Felix M. Hummel

Trübe Mächte: Jonathan Aschreuthers letzter Fall - Kapitel IV

Hatte ich die richtige Nummer? Es war Festnetz und nicht ihr Handy. Natürlich, sie war Alfons Sekretärin und sicher kannte sie meine Nummer schon, aber dennoch...
„Du hast dir Zeit gelassen, Jonathan.“, fuhr Sandra mit einem leicht schmollenden Unterton fort. „Ich habe erwartet, dass du mich sofort anrufst.“
Du? Jetzt schon. Sie schien sich wirklich etwas einzubilden, aber warum? Sie war doch mit Alfons zusammen und selbst ohne ihn war sie immer noch so unglaublich schön, dass sie jeden hätte haben können. „Äh Sandra,“, begann ich und stellte fest, dass ich ihren Nachnamen gar nicht kannte. Ich war gezwungen auf Formalitäten zu verzichten. „Sandra du, äh sie... Könntest du bitte Herrn Igelmann ans Telefon hohlen, ich hätte da noch einige Fragen.“ Verdammt, ich musste mich anhören, als spräche ich zu einem Kind.
Sandra seufzte. „Arbeit, nichts als Arbeit. Schade. Er ist gerade aber nicht zu sprechen, vielleicht kann ich dir helfen. Unter einer Bedingung versteht sich.“
„Und die wäre?“
„Du lädst mich heute zum Essen ein.“, kicherte sie, ein dunkles, raues Lachen.
Nummer zwei, dachte ich. Wann hatte ich mein letztes Date? Vor drei Jahren? Nein, einem halben, aber dennoch, das war nicht normal. Ich blickte verstohlen auf das Lederband an meinem Handgelenk. O Oheim, was hast hattest du mir da vererbt? Ich konnte mich nicht erinnern, dass du ein großer Frauenheld gewesen warst. „Ich fürchte Herr Igelmann wäre extrem verärgert darüber und ich würde meinen Auftrag riskieren.“
„Oh, verärgert wäre er.“, stimmte Sandra zu und kicherte erneut. „Aber wir sind nicht zusammen, jedenfalls nicht so wie du es meinst.“
„Er hat mich aber eindringlich gewarnt.“
„Vergiss es. Der Alte ist da ein wenig eigen. Haben wir einen Handel?“
„Na gut, abgemacht.“, sagte ich widerwillig. Ich wollte ja nicht ablehnen, aber ärger mit meinem Auftraggeber zu bekommen war auch nicht unbedingt das Beste. Ich fragte mich, ob richtige Privatdetektive nicht andauern in solche Situationen gerieten. In Filmen taten sie es jedenfalls. „Aber ich weiß sowieso nicht, ob du mir da helfen kannst. Ich habe noch ein paar Fragen zu den Details, wie genau diese... anderen Wesen denn eine solche Quelle der Macht wahrnehmen? Ich meine, wenn ich sie gefunden habe und damit durch die Gegend laufe, möchte ich nicht von jedem ,dahergelaufenen Teufel angefallen werde. Weißt du darüber etwas?“
Sie holte tief Luft. „Viel sogar. Die Anderen und auch entsprechend begabte Menschen können spüren, wenn die Kraft in einem Gebiet ungleich verteilt ist, aber sie können nicht genau sagen wo sie ist, sobald sie direkt davor stehen. Um so näher sie kommen, um so schwieriger ist es, dass sie es klar spüren können. Ob jemand einen magischen Einfluss hat oder nicht, kann jedoch fast jeder spüren, sogar manche Menschen, die ihre Augen gegenüber dieser Welt geschlossen halten.“
„Das verstehe ich leider nicht wirklich, muss ich sagen.“. Ich kratzte mich am Kopf.
