Regina Elfryda Braunsdorf

Der Rest ist gut genug...

Sie hatten sich mehrfach darüber unterhalten: Nach dem Frühstück, bevor die Kusine Danas Gepäck ins Auto brachte, las sie ihr noch diesen Satz von Wislawa Szymborska vor: " Die Zeit lief mit einer wichtigen Nachricht wie ein Bote. Aber das sind nur unsere Vergleiche."
24. Juli 2005:   
Dana hielt sich beim Gähnen die Hand vor den Mund, sie musste zeitig aufstehen und richtig durchgeschlafen hatte sie nicht; vielleicht zwei Stunden, rechnete man es zusammen. Wie immer, wenn sie in einem Zug saß und in einen Bahnhof einfuhr, schaute sie aus dem Fenster; die Gedächtniskirche glitt gleichmäßig an ihr vorbei: Berlin Zoo. Ein junger Mann in einem komplett hellen Anzug, wahrscheinlich ein Südländer, war auch eben angekommen. Bestimmt steht er gleich unten auf  dem Parkplatz und niemand holt ihn ab, dachte sie.   Dana hatte noch Zeit: neun Stunden, musste aber erst einmal zum Ostbahnhof. Zu Hause  hatte sie den Stadtplan studiert und sich Notizen gemacht, wie sie umsteigen musste: Hier hatte sie jetzt fünfzig Minuten Aufenthalt: Jetzt einen starken Kaffee, dringend; die Kellnerin am Kaffeestand - Dana würde nie einfach, wie jeder, Servicekraft sagen - hatte ihr den Zucker gleich hinein getan, zwei Stück. Das war nett. Dana nickte; sie bedankte sich gerne, wenn ihr jemand etwas gab, auch wenn es Geld kostete. Sie beschloss, doch nochmal ihr Spotkania heraus zu holen, sie musste einfach noch ein paar Wörter auffrischen. Das Polnisch-Buch hatte sie vor einigen Jahren gekauft als ihre Schwester und sie beschlossen, ihre Wurzeln zu finden, wie ihre Schwester pathetisch sagte. Es war für einen Volkshochschul-Kurs für Anfänger: Also, das Wort koloc gibt es im Polnischen nicht, sagte die VHS-Dozentin, Frau Bruchmüller-Dabrowski. Sie hatte in ihrer Lebensgeschichte, ihren Mann während des Studiums kennen gelernt und war so in Deutschland gelandet. Pani Bruchmüller-Dabrowski konnte Danas jüngerer Schwester nicht helfen; das Kapitel Wurzeln, Heimat und Kindheit wurde hier abgeschlossen. Das Wort  strum  gibt es im Polnischen auch nicht, sagte Pani Dambrowska: Kuchen heißt ciastko und Baum bedeutet drzewo.                                                
Dana dachte seit Jahrzehnten in Deutsch und deutsch, obwohl sie sich dagegen immer gesträubt hatte. Sie kannte ja schließlich noch ein bisschen den slawischen-oberschlesischen Humor und auch, ja, die römisch-katholische Religion. Ihre Eltern waren ja noch immer polnisch-katholisch. Die Gedanken der Reformation blieben jedenfalls ihrer Familie erspart. Jedenfalls hing ein Magnetbildchen mit Wojtyla an der Kühlschranktür der Eltern und im Wohnzimmer wurde auf die Stirnseite des großen Esstisches ein Kreuz an die Wand gehängt als sich der Pfarrer das erste Mal zu Besuch angekündigt hatte. Und freitags wurde kein Fleisch gegessen, nur Fisch, obwohl es dieses Gebot nicht mehr gab.                                            
 Als sie ihrer Schwester sagte, sie wolle zu diesem Treffen hin, wunderte sie sich selber darüber. Du kennst doch niemanden mehr, sagte die Schwester.
