Christa Astl

Johanna oder das eigene Leben

 


 
 
„So, nun bin ich also allein“, denkt Johanna, „die Letzte und Einzige meiner Ahnenreihe. Mit mir wird dieses Geschlecht aussterben…“
Die Begräbnisfeierlichkeiten sind beendet, das anschließende Totenmahl ist auch überstanden, die wenigen Verwandten und Bekannten, die noch so lange geblieben sind, haben ihre Heimreise angetreten.
Erschreckend still ist es in der Wohnung. Soll sie noch nachheizen im Ofen oder sich gleich ins Bett legen? Irgendwie fühlt sie sich erschöpft, leer, ausgelaugt. Die Leere ist wohl verständlich, aber ihre Leere hat andere Gründe, nicht das Fehlen ihrer Mutter, mit der sie bisher die Wohnung geteilt hat.Sie legt sich kurz aufs Sofa und starrt in die letzten Glutreste im Ofen. Wieder, wie so oft in letzter Zeit, schaltet sich das Kopfkino ein. Es zeigt einen Rückblick…
 
Mutter liegt hilflos im Bett, die Augen angstvoll auf die Tochter gerichtet. Sie kann nicht mehr aufstehen. Doch die höllischen Schmerzen, die sie fast Tag und Nacht haben schreien lassen, sind nicht mehr da.
Eine Station zurück: Die Hüftoperation, bei der etwas schief gelaufen sein musste. Seit damals konnte Mutter nicht mehr richtig gehen, den Fuß nicht heben, sodass sie oft stolperte und stürzte, sie wurde unsicher, wollte nicht mehr aus dem Haus.
Einkaufen, Hausarbeiten, alles wurde ihr, der Tochter übertragen, obwohl diese nach ihrem anstrengenden Job müde und abgespannt nach Hause kam. Oft hatte sie sich mit dem Gedanken getragen, Mutter ins Heim zu geben, damit sie wenigstens manchmal zu einer erholsamen Freizeit käme, doch das Gewissen ließ es nicht zu – und Mutter wollte nicht. Sie begann hingegen wie selbstverständlich immer mehr Ansprüche zu stellen, die Tochter ganz für sich zu vereinnahmen. Wollte abends nicht mehr allein sein, weckte sie nachts öfter, wenn sie zur Toilette musste. Am Sonntag wollte sie mit der Tochter Ausflugsfahrten machen, natürlich mit dem Auto bis vor ein Restaurant oder Cafe.
Für sie, die Tochter durfte es kein Privatleben mehr geben. Deshalb war auch ihre letzte Beziehung endgültig zerbrochen. Der Freund wollte sie öfter abends sehen, beklagte sich ständig, dass sie nur für ihre alte Mutter da wäre und ihn, den armen Mann, jetzt schon so vernachlässige. Allmählich begann sie sich als seine Gefangene zu fühlen, und da war die Entschuldigung, bei Mutter bleiben zu müssen, gerade recht, - bis auch das zur Gewohnheit wurde.
Tja, diese Gewohnheit war sie nun los.
Mutter kam immer wieder ins Krankenhaus, die Lähmung konnte nicht geheilt werden, schritt vorwärts, erreichte die Hände, die Arme, schließlich konnte sie den Kopf nicht mehr bewegen. nur die Augen bewegten sich, angstvolle, verzweifelte, nur selten auch dankbare Blicke richtete sie auf Schwestern und Ärzte und auf die Tochter, wenn diese stundenlang am Spitalsbett saß und die abgearbeitete, nun aber so schmale Hand in ihrer hielt. Zwischendurch kam die Mutter immer mal nach Hause, doch Johanna war mit der Pflege überfordert. Außerdem war sie noch berufstätig und wurde von ihrem Chef nicht freigestellt.

Und dann kam am frühen Morgen der Anruf vom Krankenhaus, Mutter sei in der Nacht ruhig hinüber geschlafen. Erleichterung war ihr erstes Gefühl, sie vergönnte ihr die Erlösung, den Frieden, das Ende ihrer Qual. Die Seele war frei, befreit aus dem Kerker des lahmen Körpers.

Johanna musste sich ein paar Tage frei nehmen, um die nötigen bürokratischen und privaten Schritte zu unternehmen. Verwandte und Bekannte mussten verständigt werden, das Begräbnis organisiert werden, als Einzelkind und Alleinstehende blieb ihr das alles allein. Und zwischendurch kamen immer wieder Anrufe und Fragen und Beileidsbezeugungen der Nachbarn und von weiter entfernten Bekannten. Doch nun war alles vorbei, das Leben würde wieder seinen gewohnten Gang gehen. –

Nein, alles würde nun anders sein. Es gab keine Mutter mehr, die sie im Spital besuchen musste, oder die zu Hause sehnsüchtig wartete. Es gab nur mehr eine stille Wohnung, ein leeres Bett in einem Zimmer, das nie mehr benützt werden würde.