„Tut mir Leid, ich bin leider keine Expertin um solche Dinge zu erklären, ich kenne sie nur.“, schloss sie. „Aber wir haben ja noch beim Abendessen Zeit darüber zu reden – wenn dir dann nicht was besseres einfällt.“, fuhr sie in ihrem ursprünglichen, gespielt enttäuschten Tonfall fort. „Oh, ich geb' dich mal an Alfons weiter.“
„Ja, Alfons Igelmann?“, hörte ich die Stimme ihres Chefs am Hörer.
„Ah Hallo Alfons. Ich wollte dich noch ein paar Details fragen.“
„Nicht am Telefon, das habe ich dir doch schon gesagt. Ist es wichtig?“, herrschte er mich an.
„Nein.“, murmelte ich. „Eigentlich nicht mehr.“
„Gut.“ Er seufzte. „Sandra scheint gefallen an dir gefunden zu haben. Kannst du mir sagen, warum?“
„Ich habe keine Ahnung ehrlich gesagt, aber du hast recht. Tut mir Leid.“. Ich versuchte sehr betreten zu klingen und war es eigentlich auch.
„Wirklich, ich sag's dir im Guten: Lass die Finger von ihr. Eigentlich sollte sie sich gar nicht für dich interessieren, aber scheinbar bist du nicht mehr der, den ich kenne. Sag ehrlich: Du hast nicht angefangen irgendetwas mit Magie zu treiben? Auch keine Horoskope, Kartenlegen oder Bleigießen letztes Silvester?“
Ich dachte nach. „Doch Blei gegossen habe ich, auch wenn wir Zinn genommen haben. War ganz lustig. Aber was hat das damit zu tun?“
Alfons antwortete nicht.
„Alfons, ich kann dir nicht sagen, was du wissen willst, wenn du mir nicht sagst, was genau es ist.“, erklärte ich ihm.
„Später vielleicht. Ich nehme an, sie will sich mit dir treffen?“
„Ja, heute Abend.“
„Gut, es ist in Ordnung. Aber erzähl ihr nicht, was du für mich tun sollst und versuch nicht in ihre Schuld zu geraten! Handel nicht mit ihr! Ich kann ihr trauen, du aber nicht. Sie ist nur mir loyal, verstanden?“
„Äh, nein.“
„Ich muss jetzt los.“, blaffte Alfons und legte auf.
Auwei, dachte ich nur. Ich hatte jetzt schon Mist gebaut und irgendetwas ganz offensichtliches übersehen. Da war ich darauf gekommen, dass der Fall wahrscheinlich schon gelöst war und bekam dann etwas nicht mit, was mir nun das Genick brechen konnte.
Ich musste nach Hause. Zwar war ich wieder vollständig wach und fühlte mich, als könnte ich es eine Woche bleiben, aber dennoch wollte ich einfach noch einmal unter die Dusche. Außerdem musste ich die Situation dringen mit irgendjemandem bereden, der keinerlei Kontakt zu irgendetwas Übernatürlichen in Anspruch nahm. Ich war noch keine zwölf Stunden in diese Sache hineingetaucht und schon merkte ich, dass es überall Probleme geben würde. Es war nicht leicht einen Fall, der vielleicht schon aufgeklärt war, zu untersuchen, wenn man nicht mehr richtig wusste, nach welchen Regeln die Welt um einen herum funktionierte. Wenn jetzt jemand ermordet würde – nur als Beispiel, mit so etwas hatte ich noch nie etwas zu tun – konnte ich dann davon ausgehen, dass er tot war und nicht selbst eventuell seinen Mörder verraten könnte. Ich meine, wenn es Exorzisten gab, dann musste es ja sicher auch Totenbeschwörer geben. Oder vielleicht eben nicht. Wenn ich jetzt Alfons gerufen hätte, dann wäre es genauso gut möglich gewesen, dass er schallend zu lachen angefangen hätte, um mir entgegen zu prusten: „Totenbeschwörer? Sei nicht albern! Wen er wartest du als nächstes? Rübezahl?“
Vielleicht gab es aber auch gerade Rübezahl. Warum nicht? Ich hatte keinerlei Anhaltspunkte, die für die Existenz und schon gar nicht die Nichtexistenz von einzelnen mythologischen Gestalten sprachen.
