Thomas Kleinrensing

Der Knoten im Taschenbuch

„Kaum geboren erlöschen sie, meine Gedanken…“ so bleiern schwer begann das Gedicht das mir am Nachmittag des gestrigen Tages, von einem mir völlig zu Recht unbekannten Autorverfasst, vor die hinter Glas festgehaltenen quellgeröteten Glasmurmeln fiel.  

Auf der Suche nach etwas, von dem ich ahnte das ich es bräuchte, aber ich mir noch nicht so richtig im Klaren war was ich so dringlich vermissen könnte, hielt ich dieses Gedichtheft zwischen den zittrigen Fingern an denen auch der Anlass meiner unsteten Suche klemmte, ein Taschentuch mit Knoten.
Dieses Gefühl, diese Unruhe ermahnt zu sein etwas Wichtiges auf keinen Fall zu vergessen, eben jenes selbige was man unbedingt benötigt, dieses etwas welches einer existentiellen Notwendigkeit nahe kommt,  eben dieses Dingsbums halt, aber nicht wissend was es ist. Warum sonst der Knoten in dem Nasenlumpen? Und man weiß: Auf keinen Fall brauchst du jetzt diese Selbsterfahrungsreime, die sich wie Kaugummi  melancholisch verramscht durch deine Pubertät zogen.

Dieser schwebende Zustand ist nicht nur quälend und zeitraubend, nein, er ist erschütternd. „Du hast dich gestern super den ganzen Abend mit Maik unterhalten“ flötete meine geliebte langjährige Pflegerin, die immer häufiger meinem Gehirn hilft, Mosaiksteinchen für Mosaiksteinchen vergangener Stunden, Tage und Nächte zu einem Gesamtbild zusammen zu setzen. Nicht ohne Selbstzweck und Genugtuung gepaart mit der weisen Voraussicht, dass ich auf die Anfragen von Freunden nach dem Befinden oder nach Inhalten von Gesprächen mancher vorangegangenen Feierlichkeit, sachlich und chronologisch richtig parieren werde. Eine koordinierende und liebende Seele ist da sehr hilfreich.  „Ihr habt euch  den ganzen Abend auf Englisch unterhalten.“ 
„So hab ich das? - Den ganzen Abend? - Und warum?“
„Er ist Engländer.“

Das war die kurze und erleuchtende Antwort, die mich nach dem Zufallen der Wohnungstür grübelnd zurückließ. Unschlüssig und etwas neidisch, der Agilität meiner besseren und wissenden Hälfte wegen, beschloss ich mich auf der Couch, einzig zur Sortierung von im Nebel liegenden Erinnerung, einem ungestörten Dreiergespräch mit mir, meinem ich und dem Taschentuchknoten hinzugeben.
  
Ist das Alter schon da? Oder kommt das erst noch? Und wenn, werde ich überhaupt so alt, dass ich das noch erleben werde? Früher da konnte ich zielgenau steuern an wen und an was ich mich erinnern wollte. Nach schwer durchlebten Nächten  konnte ich mit meinem Willen innerhalb von Sekunden entschieden, was  gespeichert wird und was der sofortigen Vergesslichkeit anheimfallen kann und nach Abwägung aller Eventualitäten auch besser sollte. Selbst ohne Alkoholeinfluss war ich ein Profi in diesem Bereich.
 
Doch diese Willensstärke verschwand. Das kann passieren wenn die Jugend die Tür aufmacht und mit dem Taschentuch zum Abschied nochmal leise winkt. Stehen in den Kirchen deshalb so viel alte Männer und betteln:“ Dein Wille geschehe“? Sollte mein Gehirn, dieses einstige Cheflabor, ohne jegliche Absprache mit mir, gänzlich losgelöst und unkontrolliert Entscheidungen treffen können? Angstvoll überlegte ich ob ich jetzt meinen Willen los bin und er mir noch einen Knoten im Sabberlappen hinterlassen hat? Mediziner können am Gehirn rumschrauben, erkunden die Vorgänge beim Denken und schneiden sich in die Gedankenfabriken, weil die wissen wo dieses Organ zu finden ist, zumindest bei den Meisten unserer Gattung.  Aber wo der Wille im menschlichen Körper steckt, da sucht die Fachwelt immer noch. Selbst Pathologen in kaltgefliesten Räumen konnten keinerlei Hinweise auf die Existenz eines Willensorganes finden. Auch nicht Prof. Karl-Friedrich Boerne. Selbst in den dunkelsten Ecken des Körpers, im Blinddarm zum Beispiel, fanden sich keinerlei Hinweise auf die Existenz eines Organes genannt Willen. Nicht bewiesen ist auch, dass nach Entfernung des Wurmfortsatzes die Probanden willenlose Werkzeuge seien und Staubsauger an Wohnungstüren verkaufen. Mein Wille hätte da sowie so keinen Platz gefunden.
 