Der Ostbahnhof. Hier war es überschaubar. Dana atmete aus dem Bauch heraus tief durch; jetzt war sie entspannt. Wollte aber doch lieber gleich den Abfahrtbahnsteig aufsuchen, dann könnte sie noch entspannter sein. Auf einer noch freien Bank nahm sie die heute Morgen geschmierten Salamischnitten (Kümmel) aus ihrem kleinen Reiserucksack. Sie aß zwar am liebsten Camembert, verzichtete aber darauf, wegen der Temperaturen, wegen des eventuell unangenehmen Geruchs. Sie schaute auf die vielen Leute, die nun langsam eintrafen; noch eine knappe halbe Stunde bis zur Abfahrt Richtung Krakow. Ihr fiel eine besonders schicke Passantin auf, eine Dame,
graues Haar, lang, üppig, am Hinterkopf zu einem losen Knoten gebunden. Vielleicht zwanzig Jahre älter als sie, vom Teint dunkler. Farbenfroher angezogen, langer ausgestellter Stufenrock. Jemand, eine, die eine gewisse Majestät ausstrahlte. Dana überlegte, wie sie, sie selbst wohl auf die anderen wirkte: T-Shirt in Pastell, Jeans, bequeme Lederschuhe, über dem Spann perforiert, damit Luft an die Füße kam. Ihre dunklen Haare hatte sie hinter die Ohren geklemmt. Ob überhaupt? Hinter der Frau ging ein ebenbürtiger Mann. Sie lächelten dieses Lächeln der... nein, nicht der Gereiften: der Unnahbaren, dachte Dana. Ist hier noch frei, fragte der Mann. Dann sprachen die Zwei französisch miteinander. Dana tat, als verstände sie nichts. Da sie bereits ihre Salamibrote aufgegessen hatte, musste sie sich anders beschäftigen; sie stand auf und ging zur Raucherecke. Die Augen der beiden begleiteten sie; Dana lächelte zurück. 
11.45 Uhr. Die Hälfte der Fahrzeit war vorbei. Im Intercity-Express saß ein redseliger Mann aus Bayern neben ihr. Er wollte bis nach Kraków und: Ich komme aus... Dana hörte nicht richtig hin. Dass er nicht aus Berlin kam, konnte sie erraten. Seit er in Berlin eingestiegen war, versuchte er, irgend ein Schachspiel aus einem Rätselheft zu lösen. Ob sie denn Schach spiele, fragte er. Nein, sie spiele nicht, sagte sie. Dana hatte es immer als lästig empfunden, wenn auf den Familienfeiern - Mensch ärgere dich nicht! oder Skat gespielt wurden. Ihr Vater, ein leidenschaftlicher Skatbruder, versuchte, es unbedingt seinen Töchtern beizubringen. Du kannst nicht reizen, sagte er immer zu Dana: Kind, du kannst einfach nicht reizen.                                                                                                                    
Dana schaute auf die vorüberziehenden polnischen Ortschaften. Seit wir die Grenze überschritten haben, hat der Zug zehn Minuten Verspätung, schimpfte der Bayer. Das Rätselheft lag noch immer auf seinem Schoß. Wir sind in Legnica, sagte Dana.    
Einige Leute, draußen auf dem Bahnsteig trugen ihre anscheinend gesamten Habseligkeiten in irgendwelchen Plastiktüten. Ja, es ist anders hier, sagte der Bayer, ich gehe doch noch mal ins Bordrestaurant. Dana ging mit.