So sah also die Situation aus: Ich war wach, voller Tatendrang und absolut unzufrieden mit meiner momentanen Situation. Ich sprang auf, holte meinen Mantel und nahm die Treppe hinab mit einigen Sätzen. Auf dem Flur wäre ich beinahe mit Ilona zusammengestoßen, die mir verwundert etwas nach rief. Die Ratten draußen konnte mir doch gestohlen bleiben, wenn sie noch da wäre, wären sie schon längst über jemanden hergefallen, der es verdient hätte. Ich hingegen, ich hätte in diesem Moment am liebsten ein paar Scheiben eingeworfen oder ein Hündchen getreten... Na gut, so weit wäre ich vielleicht nicht gegangen.
Fest stand jedoch, dass ich sauer war. Von einem Tag auf den anderen erzählte man mir, dass alles was ich geglaubt und sogar gewusst hatte eine Lüge wäre und die Welt ganz anders funktionierte. Und das Schlimmste war, dass man erwartete, dass ich mich nun auch an diese aus den Haaren gegriffenen Regeln halten sollte. Es war ja nicht so, als hätte ich nur erfahren, dass es irgendwo irgendetwas übernatürliches gab, sondern man setzte mich gleich von Tag eins mitten hinein.
Sofern es stimmte. Vielleicht war ich einfach nur zu leichtgläubig? Dann brauchte ich jedoch erst mal einen Arzt, wegen der verlorenen Stunden. Und mein Knöchel? Es war zwar merkwürdig, dass ich überhaupt keine Schmerzen mehr hatte, aber Magie musste es wohl nicht gerade sein. Am Besten machte ich mir ersteinmal einen Plan, wie ich mit der Situation zu Recht kommen sollte, erledigte diese Sachen, ging dann heute Abend mit Sandra aus und setzte mich morgen an den Fall. Ich hatte so dass dumme Gefühl, dass sich dieser bis dahin in ein flauschiges rosa Wölkchen aufgelöst haben könnte.
Irgendwann konnte ich dem Drang nicht mehr nachgeben. Ich lief etwas abseits der Innenstadt, um die Demonstrationen dort zu umgehen, wo die Vorgärten begannen und stahl zwischen schneematschertrunkenen Pseudobonsai und rostigen Metallskulpturen einen faustgroßen Kiesel durch einen Zaun. Ich hasste dieses Viertel mit seinen Toskanahäusern und Lebenshilfe-Gartendekorationen, seinen Minivans und Jacuzzis. Ein Familienwohnviertel in welchem es keine Familien gab. Aber eigentlich wäre es mir in diesem Moment ganz egal gewesen, wo ich die Scheibe einwarf. Wichtig war nur, dass etwas zu Bruch ging und ich von weiterem Adrenalin und der Gewissheit, etwas getan zu haben, was ich konnte, über die fast zwei Kilometer zu meiner Wohnung getrieben wurde.
Als ich dort ankam, war ich kaum verschwitzt und musste mich immernoch wundern, warum um alles in der Welt ich ein Fenster eingeworfen hatte. Normalerweise brach ich sehr ungern Regeln, da ich immer und überall glaubte erwischt zu werden, aber dieses Mal war ich mir so sicher, dass es keinerlei Konsequenzen haben würde, dass ich die Schultern zuckte und in das Haus eintrat.
Das Mietshaus, in welchem ich meine Wohnung hatte, war in viel schlechterem Zustand als jenes, in welchem mein Büro untergebracht war. Letzteres war ein alter, aber noch schmucker historistischer Bau mit breitem Treppenhaus und Bonerwachsgeruch, welchen man Anfang des vorigen Jahrhunderts in die Altstadt gekeilt hatte. Er war nahe an allem, man kam genauso gut in die Stadt hinein wie aus ihr heraus und theoretisch hätte man dort sogar Laufkundschaft haben können.