Diese Überlegungen waren in keiner Weise beruhigend, schon gar nicht in Bezug auf Erinnerung und Alkoholverträglichkeit. Mit eisernem Willen bin ich immer zusammen, gegen jegliche Widerstände, mit der sich sträubenden anderen Hälfte, die sich am Tresen festgekrallt hatte, aufgestanden. Und habe willentlich noch einen ausschweifenden Spaziergang durch die mir unbekannten Straßen und Industriegebiete unternommen, bis ich nach Stunden meine Heimstatt erreichte.

Leider geschieht es manchmal, dass die Zunge bei derartigen Willensentscheidungen entweder zu schnell oder fransig daherkam und als Lalllappen in Wallung gerät. Meine hatte sogar schon mal Flamenco getanzt, also sich auf fließend Spanisch mit einem gerade eingeflogenen Südkoreaner unterhalten. Außer Buenos Aires, fröhliche Ostern, kann ich aber kein Spanisch. Nach einer halben Stunde wollte er wieder abreisen. Nur durch das beherzte Eingreifen des Personals konnte er überzeugt werden, dass Dresden in Deutschland liegt und er das richtige Ziel erreicht hatte.
 
Auf der Couch sinnierend stand mir der Schweiß in den Handflächen bei dem Gedanken, dass ein langgezogenes „mhmhmh“ immer öfter in die erwartungsvolle Gesichtsfront meines Gegenübers gesendet werden könnte? Und würden ab jetzt sich viele Dinge und Personen nicht nur verändern sondern auch verdingsen? Namen wären immer häufiger nicht nur Schall und Rauch, nein, sondern werden dem Vergessen anheimfallen. Qualvolle Sekunden der Zuordnung zu einem Namen der grinsenden Gesichtsfragmente  dehnen sich als dann zu Minuten. Peinlich wenn ich meinen abendlichen Gesprächspartner am nächsten Tag als “Der Dingsda, der, du weißt schon -- der mit dem Oberlippen-Melanom“ ins Bewusstsein rufen muss.

Hilfreich vielleicht, dass nach einem beschwingt eingepegelten Abend die mit anwesende Gesellschaft einen durch eine Generalamnestie oft in Schutzhaft nehmen wird. Mit den Worten: „Der Tom war gestern gut drauf“ ist alles gesagt und ins schwankende Lot gebracht. Aber ich war immer gut drauf und Herr meiner Erinnerung und meines Willens.

Ich kam immer gut nach Hause, traf mich dort mit mir und sag:“ Schön das du auch schon da bist“. Wir entledigten uns dann gegenseitig stützend der störrischen Bekleidungsstücke und eines nach Außen drängenden pastösen Gefühls. Legten uns  alsdann gemeinsam zu Bett, schnarchten den Rauputz glatt und wachten auch gemeinsam wieder auf. Peinlich wird aber der Moment werden, an dem ich zum ersten Mal meinen eigenen Namen vergessen werde, obwohl der zwar auch zu Hause auf der Couch liegen wird und wieder ein Taschentuch mit verknoteten Initialen in den leicht zitternden Händen hält.

M.C.  auf einem von Flecken erstarrten Nasenflies. - M.C. - Quälende lange Zeit verstrich auf der Suche nach meinem Namen. Endlich - das erlösende Ergebnis. Das waren nicht meine Namenskürzel. Ich richtete mich ruckartig auf, verdrängte den stechenden Fontanellen Schmerz und starrte auf das Kolbenfließ. T.K. das sind meine Initialen. Jene wie die Geflügelteilprodukte aus den surrenden Eissärgen der Discounter. T.K. Dieses verkleckerte Knotentuch war nicht das meinige, zumal ich so einen Fetzen  niemals besessen hatte. Der Engländer. Das musste die Gedächtnisstütze dieses Inselmenschen sein, seine Visitenkarte mit Beifang quasi. Wie hieß der gestrige Inselbewohner noch? C. wie Curtis? Doch nicht der Curtis der in „Manche mögens heiß“ mit der M, der Dings… der Bums… der Monroe da rummachte? Nein, beide hatten schon vor Jahren ihr Zelluloidleben ausgeflimmert.

Mühsam mich erhebend, abwechselnd auf den Balkon und jenes britische `snot rag` starrend, im Gehirn Gedanken über das Herausziehen des Stöpsels auf einer Kanalinsel, wickelte ich den Gedichtband in das Tuch, öffnete die Klappe des Dings und ließ den Deckel zufallen. Auf dem Weg zur, äh - sagte ich jedenfalls zu mir: „ Mein – Sie wissen schon -  geschehe“.
Der Tom 23.11.2013

 

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