27. Juli:                                                                                                                                                      
Es war vorbei. Dana saß wieder im Zug. Für den Rückweg hatte sie leider keine Platzkarte besorgt. Sie schob sich durch die Abteile bis sie sich endlich setzen konnte: Der Fensterplatz und der am Gang waren aber schon belegt, sie musste sich in die Mitte quetschen. Der Mann auf dem Fensterplatz war sehr voluminös, hier sah sie also nichts. Dabei hätte sie so gern nochmal auf die vertrauten kleinen Häuser geschaut, meist doppelgeschossig durch Anbau in den sechziger Jahren, als es üblich wurde, nicht mehr zu fünft oder im Dutzend, wie es noch bei Danas Großmutter war, in drei Zimmern zu wohnen. Abgesehen davon, dass die Großmutter wahrscheinlich nur zum Schlafen und an den Feiertagen im der Stube war. Dana hätte gern nochmal ihr Geburtshaus gesehen. Dieser voluminöse Mann am Fenster roch auch noch streng, Dana versuchte ihre Atmung flach zu halten.                                                                                                            
Schon Brzeg. Sie versuchte trotzdem zu entspannen: Inzwischen wurde das Elternhaus von Fremden bewohnt. Der Bruder der Mutter hatte es damals nach der Erbschaft sofort verkauft. Zufall war, dass diese Leute fast den gleichen Namen trugen: Wozniak. Dana hatte den alten Sozialversicherungsausweis ihrer Großmutter aufbewahrt: Julia Wozna. Diese Leute hatten alles modernisiert: Der alte Holzlatten-Zaun wurde gegen Maschendraht ersetzt; der Stall, das hohe Nebenhaus, auf dessen Dachboden das Heu - für wen oder was, wusste Dana nicht mehr - lagerte. Auf alle Fälle für den regelmäßig volltrunkenen Erb-Bruder der Mutter, wenn er seinen Weg nach Kaniow, der durch den Wald führte, nicht mehr schaffte. Ins Haus durfte er schon damals nicht mehr, seitdem er mit einem Feuerhaken auf Danas Vater losgegangen war; außerdem arbeitete Danas Vater und musste sehr früh aufstehen. Aber das war alles so lange her, vierzig Jahre fast. Der Bruder der Mutter war schon lange tot. Ihm ist die Halsschlagader geplatzt, sagte ihr Vater, weil er so viel gesoffen hat, genau wie Onkel Paulek. Elend zu Grunde gegangen, sagte die Mutter. Paulek war Vaters Bruder, ein ehemaliger Elitesoldat. Angeblich. Dana zog sich die Strickjacke über den Nacken und schloss die Augen:                                                                                                                  
Am Bahnhof in Opole hatte sie sich von ihrer Kusine Celina verabschiedet und deren Tochter Anja. Die Frauen umarmten sich mit der vollen Länge ihrer Arme, wahrscheinlich würden sie sich die nächsten zehn Jahre nicht wiedersehen. Die Bande der Verwandtschaft zweiten Grades war in dieser Familie nie gepflegt worden. Man war wohl nicht darauf eingestellt gewesen, dass die Sippe sich auch mal trennen könnte. Man - das waren die Eltern, ihre Eltern, die alles für selbstverständlich hielten. Dana sah zu Anja, gerade sechszehn Jahre alt. Wahrscheinlich wusste die Kleine vor ihrem Besuch nicht mal, das sie eine Tante Dana hatte. Vor der Abfahrt hatte Dana auf den Notenständer vom Onkel einen Umschlag mit Geld hingelegt: einhundert Euro, mit einer Dankeschön-Karte aus dem Blumenladen für einen Zloty. Ihre Verwandten hatten es abgelehnt, dass sie (wenigstens) die Unkosten bezahlte. Dana hoffte, es brachte ihnen nicht nur Erleichterung, als sie wieder abreiste. Es waren ja vier gute Tage. Der Onkel Jozef musste die Äpfel für das Kompott schälen; auch weil er sowieso nicht mit in den Fiat gepasst hätte; auch wenn er sich in den letzten Jahren beim Essen mehr zurückgehalten hätte, meinte er. Der Mann, der die ganze Welt gesehen hatte und jetzt in Dobrzen blieb und ihm nur noch die Musik geblieben war. Der Rest davon, wie er sagte - in einer Band aus zwei ehemaligen Philharmonikern und gutmütigen Dorf-Dilettanten. Reste sind gut für mich, gut genug, sagte er.                                                                                                                    
