Patrick Rabe

Jeanne

Ich fahre mit dem Fahrrad durch die Nacht. Sie ist warm und ein paar Vögel singen. Ich spüre den Wind an meinen nackten Armen. Oh, wie gern ich lebe! Ich liebe das Leben mit jeder Faser meines Leibes, liebe es in all seiner Schönheit, in all seiner Schrecklichkeit. Nur den Tod liebe ich nicht! Ihn, der uns schon im Leben zu kriegen versucht, ihn, der unser ganzes Miteinander vergiftet! Aber ich schwöre: Jeder, der versucht, mich umzubringen, den werde ich umbringen! Ich habe mir diese Marder nicht zu Tisch geladen! Sie sind gekommen! 27 Mal schon haben sie mich getötet, getötet mit Messern, mit Pistolen, mit Blicken, mit bösen Worten, mit Neid und Eifersucht, mit Hass und Abscheu, mit Verachtung, aber, was noch schlimmer ist: Auch mit Freundlichkeit, mit Schmeichelei, mit Heldenverehrung und das Schlimmste: Mit Liebe! Ja; ist es nicht abscheulich!? Die Menschen nutzen das Göttlichste, was sie haben, das, was das Leben erst lebenswert macht, als Mordinstrument! Aber jetzt ist Schluss! Ich werde mich wehren! Denn ich will leben. Und ich will in den Armen meiner Liebsten liegen, bevor der Tag anbricht!
 
Ich erreiche das Haus in dem ich wohne. Es ist ein Hochhaus, aber ich finde es nicht hässlich. Es steht in einem blühenden Garten voller Pinien und Kiefern, Rhododendren und Goldregen, es atmet den Frühling in seiner urbanen Hässlichkeit, in seiner urbanen Schönheit. Ich parke mein Fahrrad an den Fahrradständern vor dem Haus. Ich bin aufgeladen von der prickelnden Wärme des Mai und von meinem eigenen Adrenalin. Ich weiß jetzt wieder, was ich will, und mir wird keiner mehr in die Quere kommen!
 
Als ich mich umwende und die ersten Stufen der Treppe zum Eingang erklimmen will, stürzt ein Schatten auf mich zu, der hinter einem Rhododendronbusch auf mich gelauert hatte. Es ist mein Feind. Er hasst mich schon lange. Warum, weiß ich nicht. Vielleicht, weil er ein Nichts ist und ich ein Etwas. Aber dafür kann ich nichts. Ich kann nichts für seinen Wahn, in dem er immer wieder jemand anders für seine Lage verantwortlich macht! „Stirb, du Hund!“, zischt er, „Ich tanz auf deinem Grab!“ Und mit eiserner Hand schnürt er mir die Kehle zu. Jetzt wird es ernst. Jetzt heißt es beweisen, was ich mir auf der Fahrt hierher selbst gesagt habe. Während er mich würgt, schaue ich ihm in die Augen. Und ich sehe nur Leere, Leere und grundlosen Hass. Er ist Abschaum. Ein feiger Mörder. Einer, der immer wieder morden wird. Der nie lernen wird, was Nächstenliebe heißt. Um ihn ist es nicht schade. Und außerdem heißt es jetzt doch er oder ich!
 
Mir wird schon schwummerig vor Augen. Doch dann greife ich in meine Hosentasche und ziehe das Messer hervor. Am Nachmittag habe ich es irgendwo mitgehen lassen. Ich muss geahnt haben, dass es jetzt brenzlig wird. Und ich stoße das Messer bis zum Knauf in die Brust meines Feindes. Er schreit. Markerschütternd. Dann lassen seine Hände meinen Hals los und er stürzt auf die Gehwegplatten. Mit der rechten Hand befühlt er seine Wunde, aus der Blut zu suppen beginnt. Ich sehe ihm im Licht der Außenbeleuchtung des Hauses in die Augen. Er weint. Ich kann nicht umhin, trotzig zu ihm zu sagen: „Wer wohl auf wessen Grab tanzt!“ Seine Lippen bewegen sich, mühsam. Und kaum hörbar presst er einen Satz hervor. Ja, kaum hörbar. Aber ich höre ihn. „Warum konntest du mich nicht lieben?“  Mir ist, als würde ich zu Blei. Ich schleudere das Messer ins Gebüsch und haste die Treppe hinauf, zitternd; ein Tremor.
 
