Chiara Fabiano

Der Junge, der niemals lebte

Winter:
Mit schweren Schritten bewege ich mich vorwärts zur Schule. Es ist noch dunkel, und die Kälte lässt meinen Atem gefrieren. Winzig, kleine Schneeflocken fallen nieder auf meine Hände. Ich beobachte, wie sie sich niederlassen und auf meiner gewärmten Hand zerschmelzen. Ich liebe dieses Wetter. Diese frische Luft, die meinen Körper stärkt und neu erblühen lässt. Und wenn ich nachher wieder nach Hause komme, liebe ich es mich vor unseren warmen Kamin, auf den kuscheligen Teppisch zu legen und die Decke anzustarren, bis ich dann langsam einschlafe. Doch bevor es so weit sein wird, habe ich noch viel ertragen zu müssen. Denn ein kompletter Schultag in der Hölle wird mich ertwarten. Ich hasse sie. Sie alle. Und wenn ich daran denke, mich nachher wieder in die Klasse zu setzen, wo sie alle versuchen werden mit mir zu reden und mich dazu zwingen werden aufzuzeigen, möchte ich weinen. Ich will nicht, dass sie mich bemerken. Ich will für mich alleine sein, und mich nicht zwingen müssen etwas zu sein, was ich nicht bin. Doch sie werden es nicht akzeptieren. Sie werden wieder sagen, ich wäre nicht normal. Ich bin auch nicht normal. Und ich werde es auch nie sein. Ich senke meinen Blick hinunter, auf meine, im Schnee versunkenen Stiefel. Wenn ich nachher meine Eltern sehen werde, werde ich ihnen wohl wieder nicht die Wahrheit sagen. Ich will nicht, dass sie sich Sorgen um mich machen. Ich atme noch einmal tief durch, und gehe dann weiter. Ich verlasse die Schnee-Wiese (so nenne ich sie) und gehe auf den Schulhof. Ich bin sonst immer die Erste. Andere hätten Angst, doch ich hatte sie noch nie. Ich mag es alleine zu sein. Doch heute, war ich nicht die Erste. Ich schaue über meine linke Schulter, und sehe einen kleinen Jungen. Auf den Boden starrend, steht er da, und lehnt sich ans Geländer. Erstaunt sehe ich zu ihm herüber. Er rührt sich nicht. An seinen Haaren, sieht man, dass er schon lange hier stehen muss. Ich gehe zu ihm herüber. Zuckend tippe ich ihn an. Keine Reaktion. 
"Hallo? Hörst du mich?", quetsche ich heraus. Der Junge schaut auf. Seine Augen, sind so weiß, wie der Schnee, der seine Haare belagert. Er sieht mich emotionslos an. Dann senkt er wieder seinen Blick.
"Kannst du nicht sprechen?".
"Ich mag es nicht zu sprechen. Ich mag es wenn man mich in ruhe lässt", flüstert er. Seine Stimme ist so leise, und dennoch so eindringlich. Jetzt verspühre ich zum ersten Mal, ein unangenehmes Gefühl, das sich so anfühlt wie Angst. Erschrocken zucke ich in mich, und gehe wieder zurück. Ich habe Angst mich umzudrehen. Und endlich, kommen die ersten meiner Klassenkameraden. Ich schaue trotz meiner Angst noch einmal zurück, doch kein Junge ist da zu sehen. Verwundert gehe ich ins Gebäude.

Ich schaue die ganze Stunde aus dem Fenster, und hoffe den Beweis zu finden, nicht verrückt zu sein. Ich habe diesen Jungen gesehen. Dieser angsterregende, seltsame Junge, mit der eindringlichen Stimme. Und zum ersten Mal, melde ich mich freiwillig.
"Sagen sie, wer ist der Junge, der jeden Morgen dort am Geländer steht?", frage ich meine Lehrerin. Sie scheint zu verwundert zu sein, um zu antworten. Sie weiß, dass ich krank bin. Und dass ich mich das letzte mal gemeldet habe, ist ein Jahr her. So lange, bin ich schon ein Autist. 
"W-welcher Junge?", antwortet sie.
"Na, dieser Neue! Der kleine Junge, der jeden Tag schon zwei Stunden früher hier ist". 
"Ava... dieser Junge, den du meinst, ist vor zwei Monaten bei einem Autounfall gestorben. Er war der Sohn von Mrs. Warrington", sagt sie verdutzt. Es kann nicht sein. Wen habe ich denn dann gesehen? Wer war der Junge, der mir meine Stimme, wiedergab? Eins war jedenfalls klar... ich bin gespannt ob ich ihn noch einmal sehen werde. 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 16.11.2013. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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