Meine Wohnung hingegen war Ende des letzten Jahrhunderts auf der grünen Wiese hochgezogen worden und hatte von Beginn an Löcher im Dach, Schimmel in den Wänden und auch an diversen anderen Stellen Dichtungsschaum nötig. Wenn es irgendwo zog, musste man nur bei den Nachbar fragen, irgendjemand hatte schon gerade erst eine neue Dose aufgemacht. Immer wieder fragte ich mich, welches Missverständnis es gegeben haben musste, dass alle Fenster des Hauses grundsätzlich um zwei Zentimeter schmaler waren, als die für sie in der Hausmauer ausgesparten Öffnungen.
Dennoch mochte ich das Haus im Grunde. Die türkis lackierten Stahlbalkone, die sinnlos spitzen Oberlichter mit ihren weißen Rahmen und die grau gestrichene Eingangstür aus Holz mit dem dreieckigen Fenster ließen mich oft in einem gewissen Sinn von Nostalgie schwelgen. Gedanken an die Zeiten, in welchen Computer noch leicht nach Ozon rochen, wenn man sie einschaltete und das Internet noch Lärm machte. Dies entschädigte dafür, dass zum wöchentlichen Badezimmerputzen auch das Nachziehen der Fugen mit Silikon gehörte.
Heute lenkten mich meine Schritte jedoch nicht geradewegs in meine Wohnung im Dachgeschoss, sondern ich blieb ein Stockwerk früher auf dem Treppenabsatz hängen und klingelte dort an einer Tür. Ich brauchte dringend einen Realitätscheck.
Sobald die Tür geöffnet wurde drängte ich hinein und schob den bärtigen Riesen, der dahinter lauerte einfach zur Seite. Er protestiere murrend, schloss aber dann die Tür und folgte mir ins Wohnzimmer. Zweifelsfrei war dies eine der saubersten Wohneinheiten und auch eine der geräumigsten. Irgendwann hatte man eine Mauer durchbrochen und zwei aneinander grenzende Wohnzimmer miteinander verbunden, so dass die beiden Parteien gezwungen waren in einer Wohngemeinschaft zu leben – mit zwei Küchen und Badezimmern. Niemand wusste, warum das geschehen war und niemand konnte sagen, warum für die beiden Wohnungen nur so viel wie für eine reguläre Einheit verlangt wurde, aber da niemals jemand den Vermieter gesehen hatte, gab es niemanden, dem man diese Frage vernünftigerweise stellen hätte können.
Seit ich in dem Haus wohnte, lebte ihre eine Gruppe aus vier Studenten, von welchen ich nicht wusste, was sie studierten und die niemals einen Abschluss zu machen schienen. Ich hatte ihnen einmal meinen Werkzeugkoffer geliehen, den sie zwar immernoch hatten, aber dennoch war daraus eine Freundschaft geworden, da wir recht ähnlich dachten. Alle waren sie fest in der Realität verankert und glaubten keinen Firlefanz. Paula war sogar in einer Art Skeptiker-Verein tätig, wofür sie alle anderen zu necken pflegten. Vollkommen zu Recht, wie ich meinte.
An manchen Abenden brachte ich ihnen einfach nur die Postwurfsendungen vorbei um mit ihnen gepflegt über Bioenergetische Massagen und Schüssler Salze zu lachen, manchmal erzählte ich auch von dem allgemeinen Wahnsinn meiner Klienten.
So ein Tag war heute, auch wenn es erst Mittag war und ich mir nicht sicher war, ob ich es schaffen würde zu verschweigen, dass mich der Wahnsinn auch schon fast ereilt hatte.