Der Onkel und Dana waren mit den Fahrrädern an der Oder gewesen, die letzte manuell betriebene Schleuse besichtigen. Dana wusste gar nicht wie Schleusen betrieben würden, eigentlich wusste sie nur ungefähr, was überhaupt eine Schleuse war. Sie glaubte, in Straßburg, als sie mit ihrer Schwester dort auf einem Schiff Stadtbesichtigung machte, gab es einige solcher Vorrichtungen: Das Schiff wurde so von einer Ebene in die andere - geschleust. Jedenfalls freute sich über Onkels Vorschlag. Die Oder sah dort archaisch aus. Überall Stege, als könnte man übers Wasser laufen. Gut gebaute, sonnengebräunte Männer. Der Onkel kannte einen: Roman. So viel geballte Männlichkeit. Sie sah, wie die Männer kurz zueinander guckten; sie hatten ihre kurze Irritation bemerkt. Roman bot ihr einen Papieros an, selbstgedreht. Sie rauchten kleine Wölkchen in den klaren Himmel. Der Onkel unterhielt sich inzwischen mit den anderen Arbeitern.                                                                                                                                      
Jetzt fahren wir eine andere Strecke zurück, sagte der Onkel, keine Bange, alles ist schön glatt asphaltiert. Sie fuhren dann an den Häusern vorbei, die von den Hiesigen bewohnt waren. Ein Haus hübscher als das andere, teilweise mit Säulchen oder Gipsskulpturen im Vorgarten, wie auf der Akropolis.                                                                                                                    
Als ihr vor über fünfunddreißig Jahren rausgefahren seid, sah es hier noch anders aus, rief er ihr zu: Die Leute haben in Deutschland gearbeitet und jeden Zloty gespart, für später, für die Familie. Leider sind einige stehen geblieben dabei, eine Minderheit hinterm Mond, die Angst hat, dass ihre alten Unterhosen von " Zigeunern" von der Wäscheleine geklaut wird! Onkel Jozef schrie vor Lachen. Plötzlich sprang ein  kleiner Mann mitten auf den Weg: Stopp! Eine gebückte Greisin in einem großgeblümten Sommerkleid stand im Meterabstand hinter ihm: einen Todesfall hatte es gegeben. Ein Volltrunkener, der noch ganz benommen in der Ausnüchterungszelle saß, sich seiner Schandtat noch völlig unbewusst, hatte einen Familienvater totgefahren, gestern auf der Straße von Kroscic nach Dobrzen.                       
Gestern war Dana beim Klassentreffen. Dieses abgedroschene tausendfach strapazierte  Wort, dachte Dana. Sie war nie auf diesen wiederkehrenden ritualisierten Treffen gewesen. Doch einmal ; da wurden Hochzeitsbilder herumgereicht , es wurde über die gutgelungenen Kinder... Dana mochte nicht weiter die Gedanken daran binden. Sie hatte danach sämtliche Kontakte auslaufen lassen.                                                                                           