Ich betrete meine Wohnung. Sie liegt im Dunklen und ich mache Licht. Jeanne sitzt auf dem Bett. Sie trägt ein weißes Baumwollkleid, ihre leicht sonnenverbrannten Arme und ihre Beine sind nackt. Ich stocke im Türrahmen. Ich muss sie einmal intensiv anschauen, ja fixieren. Das Licht der Glühbirne fällt direkt auf sie, sodass es scheint, als umgebe ihr weizenblondes Haar ein Heiligenschein. Sie weint. Aber nicht laut. Es ist nur so, dass in ihren Augen Tränen stehen. „Mein Mädchen…“, sage ich zärtlich, „Was hast du denn?“ Sie schaut mich an, mit stummem Vorwurf im Blick. „ Du hast es getan, nicht wahr?“, fragt sie. „Was getan?“, frage ich. Ich stehe noch immer in der Tür. Jeanne blickt mir in die Augen. „Jemanden umgebracht.“
 
Ich löse mich aus meiner Starre und setze mich zu Jeanne aufs Bett. Ich streiche ihr über ihren Kopf. „Ändert das irgend Etwas?“  Jeanne nimmt meine Hand. Sie sieht mich ernst an. „Ich habe dich geliebt, weil ich dachte, du bist anders. Und du warst auch anders. Du warst nicht wie sie. Du warst ein Mensch. Weil dir die Liebe wichtiger war als das Leben.“ „Sie haben mich 27 mal ermordet. Irgendwann ist es das eine Mal zuviel. Das Ende der Fahnenstange war für mich erreicht, als ich erkannt habe, dass sie es auch mit Liebe tun. Ich will doch nichts weiter als Leben! Ich habe nie einer Fliege etwas zuleide getan. Und ich werde mich auch in Zukunft nicht ändern. Ich habe mich nur meiner Haut gewehrt. Und er, mein Feind, war schon immer ein Mörder. Nichts als widerlicher Abschaum!“ Jeanne hält meine Hand fester. „Ach, Schatz! Du weißt doch, dass es nur Gott zusteht, zu richten. Die meisten Menschen haben das vergessen. Aber du und ich, wir wissen es. Es ist doch so. Wir wissen es. Und wir vergessen es niemals.“ Jeanne sieht mich wie flehend an. „Hat er noch irgendetwas zu dir gesagt, bevor er starb?“ Ich schaue zu Boden. „Nein.“, antworte ich. „Jetzt hast du gelogen.“, sagt sie. „Siehst du, es fängt schon an bei dir!“ „Was fängt an, verdammt noch mal“, fahre ich auf, plötzlich gereizt. „Dass du lügst.“, sagt sie. „Du lügst, und du wirst laut, weil ich die Wahrheit sage. So ist es mit allen, die getötet haben. Sie können die Wahrheit irgendwann nicht mehr ertragen. Und wenn sie erstmal mit der Lügerei angefangen haben, verstricken sie sich immer mehr darin. Sie ermöglichen es dem Tod, versteckt zu wirken, weil sie ihn verstecken. Weil sie ihr eigenes Morden verstecken unter einem Mantel der Lügen. Aber ebenso wenig, wie sie mit dem Lügen aufhören können, ebenso wenig können sie auch mit dem Töten aufhören. Und weil sie das selber nicht ertragen können, hören sie auf, mit Messern und Pistolen zu töten, sondern fangen an, es mit Blicken und bösen Worten zu tun. Mit Neid, mit Missgunst… Du weißt das doch. Und irgendwann töten sie mit Freundlichkeit, mit Schmeichelei, mit Heldenverehrung. Und zum Schluss mit Liebe!“
 
Ich schlage ihre Hand weg und halte meine vors Gesicht. Ein plötzliches Schluchzen schüttelt mich. „Aber so wird das doch bei mir nicht sein!“, presse ich hervor. Jeanne umfasst mich liebevoll. „So ist es mit allen.“, sagt sie. Sie drückt ihr Gesicht an meine Schulter. „Ich habe dich geliebt und liebe dich noch. Aber du wirst dich verändern. Du hast dich schon verändert.“ „Aber warum!“, schreie ich, „Ich wollte das nicht! Ich wollte aufrecht bleiben! Das Leben…das Leben hat mich korrumpiert! Ich hatte ihn auf einmal so satt, diesen Weg, diesen Weg des ständigen Sterbens! Ich wollte auch mal ein Stück von diesem Scheißkuchen!“ Jeanne lächelt. „Und du wirst es kriegen, dein Stück vom Kuchen. Aber du wirst es bezahlen müssen mit den Leichen auf deinem Weg.“ „Wirst du mich verlassen, Jeanne?“, frage ich. „Nein.“, sagt sie, „Du wirst mich verlassen. Ich werde immer hier bleiben, in diesem Zimmer, bis der Morgenstern aufgeht.“ Ich sehe ihr in die Augen. „Luzifer nannten sie den Morgenstern, nicht wahr?“ „Ja.“, sagt Jeanne, „Aber der wahre Morgenstern ist Christus, das steht in der Offenbarung. Ich harre aus bis zuletzt. Ich schaffe das für dich mit, was du jetzt nicht mehr schaffen kannst.“
 
Als ich in dieser Nacht bei Jeanne liege, halte ich sie fest umschlungen wie sonst nie. Ich küsse sie, ich liebkose sie, ich drücke sie an mich, als könne ich sie dadurch für immer an mich binden. Doch ich weiß: Ich habe sie schon verloren.
 