Plötzlich kehrt sich ihre Erleichterung um in Sehnsucht, erfüllt von dem Wunsch, die Zeit zurück zu drehen. „Mutter komm wieder zurück, ich leg dich ins Bett, ich mach dir eine Wärmflasche, ich gehe für dich einkaufen, sprich doch mit mir, lass mich nicht so allein sitzen…!“
Tränen drängen sich aus ihren Augen, sie glaubt in einem See zu versinken, einem dumpfen See der Trauer, der Verzweiflung, der Einsamkeit. Alles, was sie an Gefühlen, Empfindungen während dieses Nachmittags verdrängt hatte, weil sie vor den anderen stark sein wollte, bricht nun aus ihr heraus.

Die Wohnzimmeruhr schlägt unbarmherzig laut die Stunden, das Ticken der Küchenuhr rennt gespenstisch durch den Abend. Dunkel ist es geworden, nicht einmal mehr den grauen Nebel sieht sie vor dem Fenster. Das Feuer ist erloschen. Sie steht auf, sucht den Lichtschalter, macht sich am Ofen zu schaffen, an einem winzigen Glutrest entzündete sie neues Feuer.

Wie die Flamme durchzuckt sie plötzlich ein neuer Gedanke. Neues Feuer muss auch ich anzünden! Für mein Leben. Das Leben meiner Mutter hat sich verzehrt, meines, ja das brennt noch, ich muss ihm nur Nahrung geben. Sie holt sich ein paar Kissen und kuschelt sich vor den Ofen, die Wärme tut ihr gut! Und die Helligkeit der Flammen gibt ihr Trost, erleuchtet auch ihr Dunkel, erhellt ihre Gedanken.
Wie kann sie ihrem Leben „Feuer“ geben? Soll sie alte Bekannte anrufen, soll sie sich mit ihrem Freund versöhnen? Wie kann sie sich einen neuen suchen? Will sie das überhaupt? Nein, danach steht ihr der Sinn im Moment gar nicht. Jetzt muss sie erst mal sich selber finden.

Eigentlich komisch, 46 Jahre lebt sie schon, aber irgendwie neben sich. Eher als ein Teil der Familie, der andere Teil war die Mutter, ohne die sie sich ein Leben nicht hätte vorstellen können. Den Vater hatte sie nicht gekannt. Heiratsgedanken hatte sie nie, ihre seltenen Freunde hatte die Mutter alle negativ bewertet und ihr ausgeredet, ihr ihre eigenen schlechten Erfahrungen ständig vor Augen gehalten. „Bleib ledig, so bist du frei, kannst tun und lasen was du willst, du verdienst gut, hast dann eine schöne Pension, kannst in deinem Urlaub reisen, musst dich nicht nach einem anderen richten, musst dich nicht mit kleinen Kindern abplagen, die Tag und Nacht schreien und dann an dir hängen. So hast du es viel schöner…“ Ja, damals war Mutter noch gut beisammen, hat ihr alle Hausarbeit gemacht, abends ein gutes Essen hingestellt, es war ein schönes Leben.

Und dass es in den letzten Monaten umgekehrt war, dass sie nun Tag und Nacht für Mutter da zu sein hatte, hatte sie gar nicht so recht empfunden, es war eben nun so. Doch jetzt fehlt das… Wieder will die Traurigkeit kommen, ein neues Holzscheit, das auf das verkohlte fällt, löscht auch die Trauer wieder.

Was kam jetzt? Wie geht es weiter oder wie soll es weiter gehen? Klare Vorstellungen hat sie nicht, sie will abwarten, was die nächste Zeit von selber bringen werde, sie will offen und aufmerksam dafür sein, bewusst leben, es ist schließlich jetzt ihr Leben!
Mutters Zimmer kann sie einstweilen lassen, wie es war, die Türe schließen, bis sie inneren Abstand von ihr hat und ihre Kleider und sonstige Gebrauchsgegenstände weggeben kann. Die Wohnung ist ja noch groß genug.

Das Feuer brennt inzwischen, sie steht auf, geht zum Kühlschrank, nimmt auch die Streichwurst heraus, die Mutter immer so gern gemocht hatte, streicht sich ein Brot, brüht sich Tee auf und schaltet nach langer Zeit wieder einmal den Fernseher ein. Heute lässt sie sich durch einen Film ablenken, vielleicht gibt er ihr schon einen ersten Impuls zur Veränderung ihres eigenen Lebens?
 
 
 
ChA 10.11.13

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 13.12.2013. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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