Wahrscheinlich hatte sie gerade ein Glas Wodka mit den anderen getrunken, gestern. Sie hatte heimlich ihr Wodkaglas immer mit Wasser nachgefüllt; wie ihr der Onkel geraten hatte: damit du durchhältst, dann gießt dir niemand etwas nach. Und amüsier dich, Dana, sei locker. Vielleicht hatte sie demnach ein Glas Woda getrunken - sie freute sich fast über ihre Wortspielerei.  Nur zur Ansprache von Engelbert Roth - übrigens war er der andere Philharmoniker der Dorf-Band ihres Onkels - trank sie ein  Sto-Gramm-Glas echten Alkohols. Vielleicht hatte sie sich auch gerade den vierten (echt polnischen) Kloß hineingestopft als der Mann überfahren wurde.                                                                                                 
 Dana war eine Vielesserin, wenn sie in Gesellschaft war; viel oder nur Häppchen. Eigentlich aß sie immer viel oder nur Häppchen. Sie konnte sich nicht erinnern, jemals normale Portionen gegessen zu haben. Schon als sie noch ein Kind war und die Mutter, wenn es frische Tomaten im Garten gegeben hatte, einen Berg Tomatenbrote auf den großen Küchentisch den Kindern hinstellte, aß Dana bis sie nicht mehr konnte. Sie hatte sich sogar eine Schnitte direkt vor sich neben die Tischkante gelegt und mit der linken Hand abgedeckt,  damit sie die nachdem alles weggefuttert sein würde, noch auf Vorrat hatte. Ihr Vater tadelte sie dafür immer. Langsam, sagte er, iss doch langsam, Kind. Er sagte bis heute  Kind  zu ihr. Wie geht es dir, Kind.  Was Neues? Der Vater war auch ein Vielfraß. Wenn ich so viel essen würde wie du, sagte Danas vollschlanke Mutter immer zu ihm, dann würde ich drei Zentner wiegen.                                                    
Dana  widerstrebte die Aufdringlichkeit des kleinen Mannes: Stopp! diese  kehlige Stimme. Irgendwie schämte sie sich. Vielleicht, weil wir so sorglos lachten, hat uns der kleine Mann angehalten; Stopp!, hatte sie gedacht, stopp. Der kleine Mann war wohl vor sechzig  Jahren mit Danas Mutter zur Erstkommunion gegangen, erfuhr sie hier auf offener Straße. Er hatte die  Familienähnlichkeit zu den Wienckis gleich entdeckt. Dein Opa war ein Wiencek, erklärte der Onkel: mütterlicherseits. Der kleine Mann ließ Danas Mutter herzlich grüßen und so weiter und so weiter. Er hatte bei der großen Oder-Flut alles, alles verloren. Alles, was wir unter Entbehrungen uns verdient hatten, gellte seine  gebückte alte Frau. Dana wollte weiter,  sie wollte nicht auch noch ihre Namen erfahren.                                                                            
Sie schreckte auf, sie muss kurz eingenickt sein. Wenn dieser Voluminöse nicht die gesamte Fensterfront versperren würde, könnte sie noch ein wenig auf die vorbeiziehenden Felder schauen. Sie hatten sich, als sie an der Oder waren; ihre Gedanken stocken wieder.                               
Der Schaffner: Bitte zeigen Sie ihre Fahrkarten. Zum zweiten Mal! Und irgendwie roch es jetzt noch komischer. Eine dicke Frau besprühte sich gerade, das musste eine Art Rasierwasser gewesen sein. Warum wurde eigentlich nie ein Hinweis mit: for women auf die  Flacons angebracht? Da kommt ja endlich der Kaffeewagen, seufzte die Dicke. Einen Euro für einen Becher, nicht schlecht, wenn man bedachte, dass beim momentanen Umrechnungskurs: Eins zu Vier bis Fünf, die Durchschnittsbeschäftigten nur zweihundert Euro im Monat verdienten, sagte die Frau.                                                                         
Der Verdienst war recht verschieden, hatte ihre Kusine Celina geantwortet, als Dana sie mal so nebenbei danach fragte. Die Kusine war Kinderpsychologin, sie verdiente siebenhundert   im Durchschnitt, siebenhundert Zloty im Monat, sagte Celina.                                                                      