„Grüß dich Jan.“, sagte ich während ich über die Couchlehne sprang. Auf der anderen Seite angekommen fiel mir jedoch ein, dass ich lieber stehen würde. „Ist sonst noch jemand da? Ich habe eine ziemlich üble Geschichte hinter mir. Und vor mir.“
Der Hühne brummte etwas, offenbar sprach er in seinen Kaffeebecher. „Die Schlafen alle noch, Jo. Ist noch nicht Mittag.“
„Sehr vernünftig.“, meinte ich, sprang zurück über das Sofa und schlenderte zur Küche. „Noch Kaffee da? Ich bin seit etwa vier Uhr wach und glaube einen zu brauchen, auch wenn ich hellwach bin.“
„Bedien dich nur. Ich glaube die anderen hast du jetzt auch schon geweckt. Wir müssen dann aber auch bald los, heute ist Exkursion.“ Jan stellte den Kaffeebecher neben mich auf den Küchentresen und kratzte sich bedächtig Zahnpastareste aus dem roten Vollbart, der ihm bis auf die Wampe reichte. Ich hatte ihn noch nie ohne Shirt einer Metal Band gesehen.
Während ich mir Kaffee einschenkte, öffnete sich die Tür links im Wohnzimmer der Nachbarwohnung und Paula, mit verstrubbelten Haaren, in eine kienlanges Hemd, das ebenfalls ein mir unbekanntes Bandlogo zierte, gehüllt.
„Jona, warum machst du so einen Scheißlärm.“, nörgelte sie und brachte ihr Haar noch mehr in Unrodnung. „Es ist noch nicht Mittag.“
„Ich habe einen neuen Fall.“, rief ich triumphierend und nahm einen Schluck.
„Wie auch immer, erzähl ihn leiser. Vielleicht schmeiße ich noch Dome raus, der schnarcht.“, mit diesen Worten verschwand Paula wieder im Schlafzimmer.
„Ich muss jetzt auch dann los.“, beschloss Jan und ließ seine Tasse auf das Spülbecken krachen.
„Herrgott! Wenn ihr mir nicht alle zuhört, dann nehme ich meinen Werkzeugkasten wieder mit und hetze euch nicht nur die Zeugen Jehowas sondern auch die Tagesgötter auf den Hals.“
Gespielt oder nicht, es wirkte. Eine Viertelstunde später saßen wir alle zwischen den beiden Wohnzimmern und ich erzählte detailliert, was für einen Auftrag ich bekommen hatte.
„Also, zusammengefasst hat mich also ein Mensch, den ich zwar immer für wahnsinnig, aber doch realistisch gehalten habe, aber heute Geisterjäger ist, dazu angehalten für ihn nach einem Zaubergegenstand oder Ort zu suchen, dem bereits alle möglichen anderen Zauberer und Zauberwesen nachjagen sollen.“, schloss ich schließlich. Mein Vortrag hatte viel Gelächter geerntet, nachdem ich aber allen klar gemacht hatte, dass ich dies schon allein des Geldes wegen irgendwie ernst nehmen musste, begannen alle nachdenklicher zu werden.
Dominik, der dürre Poet im Kirby's Dreamland-Shirt, der halb auf Paulas Schoß lag, ergriff als erster das Wort. „Und du glaubst wirklich, dass es eine gute Idee ist, diesen Irren zu melken und gleichzeitig etwas mit seiner Sekretärin anzufangen? Das klingt eigentlich nicht nach dir.“
Das hätte gesessen, wenn ich nicht mehr an die Sache geglaubt hätte, als ich hier zugeben wollte. „Ich melke ihn ja gar nicht. Irgendetwas muss an der Sache dran sein. Ich meine, die Esoterikerinnen unter mir sind ja auch noch da.“, antwortete ich.
„So einen Laden bekommt man aber nicht in ein paar Stunden.“, warf Paula ein. „Das müssten schon Topspione oder echte Magier sein, wenn sie sofort nach der ganzen Sache mit so einer Tarnung auftauchen.“
Jan hatte inzwischen angefangen ein Comic zu lesen, während der Bursche, dessen Namen ich mir nicht merken konnte, eingeschlafen war.
„Sicher.“, stimmte ich zu. „Aber da gehst du ja davon aus, dass es wirklich nur ein paar Stunden waren – ich meine, dass ist ja nur das, was mir Igel... mann erzählt hat und könnte genauso Mist wie alles andere sein.“
„Könnte aber auch Zufall sein.“, fuhr Paula fort. „Wie oft hat denn der Laden da unten den Besitzer gewechselt, seitdem du eingezogen bist.“
„Acht Mal.“
Paula breitete triumphierend die Arme aus.