Und ich sehe sie noch einmal vor mir an jenem Spätsommertag, als wir uns das erste Mal begegneten. Die Sonne stand hoch und heiß an einem blauen Himmel und brannte auf ein teils schon abgeerntetes, goldenes Weizenfeld herab. Man feierte ein Sommerfest. Die Garben standen zusammengebunden auf dem staubigen Feld. Und Jeanne stand auf der Straße und sah mich kommen. Sie sah aus wie heute Nacht. Sie trug das weiße Baumwollkleid, das ihre nackten sonnenverbrannten Arme und Beine freiließ. Ihr weizenblondes Haar leuchtete in der Sonne und ihre meeresblauen Augen sahen fest in meine. Als ich vor ihr stand, sagte sie: „Ich habe auf dich gewartet. Es warst immer schon du. Ich wusste, dass wir uns hier begegnen würden. Nur nicht, wann. Und heute ist mein Traum wahr geworden.“ Ich sah sie an, einen kleinen Moment unsicher. Aber dann spürte ich, wie es warm in mir aufstieg, und ich wusste plötzlich, dass diese Frau es war, die mein unstetes Wanderleben beenden würde, dass sie es war, deren Arme für meine gemacht waren. Wir schauten uns wieder in die Augen. „Du hast reine Augen.“, sagte sie, „Augen wie jemand, der noch nie getötet hat.“ „So wie du.“, sagte ich lächelnd. Im Bruchteil einer Sekunde hatten wir uns umfasst und vereinten uns in einem atemlosen Kuss, tief und intensiv. Und als die Dunkelheit hereinbrach, und das Fest seinem Höhepunkt entgegensteuerte, zündeten die Bauern mit Stroh umwickelte Räder an und rollten sie einen Hügel hinunter. Als ich diese feurigen Ringe in der Nacht verschwinden sah, fröstelte mich plötzlich. Ich hatte die Ahnung von etwas namenlos Bösem in der Welt. Aber ich wollte damals nicht daran denken. Ich zog Jeanne an mich und küsste sie.
 
Und nun, denke ich, nun ist der Moment gekommen, der Moment, in dem dieses Böse in mein Leben einbricht, und ich kann nichts mehr dagegen tun. Ich schmiege mich ganz eng an Jeanne, bis ich ihre Wange an meiner spüre. Ihren sanften Atem auf meiner Haut schlafe ich langsam ein, in meiner Brust mein schulderfülltes Herz angstvoll klopfen hörend.
 
Als die ersten Sonnenstrahlen durch mein Fenster fallen, klingelt es. Ich erhebe mich und gehe zur Tür. Ich öffne nackt. Es ist mir egal. Draußen stehen zwei Polizisten, ein Mann und eine Frau. „Entschuldigen sie, Herr…“ „Ist schon gut.“, sage ich. „Wissen sie, es hat vor ihrer Tür einen Mord gegeben, und wir haben dieses Messer dort gefunden. Kennen sie es?“ „Klar.“, sage ich, „ist meins.“ Über die Schulter rufe ich Jeanne zu: „Siehst du, ich lüge nicht!“ „Was soll das heißen, Herr…“, fragt die Frau. „Das heißt dann wohl, dass ich den Mord begangen habe.“  Das verbindliche Lächeln der Polizistin erfriert. „Und das sagen sie uns einfach so?“ „Naja.“, entgegne ich, „Sie werden es keinem mehr weiter sagen!“ Damit reiße ich ihr das blutige Messer aus der Hand und ramme es ihr ins Herz. Sie sackt zusammen. „Herr…!“, ruft der andere Beamte entsetzt. Seine Hand greift nach seinem Pistolenhalfter, doch bevor sie ihn erreicht hat, schneide ich ihm die Kehle durch.
 
Ich drehe mich um und sehe Jeanne an. Sie sitzt da, in ihrem weißen Kleid und schaut mich stumm an. Plötzlich empfinde ich nichts mehr für sie. Was weiß sie vom Leben? Sie wird sich weiter töten lassen und auf den Morgenstern warten. Ich stocke. War sie nicht die Liebe meines Lebens? Doch…was ist Liebe? Nichts als ein chemischer Prozess im Kopf! Ich frage mich, ob ich es bin, der dies denkt. All das passt so wenig zu meiner alten Art. Vielleicht hat Jeanne recht. Ich habe mich verändert. Verzweiflung packt mich. Jetzt bin ich einer von ihnen. Und ohne mich noch einmal zu Jeanne umzuwenden, laufe ich auf den Balkon und springe übers Geländer. Ich komme sanft und elastisch auf. Die Sonne scheint. Die Vögel singen. Ich spüre die Wärme des Frühlings auf meiner nackten Haut. Ich lebe. Und ich werde jeden töten, der mir das Leben nehmen will. Meine rechte Hand umfasst das Messer. Und ich laufe davon durch den blühenden Garten, ohne mich noch einmal zu Jeanne umzusehen. Sie, die meine Hoffnung bleiben wird, bis ich sterbe.

 Patrick Rabe, April 2012


My life seems unreal, my crime an illusion,
A scene badly written, in which I must play,
Yet I know as I gaze at my young love beside me,
The morning is just a few hours away…
 
Paul Simon (Wednesday Morning, 3 am)
 

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 04.12.2013. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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