Iris Klinge

Spaziergang im Herbst

Die Sonne läßt alle Farben aufleuchten, rot, gelb, braun. Es raschelt bei jedem Schritt, das dürre Laub, ein Geruch steigt auf, der eigenartig die Kindheit, die Jugend zurück bringt.

Er denkt plötzlich an seinen Drachen – gelb war er, mit einem roten Stern darauf und einem prächtigen Schwanz in allen Farben.  Eine Kastanie bricht aus dem gold leuchtenden Laub des Baumes. Auf dem Asphalt springt die grüne Stachelkugel auf und gibt eine glänzende braune Kastanie frei. Wieder diese Erinnerung, diese längst vergessene Atmosphäre. – Wann und wo war das bloß, als wir Kastanien sammelten? Aber es waren ja gar keine Kastanien, es waren gesunde, braun glänzende Pferde für unseren Bauernhof.

Sie war in Ferien bei uns, sie war sechzehn und ich achtzehn. Es war schön, Hand in Hand spazieren zu gehen und aus glänzenden braunen Kastanienpferden einen Bauernhof zu bauen. Sie hatte die Idee gehabt, und er war seltsam begeistert gewesen von dem kindlichen Spiel. Sie hatte auch die Idee gehabt mit dem Drachen, der Drachen, der nachher alles zerstörte. Er hatte ihn ungeschickt gehalten, und der Drachen lag dann zerfetzt am Boden. Eigentlich war ja ein Telegraphenmast schuld gewesen, aber sie sah das nicht ein, es war ja sein Drachen, aber sie heulte und sprach kein Wort mehr mit ihm.

Dann waren die Ferien vorbei, und sie reiste ab. – Wie hieß sie bloß? – Du nach der weißen Wolke ein süßes Heimweh hast…..Ein Gedicht von Hermann Hesse….Elisabeth! Wie konnte ich das nur vergessen? Und plötzlich weiß er, warum er weggegangen ist. In der Tasche dann der Brief „ Ich bin zufällig hier und besuche Dich am Sonntag“. 

Er ging weg, weil er die Erinnerung so behalten wollte, wie sie war. Nicht so ein trübes Nachspiel „Guten Tag, wie geht´s? Zigarette? Kaffee? Iss doch was….Dein Mann? Wie geht es ihm? Schön war es damals….ja, ja die Jugend. Und man denkt, dass der andere alte geworden ist und wundert sich, dass das die „erste Liebe“ war. (Wie ich dieses abgeschmackte Wort hasse, denkt er), und man verabschiedet sich: „Komm wieder einmal vorbei“ – und ist um eine schöne Erinnerung ärmer oder hat zumindest einen schlechten Geschmack auf der Zunge.

Er bleibt stehen, als er merkt, dass er auf Gras läuft, nicht mehr auf Asphalt…
Die Wiese, die Kinder, und oben in der Luft sechs, sieben Drachen, rot, blau, gelb, grün vor dem strahlend klaren Herbsthimmel….Dort hinten der Drachen! Gelb mit rotem Stern und buntem Schwanz. Ein kleiner Junge, der sich damit abmüht, mit dem Drachen, der doch eigentlich ihm gehört, es war sein Drachen.

Der Mann steht neben ihm, redet mit ihm, nimmt ihm die Schnur aus der Hand, und nun fliegt der Drachen….

„Hat Dein Vater den Drachen gebaut?“ fragt der Mann. Der Junge, erst scheu und verwundert, wird langsam zutraulicher und sagt zögernd: „Nein, ich habe keinen Vater mehr, er ist vor drei Jahren verunglückt, aber Mutti kann sehr schöne Drachen bauen,“ fügt er eifrig hinzu,“ nur wollte ich einen roten“.

Sie unterhalten sich weiter über Drachen, und nach einer Stunde sind sie dicke Freunde. Sie haben ihre gemeinsame Liebe zu Briefmarken entdeckt, und der Junge verspricht, ihn einmal zu besuchen. Keiner von den beiden merkt, wie die Zeit vergeht, bis der Junge ruft „Da kommt meine Mutti!“

Der Mann dreht sich um, sieht eine schlanke Gestalt  - „Elisabeth“, sagt er, ein gelber Drachen mit rotem Stern und buntem Schwanz“.  – „Ja“, sagt sie, „und Kastanienpferde“.  – „Dein Junge will aber einen roten Drachen“, sagt er streng. Sie wird rot und schaut hinauf zu dem gelben Drachen, der hoch oben in der Luft steht. „Hol ihn runter“, sagt sie zu dem Jungen, „wir müssen heim“.

„Ich werde ihm einen roten bauen“, sagt er“, und nächstes Jahr einen grünen, und dann einen blauen und später wieder einen gelben für seinen kleinen Bruder.“   „Es ist mein einziges Kind“, sagt sie leise, „sein Vater starb vor drei Jahren“. „Unser einziges Kind bis jetzt“, nimmt ihren Arm und die Hand des Kindes. „Komm, gehen wir heim“.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 01.12.2013. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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