„Und die Ratten?“, fragte ich und biss mir auf die Zunge. Das hatte ich nicht erwähnen wollen.
„Welche Ratten?“
„Ach vergiss es.“, fügte ich an, aber ich wusste, dass sie sich damit nicht zu Frieden geben würden. „Was soll's steht morgen sicher sowieso was in der Zeitung. Ich wäre gerade vor meinem Büro fast von einer riesigen Horde von Ratten überspült worden. Musste auf eine Laterne klettern und dann haben sich die Viecher auch nicht verzogen, bis jemand einen Eimer Wasser drübergeschüttet hat.“
„Was? Wirklich?“, der Namenlose war aufgewacht. „Echt? Ratten? Viele?“
„Ja, schon sicher ein paar Hundert. Irgendwas muss sie aus der Kanalisation getrieben haben.“, erklärte ich. „Hat aber sicher nichts mit dem Fall zu tun. Irgendwie kommt aber alles zusammen.“
„Das ist wirklich seltsam. Dass sie bei der Kälte am Tag rauskommen, noch dazu irgendwo, wo es kaum Nahrung gibt.“
Paula grunzte. „Na klar, kaum geht’s um Ratten wird er wach.“
„Vielleicht hat irgendjemand was in die Kanalisation geschüttet?“, fragte Dome. „Oder ein Rohrbruch? Und wer weiß schon, wie eine Gruppe Ratten, panisch und am Erfrieren reagiert, wenn sie auf einen fliehenden Menschen triff? Ich glaube nicht, dass es dazu ordentliche Verhaltensstudien gibt.“
„Hmm.“, machte ich nachdenklich.
„Ja, aber, wie du schon gesagt hast Jona,“, fügte Paula hinzu. „Das hat mit dem Fall ja nichts zu tun. Falls du überhaupt einen Fall hast. Klingt ja nicht wirklich so.“
Ich seufzte. „Es gibt noch was. Jetzt wird’s vollkommen verrückt: Ich habe gestern einen Brief meines Onkels gefunden, in welchem er mir ein angeblich mächtiges Ding vererbt hat. Ich hab das Ding aus der Garage geholt – glaube ich jedenfalls – da fehlen mir ein paar Stunden Gedächtnis.“
„Hast du gesoffen?“, fragte Jan.
„Nein. Ich meine ja, aber nicht so viel. Ein paar Bier und ein Bisschen Korn“
„Also hätten wir auch das geklärt.“, seufzte Paula. „Gibt es noch etwas?“
„Hmm.“, machte ich erneut. „Nichts was ich mir nicht selbst irgendwie zusammenreimen könnte.“ Das stimmte tatsächlich. Wenn man ein gewaltiges Maß an Selbsttäuschung, Dummheit und Gutgläubigkeit, welche ich zweifellos im Übermaß besaß, dann konnte man wirklich alles irgendwie erklären. Bis auf das Tor. „Danke, jetzt geht’s mir schon wieder viel besser. Ich meine, eigentlich wusste ich's ja. Aber... was mich wirklich noch interessieren würde... ich meine, ich habe ja gesagt, dass ich den Fall übernehme. Ich muss mir also überlegen, nach welchen Regeln gespielt wird.“
„Verstehe ich nicht.“, gähnte Jan.
Dominik rappelte sich auf und setzte sich hin. „Doch, ich schon. Du musst wissen, ob du deinem Auftraggeber sagen kannst, ob... na, sagen wir Rübezahl das Objekt gestohlen hat, oder ob er dich dann auslachen würde.“
„Genau.“, stimmte ich zu. „Aber, wie kommst du genau auf Rübezahl?“
„Nur so. Also ich kann dir gleich sagen, dass das unmöglich ist.“
„Zu wenig Informationen?“, fragte ich.