Das hatte Dorota Warkwas, Krankenschwester, auch gesagt, als Dana sich auf der Feier danach erkundigte. Es war am Schluss so viel Geld übrig geblieben, trotz des Essens, der unzähligen Getränke, Tanz: zweitausend Zloty. Viel, sagte Engelbert Roth. Er unterbreitete in seiner Schlussrede den Vorschlag - nachdem sein und Danas Vorschlag ignoriert worden waren,  nämlich das viele Geld, dem Heim für geistig behinderte Kinder zu spenden - jedenfalls wurde nun der Vorschlag unterbreitet, das Geld der Orts-Kirche zu schenken; sie befand sich gerade im Baugerüst, um alle Jahre wieder saniert zu werden. Alle Jahre wieder, sagte Engelbert natürlich nicht. Sie hätte es doch aber wissen müssen, ärgerte sich Dana, in der einen Stunde, in der sie alle zu dieser Sonder-Messe dort in dieser Kirche waren, konnte sie sich doch ein aktuelles  Bild machen.                                                                               
Damals, im Jahre 1965 als sie eingeschult wurden, hatten sie alle nichts gewusst von der Welt - nur unser Dorf;  und von Gott  - nur unsere Kirche, dachte Dana. Jetzt war sie die einzige, die sich nicht bekreuzigte, vorher die Fingerspitzen nicht ins Weihwasser tauchte. Sie waren Frauen und Männer geworden und das Wir gab es nicht mehr. Viele waren inzwischen untersetzt, einige der Jungen  waren kahlköpfig geworden, zumindest Stirnglatze. Die Mädchen waren  behangen: mit Gold: Kruzifixe, Heiligenbildchen auf meist gebräuntem Fleisch zwischen Spaghetti-Trägern. Lydia hatte geschluchzt.                                          
Legnica. Der Zug bremste ruckartig; Dana musste wieder kurz eingeschlafen sein:     
Die Feier, diese nachgeholte Initiationsfeier, wie sie Dana inzwischen in ihre Erinnerungen abgespeichert hatte, war vor drei Tagen gewesen; am Samstag, nachdem sie sich alle vorher in der Schule getroffen hatten. Der Bruder von Dorota Warkwas war jetzt Schuldirektor. Der Vater von Ala Bielinska, der Direktor aus Danas Zeit lag bereits auf dem Kirchhof - unter dem Kreuze Christi mit Parteiabzeichen am Reverskragen, wie Onkel Jozef  kommentierte. Sie hatten das Grab von Pan Bielinski nach der Messe aufgesucht und auch das Grab von Andrzej, den Nachnamen hatte Dana aber schon vergessen. Andrzej war in der dritten Klasse verstorben, Gehirntumor. Er war der Klassenbeste gewesen; danach gleich kam Dana. In ihrem Kopf waren auf wieder diese Bilder. Als sie vor ein paar Tagen angekommen war, am Freitag, hatte sie das auch und furchtbare Kopfschmerzen. Der Onkel goss ihr einen Wodka ein und sagte, sie sollte trotzdem noch zum Sportplatz fahren. Es wurde schon dunkel. Onkel gab ihr ein altes Fahrrad. Licht brauchst du hier nicht, hatte er gesagt. Auf dem Sportplatz - Dana hatte ihn überraschenderweise gefunden - hatten sich alle umarmt und geküsst: wer bin ich? Bist du nicht Dana? Allerdings war sie durch ihre dunklen krausen Haaren leicht wiederzuerkennen; außerdem waren ja alle schon da. Wer bin ich, diese Frage? Vielleicht hatte Lydia deshalb in der Kirche geweint und die Wimperntusche lief ihr über die gepuderten Wangen, wie die Oder über die geflutete Straße des kleines Mannes und der gebückten Frau, dachte Dana. Als Lydia ihre große Nase schnäuzte, war auch roter Lippenstift im Taschentuch.                                              
Dana hatte wieder Kopfschmerzen, sie setzte ihre Sonnenbrille auf und schloss die Augen:  " Der Herr sei mit euch. Und mit deinem Geiste," antwortete die um Ehepartnerinnen und Ehepartner erweiterte Klasse. Die Bänke waren in der Sitzfläche zu kurz und ohne Kissen. Dana wäre ein Foto vom Altar wichtig gewesen. Nach polnischer Art gehen wir jetzt essen, sprach sie jemand in gebrochenem Spätaussiedlerdeutsch an. Lydias Mann. 
