit.

Ich schlafe, umhüllt von Weiß, wieder ein.

Versinke tief.


                                                                                                              Krieger

 

„Zug fährt ab!“, hören die Passagiere die überkopf angebrachten Lautsprecher blechern scheppern, während der Intercity die überdachte Halle des Münchner Bahnhofs verlässt und gleich einem voll gefressenen, schmutziggrünen Wurm träge in Richtung Norden zu kriechen beginnt.

Als die Raupe sich aus ihrem Kokon befreit hat, der Zug vor der Halle in immer schnellere Bewegung gerät, die ersten milden Sonnenstrahlen wohlig wärmend ins Abteil dringen, setzt der Mann seine Brille auf und beginnt gähnend in seiner Zeitung zu blättern. Große Bilder, wenig Text. Er liest von „Effe“, „Bobele“, „Sandy“ und sieht nackte Mädchen mit Brüsten wie Melonen. Zeitzeichen der für seinen Kulturkreis typischen, nicht mehr allzu neuen, öffentlichen Erotik.

Es ist Karneval und der Zug ist voller fröhlicher Leute.

Er hört draußen vor seinem Abteil das dumpfe Poltern von klobigen Bierkisten, die geräuschvoll an die Wände knallen, dazu das helle Klackern von Flaschen, das merklich angeheiterte Lachen von Männern und Frauen sowie das schwere Tappen bereits unsicherer Schritte.

Er zieht die Vorhänge zu, hofft, dass ihn keiner stört, weiß aber, dass das auf einer Strecke wie München - Köln kaum möglich sein wird.

„Werden wir ja sehen“, murmelt er widerwillig und rollt sich eine Selbstgedrehte. Raue Hände, an den Fingern Hornhäute vom Waffenzerlegen, Reinigen, Zusammensetzen, vom Löcher graben, vom Festhalten und Zerren an vielen Gurten. Raue Stellen auch an den Fingerspitzen und auf den Handflächen. Starke Hände, auf deren Rücken blaue Adern markant hervorquellen. Soldatenhände, voller Schorf und dicker, brauner Haut.

Er raucht die Zigarette an, als der Schaffner erscheint. Der sagt, dabei forschend in das sonnverbrannte, kantige Gesicht des Mannes sehend, nichts zum Rauchverbot im Abteil, knipst schnell ein Loch in den blassgelben Fahrschein und verabschiedet sich mit einem beinahe verlegenen „gute Fahrt bis Köln!“

„Mpfhh“, brummt der Mann undeutlich zurück und erblickt, die glimmende Zigarette im Mundwinkel, ausdruckslos die am Fenster vorbeigleitenden grauweißen Häuser, die gefurchten, schwererdig-feuchten Felder, die gleichgültig grasenden Kühe und ordentlich ausgerichteten Wälder Deutschlands.

Er nimmt nicht bewusst wahr, was die Welt auf seine Netzhaut wirft, spürt nur den würzig-beißenden Geschmack französischen Tabaks auf seiner Zunge.

Seine grüngrauen Augen leuchten, plötzlich bernsteingelb, flackernd auf. Er denkt an wallende, dunkelrote Haare, an tiefe, kohlschwarze Augen sowie einen grausam dünnen und dennoch sinnlichen, blutroten Mund, der wie eine frisch geschlagene Wunde in einem blassen Gesicht mit hohen Wangenknochen klafft.

„Deine Schätze, meine Schätze“, flüstert er gedankenverloren und presst die schmalen Lippen aufeinander. Er träumt von funkelnden Diamanten auf purpurnen Kissen, von goldenen, mit geheimnisvollen Zeichen gravierten Ringen, von Räumen schimmernd voll gefüllt mit goldenem Zierrat und glänzenden Perlen, von fleischigen, blutroten Rosen in kupfernen Kesseln, von elfenbeinfarbenen, lachsrosa durchzogenen Alabasterthronen, von Porzellan, durchscheinend wie abgezogene Haut, von Rubinen und Amethysten, von blitzenden Zierschilden aus Platin, von silbernen Pistolen, azurblauem Lapislazuli und fein ziselierten, mattweißen römischen Gemmen.

Er sinkt träge nach hinten in die harte Kunstlederpolsterung der Abteilgarnitur und schläft, inmitten trunken lärmender Bajazzos und Vorstadtsirenen, mit weit geöffneten Augen ein.

 

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 11.11.2013. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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