„Ja, das ist der Punkt. Was hast du bisher? Kannst du das zusammenfassen?“, fragte Dominik und stand auf um sich ebenfalls Kaffee zu holen.
„Soll ich Pizza bestellen?“, fragte Jens unvermittelt. Niemand antwortete, aber alle nickte abwesend.
„Also ich weiß, dass jemand das Tor geöffnet hat indem er die Quelle aktiviert hat, glaube ich. Ich weiß nicht mehr ob Igelmann das so direkt gesagt hat. Dann hat er gemeint, dass alle, die etwas mit Magie zu tun haben wollten, ebenso wie Wesen von der anderen Seite, das Objekt haben wollten. Ich glaube, dass dies etwas damit zu tun haben muss, dass er erwähnt hat, dass Magie immer einen Preis hat. Dieser Preis ist höher als das was man bekommt. Reibung, hat er das genannt.“
„Ein interessantes Konzept, warum sollte die Magie auch davon ausgenommen sein, gilt ja bei allem.“, stimmte Dome zu. „Hilft uns aber nicht weiter. Im Moment jedenfalls.“
„Mist.“, sagte ich und wandte mich an Jens. „Ja, Sardellen-Ananas bitte.“
„Mehr weißt du also nicht?“, fragte Paula. „Etwas wenig, würde ich sagen. Damit kann man kein schlüssiges Konzept erstellen. Wenn du also einen Plan machen willst, dann musst du ihn noch etwas hinhalten.“
„Weißt du welchen Preis dein Kumpel für seine Magie gezahlt hat?“, rief Jens aus der Küche, das Telefon in der Hand.
„Wie meinst du das?“
„Na, er muss doch irgendetwas gezahlt haben, wenn er wirklich Magie benutzen kann.“
„Ach Jens, ich glaube nicht, dass das so gemeint war.“, seufzte ich. Manchmal war es schwierig mit ihm zu sprechen. „Ich denke er meint entweder irgendetwas mystisches, wie dass man ein Stück der Seele verliert oder sein Karma schwächt, oder dass man sich seine Wünsche erfüllt und reich wird, dabei aber den Sinn des Lebens aus den Augen verliert. Ich denke so etwas würde sehr gut auf ihn passen. Ja, ich denke, er denkt, dass er seine Seele verkauft hat, als er reich geworden ist und die Geisteswissenschaft aufgegeben hat.“
„Aber das hat er doch gar nicht wirklich, wenn er Gespenster jagt.“, kicherte Paula.
„Du weißt wie ich das...“, begann ich.
„Nein Jo,“, unterbrach mich Jens. „Da hat Paula recht. Der Kerl wohnt neben einem vorgeschichtlichen Relikt, wovon mancher andere Archäologe nur Träumen kann, er beschäftigt sich mit Zauberei – Volkskundlicher geht es ja überhaupt nicht mehr. Nein, nein, der ist in seinem Element, das ist klar. Da gibt’s 'nen anderen Preis.“
„Hmm.“ Ich blickte zur Decke und dachte nach. „Er sah unheimlich alt aus. Vielleicht hat er Krebs?“
Einen Moment sagte keiner etwas. „Das könnte passen.“, meinte Jens, dieses Mal ohne seinen Kopf wieder aus der Küchentür zu strecken. „Ist ja kein neues Konzept, dass man Magie lernen kann, wenn man todkrank ist. Ich weiß nicht mehr wo das einmal vorgekommen ist.“
„Vielleicht fragst du ihn das nächste Mal einfach, wie es ihm geht? Das wäre ein guter Anfang.“ Paula stand auf. „Wie sieht's mit der Pizza aus?“

Vollgefressen und zufrieden wankte ich um vier Uhr Nachmittags endlich in meine Wohnung. Was aus der Exkursion geworden war wusste ich nicht, vielleicht hatte es sie nie gegeben. Auf jeden Fall war ich mir meiner selbst wieder ein wenig sicherer. Obwohl ich es eigentlich nicht glauben konnte. Ich konnte weder glauben, was ich mir mit der WG zusammengesponnen hatte, noch was mir Alfons versucht hatte zu erzählen. Ich konnte noch nicht einmal glauben, was ich selbst erlebt hatte, weder das Tor, die Ratten, noch den seltsamen Geruch. Alles war falsch und keine Lösung bot auch nur Ansatzweise etwas, das mich befriedigt hätte. Ich konnte allerdings auch nicht nur darauf hoffen, dass ich heute Abend mehr erfahren würde. Erstens würde es noch einige Stunden dauern, zweitens konnte ich mich nicht auf Sandras Informationen verlassen, noch wissen, ob sie mir überhaupt etwas darüber erzählen wollte. Ich meinte zumindest, dass es viele andere Dinge geben würde, über welche ich mich mit ihr lieber unterhalten würde, auch wenn es für den Fall eine
verpasste Chance war. Nein, ich wollte jetzt und auf der Stelle mehr wissen. Immernoch trug ich das Band am Handgelenk und hatte bisher noch keine weiteren besonderen Effekte gespürt.