Dana nahm eine Tablette gegen die Kopfschmerzen; sie war noch immer in Legnica. Seit ungefähr zwanzig Minuten. Das zunehmende Geschnatter im Waggon nervte sie:   
Der Pfarrer in der Kirche hatte eine rührende Predigt gehalten, sagten die anderen. Lydia sagte, da seien ihr einfach die Tränen gekommen. Dana fand, dass Lydia sich äußerlich wenig verändert hatte; immer noch hellblond. Die riesige Nase war noch dicker geworden als sei sie das den Erinnerungen an Weihrauch und sonst was nach den vielen Jahren, die vergangen waren, schuldig gewesen. Vielleicht konnte sie ihren Mann, den eigenen deshalb noch so gut riechen. Dana hatte den Geruch ihres Mannes längst vergessen. Beim großen Festessen hatte sie neben Lydias Mann gesessen. Schräg gegenüber saß die ehemalige Nachbarin, die seit den 1980zigern als in Polen der Ausnahmezustand begann, mit ihrem Mann in Köln lebte, in einer Eigentumswohnung, der durch zusätzliches Putzen am Wochenende, zusammengesparten. Die Nachbarin war nach dem Abitur kurz in der Berufsschule gewesen und hatte dann in der Strumpffabrik gearbeitet als ungelernte Kraft. Mit zwanzig hatte sie ihre Tochter Urszula bekommen, ihr zweites Kind. Dana hatte an sie nur in den ersten Jahren gedacht. Nur am Anfang hatte sie sie alle vermisst. Als ihre Eltern damals sagten, sie würden nach Deutschland ausreisen, lag hoher frischer Schnee auf den Wiesen. Danas Großmutter sprach kein Wort mehr. Dana sollte am nächsten Tag in die Schule gelaufen sein, das hatte sie jetzt auf dieser Klassenfeier erfahren. Jemand  flüsterte es ihr ins Ohr: Sie hatten dich nicht rein gelassen. Der Direktor hatte sie am Tor weggeschickt. Dana erinnerte sich nur noch an das hässliche Zimmer in der Jugendherberge mit den rostigen Doppelstockbetten und den vergilbten Gardinen und an das Gefühl, die neue Sprache zu hören, die zu stehen schien, um dann im Zeitlupentempo wie eine Lawine auf sie zuzurollen. An Pani Teluk, ihre Klassenlehrerin erinnere sie sich; Pani Teluk hatte Dana einmal zum Piroggen-Essen eingeladen. Sie hatte ihr ein Buch über die Sirenka von Warschau geschenkt und sie hatte ein blinkendes Bad wie Danas Großeltern in der Stadt. Pani Teluk sprach nicht nur das Nötigste mit ihr. Sie wirkte vornehm und sie war groß und kräftig wie Danas verstummte Großmutter, die Oma, die richtige, die bei ihnen wohnte, am Waldrand. Damals. Am Wald, wo im Sommer ...
Der Rest ist  gut genug, hatte Onkel Jozef gesagt. Die Kirche stand noch immer am anderen Ende des Dorfes. Danas Klasse wollte eben, dass diese Kirche die übriggebliebenen zweitausend Zloty bekam. Möge dem Kinderheim spenden, wer sich dazu bewegt fühlte, hatte Engelbert Roth gesagt.
Dana hatte vergessen, auf die Uhr zu sehen: es musste inzwischen kurz vor Forst sein: Grenzübergang. Die letzte Ölung vor der Grenze, hatte ein alter Herr po polsku gesagt, als wiedermal der Kaffeewagen anrollte.                   
Dana war noch schläfrig, sie hatte von dem Schleusenarbeiter geträumt. Von Roman, der sie beim Tanzen im Kreise, plötzlich schnappte und in die Luft warf, wie eine Himmelsfeder. Sie leuchtete in ihrem eisblauen Hosenanzug, den ihre Mutter extra für dieses Treffen geschneidert hatte. Das ist Ihre Farbe, hatte einmal eine teure Stilberaterin zu Dana gesagt. Dana wachte auf: Forst Grenze. Der voluminöse Mann stieg aus. Sie rutschte hinüber zum Fensterplatz und schloss die Augen.
 

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