Mike Bußmann

Mücke und Elefant



Mücke und Elephant



"Diiiiiiiiiiiiitäääääääär!!!"
Hilde Wutowtzik, geb. Wyzorek, neunundvierzig Jahre alt, Hausfrau, siebenundzwanzig Jahre verheiratet, keine Kinder, keine Brille, acht Goldzähne, wohnhaft in Herne-Eikel, Zeche-Siegfried-Straße 39, 4. Stock links, Altbau, wußte was los war!
Sie würde sterben!
"Diiiiiiiiiiiiiiiiiiitääääääääääääär!!!!"
Dieter Wutowtzik, einundfuffzig Jahre alt, Sachbearbeiter an der Oberfinanzdirektion Bochum, Abt. Gewerbesteuer, Ziffer A-H, siebenundzwanzig Jahre verheiratet, keine Kinder, zwei Brillen, eine alte Brücke unten rechts, wohnhaft in Herne-Eikel,
Zeche-Siegfried-Straße 39, 4. Stock links, Altbau, wußte auch was los war!
Seine Frau würde sterben.
Zumindest glaubte sie das.
"Diiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiitäääääääääääääääääär!!!!!!!!
Pauline Oschewsky, vierundsiebzig Jahre alt, Rentnerin, zweiundzwanzig Jahre verwitwet, sechs Kinder, alle aus dem Haus, ein Hörgerät, fünf Stiftzähne, wohnhaft in Herne-Eikel, Zeche-Siegfried-Straße 39, 3. Stock links, Altbau, wußte nicht was los war!
Sie griff sich an den Kopf, stellte ihr Hörgerät leiser und nahm die Suppe vom Herd.
"Diiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiitääääääääääääääääääääääääär!!!!!!!!!!!!!
Immer wenn Hilde Wutowtzik, geb. Wyzorek, neunundsoweiterundsoweiter glaubte sie müsse jetzt sterben, hörte sich das so an, als ob der ICE Schwabenpfeil (Hamburg - Dortmund - Stuttgart - Konstanz, mit Anschluß nach Mailand und Wien) bei der Durchfahrt durch den Bochumer Hauptbahnhof eine Vollbremsung hinlegte, weil der Signalwart Clemens Bufkow aus Castop-Rauxel..... vergessen hatte, das Durchfahrtsignal auf Grün zu stellen.
"Diiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiitääääääääääääääääääääääääääääääär!!!!!!!!!!!!"
Schweren Herzens ließ Dieter seine Sonntagszeitung sinken. Er war so vertieft in diese vielversprechende Anzeige gewesen, (Erlebnisflugreise nach Bangkok, 999 Euro, all inclusiv, nur für echte Männer), daß er erst jetzt das Pfeiffen und Klingeln in seinen Ohren registrierte. Sein Puls erhöhte sich geringfügig von achtundfuffzig auf sechzig Schläge pro Minute. Schließlich war er doch Beamter und außerdem wußte er schon, was ihn erwartete wenn er jetzt aufblickte:
Seine Hilde!
Leicht übergewichtig (nicht wirklich dick, war Dieters Gedankensplitter, man muß ja was zum Zugreifen haben), im pinkfarbenen Jogginganzug, bunte Lockenwickler im blondgetönten Haar (Neunundvierzigneunzig, incl. Waschen, Legen, Föhnen im Salon Thea grad ums Eck), mit sich schnell ausbreitenden roten Hektikflecken im Gesicht, den Mund geöffnet wie ein weißer Hai auf Beutezug, die Augen weit aufgerissen und den Blick starr auf das Küchenfenster gerichtet, vor dem sich über Nacht eine Spinne ein neues Netz gesponnen hatte und gerade im Begriff war eine ungeschickte Fliege einzuwickeln.