Meine Wohnung hielt ich sauber und in Ordnung, vor allem nachdem ich den meisten Kram entweder eingelagert oder ins Büro geschafft hatte, inklusive meiner umfangreichen Sammlungen interessanter Gegenstände und der Zeitschriften. Die Einrichtung stammte zum größten Teil noch aus meiner Studentenbude und war nur um eine Couchgarnitur von einem kleineren Möbelmitnahmemarkt und einen Esstisch mit Stühlen ergänzt worden. Im seit der Einlagerungsaktion weitgehend leeren Bücherregal im Wohnzimmer versauerte traurig ein halb ausgepacktes Aquariumsset vor sich hin. Seit fast einem halben Jahr nahm ich mir vor endlich Fische zu kaufen, aber die Entscheidung welche genau war bisher nicht zu treffen gewesen. Wahrscheinlich würde es einfach nur auf ein paar Dutzend Guppys und was man sonst so standardmäßig hatte, hinauslaufen. Sonst gab es noch eine Armee aus Zimmerpflanzen, die einen Großteil der freien Flächen einnahmen, allesamt in verschiedenen Krankheitsstadien oder auch nur von Natur aus hässlich. Es war eines meiner finsteren Geheimnisse, dass ich altersschwache und ungewollte Pflanzen von Nachbarn annahm.
Es beruhigte mich meistens auf das grünlich-braune Gestrüpp zu starren, aber heute wollte ich Taten sehen – aber welche. Ich zog den mittlerweile sehr mitgenommenen Brief meines Onkels aus dem Jackett und überflog ihn ein weiteres Mal.
Licht, das war ein wichtiger Punkt. Das Band sollte nur im Dunkeln gut funktionieren und so diesig und dämmrig es auch war, noch war es Tag. Eigentlich hatte ich mir ja vorgenommen damit vorsichtig zu sein, aber im Moment kam ich einfach nicht weiter. Ich musste nur einige Vorkehrungen treffen. Zu nächst schloss ich die Wohnungstüre ab, legte den Schlüssel in den Kühlschrank, dann stand ich wieder unschlüssig im Zimmer. Ich wusste ja gar nicht, was passieren konnte, wie sollte ich also für Sicherheit sorgen können? Ich konnte es genauso gut lassen.
Das Badezimmer hatte keine Fenster. Wenn ich Finsternis brauchte, dann war dies der beste Ort. Ich atmete einige Male tief durch, bevor ich die Tür hinter mir schloss.

Ich blinzelte ins helle Sonnenlicht. Der Himmel über mir war blau und wolkenlos, nur ein leichter, warmer Lufthauch regte sich. Ich wusste nicht, ob ich mich mehr über das Wetter wundern sollte, oder darüber, dass ich bis auf die Haut durchnässt war und meine Augen und mein Mund von Salz brannten.

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 30.11.2013. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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