Ernst Dr. Woll

Kult mit der Weihnachtsbäckerei

Auch in diesem Jahr wurde bei uns – wie seit vielen Jahrzehnten - am 1. Adventssonntag der erste Weihnachtsstollen der beginnenden Weihnachtssaison angeschnitten. Wir lassen uns nicht davon beeinflussen und beteiligen uns nicht daran, dass man heutzutage, besonders im Handel, die Vorweihnachtszeit schon im Oktober einläutet.
Gern denken wir an die vielen Kulthandlungen, die sich seit unserer Kindheit in den 1930er Jahren um die Stollenbäckerei und Stollenesserei in unserer Heimat und in unseren Familien ranken. Meine Frau und ich wuchsen in Kleinstädten in Ostthüringen auf und setzten die in der Weihnachtszeit in unseren Elternhäusern in ähnlicher Weise gepflegten Traditionen  auch dann in Erfurt (wird Zentralthüringen zugeordnet) in unserer Familie mit 4 Kindern fort. Manches musste jedoch manchmal in kleinen Nuancen geändert werden, weil die Lebensverhältnisse sich insgesamt weiterentwickelten und sich für viele auch verbesserten.
Ich erinnere mich, dass der erste Stollenanschnitt bei meinen Eltern und Großeltern grundsätzlich erst am Heiligabend Nachmittag erfolgen durfte. Mein Großvater sagte (daran erinnere ich mich nicht mehr wörtlich aber sinngemäß): „Wenn wir den Weihnachtsstollen schon vorher essen, dann wird damit eine Tradition  gebrochen. In dieses Gebäck kommen so viele extra gute Zutaten, womit der beispiellose, hervorragende  Geschmack entsteht. Würde man dies das ganze Jahr oder Wochen vorher schon haben, wäre es nichts Besonderes mehr.“
Wir haben Mitte November 1952 geheiratet und zum ersten gemeinsamen bald folgendem Weihnachtsfest hat uns meine Mutter schon kurz vor dem 1. Advent selbstgebackene Stollen übergeben. Unser Appetit war so groß, dass wir ab dieser Zeit das alt Hergebrachte über Bord warfen und ab 1. Advent dann aber auch die folgenden Jahre Stollen gegessen haben. Nicht gebrochen haben wir jedoch, das sei nebenbei angefügt, mit dem Ritus,  dass am Adventskranz am 1. Adventssonntag nur eine und an den folgenden 3 Sonntagen je eine weitere Kerze angezündet werden.
Wir hörten als Kinder auch die abergläubische Forderung, dass vom Heiligabend bis 6 Januar mindestens 7 verschiedene Sollen gekostet werden müssen. Es hieß: „Wer dies nicht einhält hat im kommenden Jahr durchgehend Unglück!“ Was bedeutete denn unterschiedlich, Unglück und warum sieben? Diese Frage stellte ich als Kind meiner Großmutter, die in erfreulicher Weise nicht zu den Erwachsenen gehörte, die auf kniffelige Kinderfragen antworteten: „Das verstehst Du noch nicht, dazu bist du noch zu klein.“ Sie erklärte mir nach ihrer eigenen Interpretation sehr ausführlich: „Du weißt, fast in jeder Familie wird Weihnachten Stollen gebacken. Alle haben unterschiedliche Rezepte, deshalb schmeckt jeder anders. Außerdem verwenden die reichen Leute viel gute Butter und Rosinen;  bei den Armen reicht es oft  nur zu billigem Talg und Margarine und die teuren Rosinen und ausländischen Gewürze müssen sie weglassen. Aber geschickte Hausfrauen können auch mit billigen Zutaten schmackhafte Stollen backen. Es gehört sich aber auch, wenn man Stollen zum Essen angeboten bekommt, darf man keinen ablehnen ganz gleich, ob er von Reichen oder Armen stammt. Der liebe Gott bestraft jeden, der diese Unterschiede hervorkehrt. Unglück haben deshalb diejenigen, die überheblich sind und denken: `Nur der Stollen mit den teuersten Zutaten ist der Beste und nur den allein esse ich´; jeder muss unterschiedliche kosten. Ja, und warum sieben? Das ist nicht nur beim Rechnen eine besondere Zahl sondern sie spielt auch in der Bibel eine große Rolle. Ich kann es auch nicht genau erklären, deshalb glaube ich, dass habe ich schon vielfach erlebt: Wenn irgendwo eine 7 vorkommt geht alles glücklich aus und bei einer 13 gibt es Unglück. Ich weiß es nicht warum, aber ich glaube deshalb daran, wenn man in der Weihnachtszeit 7 verschiedene Stollen gegessen hat, kann man das Unglück verbannen.“
Wir haben in unserer Familie nie selbst Stollen gebacken, damit hätten wir meine Mutter beleidigt, die uns (wie genannt) seit unserem ersten Ehejahr 1952 dann bis 1986, als sie schwer krank wurde, jährlich reichlich mit selbstgebackenem Stollen versorgte. Für sie war diese Bäckerei, einschließlich der „Butterplätzchen“, die jährlich zum Weihnachtsgebäck gehörten, ein Hobby – wie wir es heute bezeichnen würden – damals sagten wir Steckenpferd.