"Diiiiiiiiii..............."
"Schluß jetzt Hilde", sagte Dieter ruhig und der ICE Schwabenpfeil beendete abrupt seine Vollbremsung! Er hob den Kopf und sein Puls reduzierte sich wieder auf achtundfuffzig Schläge pro Minute, denn das was er sah, entsprach exakt seinen Erwartungen.
Mit einer winzigen Ausnahme. Seine Hilde starrte nicht zum Küchenfenster, sondern mit beinahe unmöglich verdrehten Augen auf ihre eigene Nasenspitze. Ihre Mundwinkel zuckten unkontolliert auf und ab und die Hektikflecken hatten ihr Gesicht bereits in einen roten Ballon verwandelt. Dieter setzte seine Lesebrille ab und entdeckte sofort die Ursache für Hildes Todesahnungen.
Eine Mücke hatte sich auf ihrer Nasenspitze niedergelassen und war gerade dabei den Vorrat an Kohlehydraten, Fetten und Eiweiß für die nächsten drei bis vier Tage einzusaugen. Und obwohl er jetzt den Grund für Hildes Todesahnungen kannte und sofort für nicht lebensbedrohlich befunden hatte, fragte er so butterweich wie es ihm irgend möglich war:
"Was ist denn los Hasilein?"
Der Zeigefinger von Hildes rechter Hand begann ebenfalls zu zucken und deutete ungefähr in Richtung Nasenspitze.
"Da! Da! Da!" stammelte Hilde.
"Was ist denn da, da, da, Schatzilein?" säuselte Dieter.
"Ei, ei, ein Monster! Au, au, auf meiner Nase!"
"Das ist kein Monster, Schnuckelchen, das ist nur eine Mücke."
"Dann ist es eine Monstermücke!" kreischte Hilde "und sie hat mich gestochen!"
Ihre blutunterlaufenen Augen waren jetzt fast gänzlich nach innen gedreht und ihre Gesichtsfarbe hatte von rot in ein dunkles Violett gewechselt.
"Tut es denn sehr weh, mein Honigherzhen?"
"Sie saugt Blut!"
"Dazu sind Mücken nun mal auf der Welt."
"Aber sie saugt MEIN Blut!!!"
"Diesen einen Tropfen wirst du schon entbehren können."
"Nein! Sie wird mich aussaugen, vollständig aussaugen! Hörst du? Auussauugeeeeeen!"

Dieter betrachtete es als einen noblen Akt der Hilfe zur Selbsthilfe für Hilde als er seine Lesebrille wieder aufsetzte, den Kopf senkte und sich wieder seiner Lektüre zuwandte, anstatt zu antworten.
Selbständiges Denken! Ein Weg zur eigenständigen Entscheidungsfindung: Erkennen des Problems. Einleiten eines strukturierten Problemlösungsverfahrens. Abwägen von Vorteilen und Risiken der sich ergebenen Möglichkeiten mit den sich daraus ergebenen Konsequenzen. Mentale Simulation der gefundenen Problemlösungsvarianten und physische Umsetzung des wahrscheinlich besten Resultats in die Praxis.
"Sie wird mich aussaugen, Dieter", schluchzte Hilde von Neuem.
`Das mit der Hilfe zur Selbsthilfe hat wohl wieder nicht funktioniert`, dachte Dieter leicht resignierend und mit abklingendem Interesse antwortete er:
"Nu übertreib ma nich meine Liebe."
"Sie wird mich töten! Ich weiß es! Sie wird ihre ganze ätzende Säure in mich reinpumpen und mich dann aussaugen!!! Willst du das? Dieter? Willst du das?"
"Ich bezweifle doch ernsthaft", brummelte Dieter, während er auf Seite drei umblätterte, auf der sich eine vollbusige Schönheit entblätterte, "daß dieses winzige Geschöpf dazu auch nur annähernd in der Lage ist."
"Sie wird mich trotzdem umbringen!!!"
"Wenn du dir so sicher bist", gab Dieter leicht genervt zurück, "dann komm ihr doch einfach zuvor. Schlag sie tot und mach aus der Mücke keinen Elefanten."
"DOCH!!! Ich....