Wenn kurz vor Ostern der letzte Stollen – so lange waren sie haltbar und schmeckten auch noch gut – verzehrt war, begann  die erneute Beschaffung der Zutaten für die kommende Weihnachtsbäckerei. Wir hatten in der DDR immer genügend zu essen, aber es fehlte hin und wieder an Besonderheiten, so auch an Zitronat und Orangeat, die in Weihnachtsstollen nicht fehlen durften. Wenn diese Zutaten zufällig im Angebot waren, wurde sofort „zugeschlagen“ und auch reichlicher gekauft als gebraucht, weil man ja damit manchmal Bekannten und Verwandten helfen konnte. Angebot hatte für uns damals die Bedeutung einer „Bück – Dich – Ware“: Sie ist in der Regel nur begrenzt zu haben, sie wird versteckt unter dem Ladentisch gelagert und nur guten Kunden angeboten. Dagegen steht dieser Begriff heute für „billigere Waren“. Ich erinnere mich an Jahre, in denen bis Weihnachten die genannten Erzeugnisse gar nicht im Handel auftauchten. In diesem Falle hat meine Mutter an Bekannte in der BRD geschrieben und um eine Lieferung gebeten. Das tat sie nur sehr ungern und nur in diesem Ausnahmefall, weil auch wir nicht gern bettelten. Im Übrigen erhielten die Bäcker damals als Zuteilung ein „Ersatzzitronat“, das waren gezuckerte grüne Tomaten.
Wenn dann Mitte November alles für die Stollen- und Butterplätzchenbäckerei bereit stand galt es, mit dem Bäcker am Ort einen Termin zu vereinbaren. Die Hitze der früher fast ausschließlich im Haushalt vorhandenen Kohleherde reichte für das Backen der Stollen nicht aus. Der Stollenteig wurde zu Hause hergerichtet, dabei viel geknetet und musste dann mindestens 4 Stunden bei Zimmerwärme ruhen, damit „er geht“ – über diese Formulierungen habe ich mich als Kind amüsiert.
Der Teig wurde dann in einer Wanne gut mit einer Wolldecke abgedeckt zum Bäcker gebracht, der in meinem Heimatort in der Vorweihnachtszeit täglich von mehreren Kunden die Stollen dann im Backofen bei genügender Hitze backen musste. Meine Mutter brachte immer die Masse für 6 - 8 je 2 kg Stollen zum Bäcker. In einen kleineren Stollen kamen keine Rosinen, der war für unseren jüngsten Sohn bestimmt, der diese Zutat nicht mochte.           Zwei Stollen wurden an Verwandte in die BRD geschickt, vier erhielten wir, eine 6köpfige Familie, einen behielt meine Mutter und einer war meistens eine Reserve.
Bei den fertigen Stollen galt in meiner Ostthüringer Heimat:
  1. Es durfte kein Schliff  entstanden sein. Schliff gebacken ist der Stollen, wenn ein Teil im Anschnitt klebrig, glasig ist, weil die Teigmasse nicht durch Kohlensäurebläschen aufgelockert wurde. Eine der wichtigsten Ursachen ist zu geringe Temperatur beim Backen, das deshalb auch im Ofen des Bäckers erfolgte.
  2. Selbst bei kompliziertem Transport durfte kein Stollen zerbrechen.
Beides waren schlimme Vorzeichen, die darauf hindeuteten, dass im kommenden Jahr viel Unglück zu erwarten sei und mindestens ein enger Verwandter sterben würde.
Ich erinnere mich, dass besonders während meiner Kindheit beim ersten Stollenanschnitt immer  alle gespannt zuschauten und aufatmeten, wenn kein Schliff sichtbar wurde.
Beim Verschicken und Transport hat meine Mutter die Stollen immer in feste stabile Behälter  und auf die Längsseite gestellt verbracht und ich kann mich nicht entsinnen, dass je einer zerbrochen wäre.
Die Butterplätzchen stellte meine Mutter in jedem Jahr nach einem besonderem Rezept her, das in der Familie überliefert noch von ihrer Urgroßmutter stammte. Wichtig dabei war aber, dass mit Ausstechformen viele unterschiedliche „Plätzchenfiguren“ (Sterne, Tannenbäume, Kerzen, Engel usw.) hergestellt wurden. Die Hausfrauen überboten sich hierbei gegenseitig in der Vielzahl der einzelnen Formen. 
 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 24.12.2013. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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