Null-Komma-Zwei-Vier Sekunden später war Hilde W. tot. Zwei- Komma-Sieben Sekunden später gab auch Pauline O. die im Stockwerk darunter gerade ihre Serbische Bohnensuppe löffelte, ihren Löffel ab. Für immer.
Dieter W. machte bei seiner Hausratversicherung einen Schaden in der Höhe von Dreitausendzweihundertsiebenundfuffzigeurosiebenundsechzig geltend, die jedoch aus Mangel an der Glaubwürdigkeit seiner Darstellung nicht zur Auszahlung gelangten.
Gemäß Obduktionsbericht starb Hilde W. an doppeltem Genickbruch, Schädelfraktur, Lungen- und Leberriß, Ruptur der Aorta, Nierenquetschung, akutem Herzversagen und einem abgebrochenen Stuhlbein in der rechten Gesäßhälfte.
Pauline O. erlitt, bis auf das Stuhlbein, ähnlich tötliche Verletzungen.
Laut Polizeiberich traf Dieter W. keinerlei Schuld am Ableben der beiden Frauen, obwohl nicht alle Details geklärt werden konnten.
Vier Tage nach dem tragischen Vorfall fanden die Beisetzungen statt. Am nächsten Tag bedankte sich Dieter W. bei der Friedhofsverwaltung fur die gelungene Trauerfeier und beim Bestatter für die Überlassung der Goldzähne. Er trauerte noch ein wenig um seine Hilde und gab dann ein Inserat in der überregionalen Tageszeitung auf und schrieb einen Brief. Eine Woche später waren die Goldzähne verkauft und Hildes Lebensversicherung wurde auf sein Konto überwiesen.
Dieter W. bezahlte die angefallenen Reperaturrechnungen, ging endlich mal so richtig feudal Essen und buchte für sich die "Erlebnisflugreise nach Bangkok, 999 Euro, Halbpension, nur für Männer".

Tina Lupitsch, einundzwanzig Jahre alt, Auszubildende Reisekauffrau, ledig, keine Kinder, blendend weiße Zähne, wohnhaft in Dortmund, An der Strehle 69, Souterrain, lächelte wissentlich süffisant, als sie sich vorbeugte und Dieter das Ticket über den Tresen schob. Dieter bedankte sich leise, sehr leise. Hätte er lauter gesprochen wäre wahrscheinlich ein achtfaches Echo in den unergründlichen Tiefen zwischen Tina`s Brüsten entstanden.
"Glauben Sie nicht, das in ihrem Alter eine solche Reise zu anstrengend werden könnte Herr...äähhmmm....", sie schielte noch mal auf das Ticket, "Wutowtzik?"
"Nu übertreib ma nich mein junges Fräulein," hauchte Dieter, "ich bin im besten Mannesalter, und außerdem habe ich eine unheimliche Lust endlich mal..."
Dieter beendete seine Erwartungsliste für seinen Urlaub bevor er sie begann. Statt dessen klatschte er kaum fünf zentimeter vor Tina`s Nase in die Hände. Tina fuhr so dermaßen erschrocken zurück, daß sie mit ihrem Bürostuhl rückwärts rollte und erst am Thailandprospektständer mit heftig wogener Weiblichkeit zum stehen kam. Dieter offnete die Hände und Tina erblickte einen fetten roten Klecks, sechs dürre Beine und einen gefährlich aussehenden Stachel.
"Iiiiiiiiiigitttt, ist das eklig!" stöhnte Tina.
"Und gefährlich....na ja, manchmal," sinnierte Dieter.
Dieter wischte sich seine Hände an seiner neuen Denim Jeans ab, schnappte sich das Ticket und ließ eine völlig konsternierte Tina L. bei Erotik-Travel in Dortmund zurück.

Auf seinem Weg zum Flughafen mußte er an seine, jetzt leider verblichene und verbuddelte, Hilde denken. Wenn man es mal so richtig objektiv betrachtete, hatte sie ja noch unverschämtes Glück gehabt! Hätte sie, wieder erwarten, all die scheußlichen Verletzungen überlebt, wäre sie mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit, in ein lebenslängliches komatöses Delirium gefallen, denn um alles in der Welt...
Vor nichts hatte Hilde mehr Angst gehabt, als vor Monstermücken.
Außer vielleicht, vor indischen Elefantenbullen auf der Nasenspitze.


© Mike Bußmann

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 23.11.2013. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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