Christa Astl

Sabines Überlebenskunst



Allein in winterlicher Natur
 
 
Sabine wird im Sommer 14, besucht das Gymnasium, ist ein Mädchen wie viele ihres Alters, hat wie diese Probleme mit ihrer Selbstfindung. Etwas hat sie allerdings, was ihr das Leben schwerer macht. Sie ist Einzelkind, wird von beiden Eltern streng zu Gehorsam und Unfreiheit erzogen, und deshalb kommt es gerade in der Pubertät zu heftigen Zusammenstößen.
 
„Jetzt reicht es mir, ich will euch nicht mehr sehen!“ schreit sie, rennt die Treppe hinauf und wirft mit lautem Krach die Tür ihres Zimmers zu, dass die Gläser im Regal klingen. Erschrocken schaut sie in die Vitrine. Die schönen Gläser können ja nichts dafür, dass sie sich über ihre „Alten“ so ärgern muss. Irgendwelche Spannungen gibt es wohl jeden Tag, wenn sie sich immer noch wie ein kleines Mädchen behandelt fühlt, das nichts kann und dem überall geholfen werden muss. Nur die Schulleistungen zählen, wehe, wenn die nicht mit Eins und Zwei benotet sind.
Da war wieder die verpatzte Mathe- Schularbeit, das Donnerwetter des Vaters, der sie der Undankbarkeit bezichtigt, das unbeteiligte Schweigen der Mutter, mit ihrem in alles ergebenen Blick, und dann vor allem Vaters letzter Satz: Aus dir wird nie etwas.
Das will sie ihm beweisen. Aber nicht hier, wo sie dauernd unter Bewachung steht!
Der Gipfel war dann die Ausgangssperre am Wochenende, wo sie so gern mit ihrer Freundin Elvira den Film gesehen hätte. Aber als sie anrief und sagte, dass sie nicht mit ins Kino dürfe, antwortete Elvira, macht nichts, dann frage ich halt Renate…. Also hat man in der Not nicht einmal eine Freundin, die mit einem leidet, die tröstet und hilft.
„Da kann ich ja gleich ganz allein weg, weit weg von allen, weil mich alle nicht mögen…“ Ja – denen wird sie es schon zeigen! Sie kann allein sein, allein durchkommen, allein leben. Schließlich hat sie viele Abenteuerbücher gelesen und weiß, wie man überleben kann!
Sie weiß auch schon, wohin sie gehen wird. Da war sie im Herbst mit Elvira und deren Eltern auf einer Hütte in den Voralpen, da will sie hin, ganz allein dort leben, mitten in der stillen Bergwelt, die ihr damals so sehr gefallen hat.
Allerdings bedenkt Sabine nicht, dass damals September war, und nun Dezember! Es könnte jederzeit schneien, oder die Hütte schon im Schnee liegen…
Sabine überlegt, ob sie sofort losfahren soll, oder doch noch die Nacht zu Hause verbringen. Eine Stunde Bahnfahrt, dann gut eine Stunde zum Gehen, - ja es könnte noch reichen, dass sie vor Einbruch der Nacht ans Ziel kommt.
Sie packt wichtige Sachen in ihren großen Rucksack. Den warmen Schlafsack, den sie sich zum Geburtstag gewünscht hat, Wollsocken, Handschuhe und Mütze, die Stirnlampe, ein Feuerzeug, Zündhölzer, Lesestoff, ihr Tagebuch. Schwieriger wird es schon, an den Kühlschrank zu kommen, die Mutter ist ja jetzt noch beim Geschirrspülen und der Vater hält im Wohnzimmer sein Mittagsschläfchen, und wenn der sie bemerkt, geht das Donnerwetter von vorn los. Ein glücklicher Zufall kommt ihr zu Hilfe, Vaters Bierkiste ist leer, das heißt, die beiden müssen nachmittags zum Einkaufen.
Nun kann sie sich mit Nahrungsmitteln versorgen, nicht nur aus dem Kühlschrank.
Schwer ist der Rucksack wohl geworden, aber Sabine ist ja stark, - stärker als die anderen glauben.
Gut dass sie weg sind, da kann sie ja ihre Bergschuhe vom Dachboden holen, wo sie eingewintert werden! Gesagt, getan. Mit den dicken Socken sind sie zwar etwas eng, aber sie wird sich schon daran gewöhnen.
Die Fahrkarte löst sie nur in eine Richtung. Ans Zurückkommen will sie nicht denken!
Während der Zugfahrt überlegt sie nochmals den Weg, erste Bedenken melden sich. Findet sie die Abzweigung? Ist der Schlüssel noch am selben Ort? – Ach was, jetzt ist es zu spät, Angst zu haben, es wird schon gehen, vertreibt sie ihre Sorgen.
Ihre Station wird ausgerufen, sie zieht sich an, schultert den Rucksack. Ein freundlicher älterer Herr hilft ihr und meint gutmütig: „Da hast du aber schwer zu tragen“ Bevor er noch weiter fragen kann, bedankt sie sich rasch und steigt aus.
Kalter Wind umweht sie am Bahnhof, der etwas außerhalb des Ortes liegt. Die Mütze tief ins Gesicht gezogen, die Hände in den Taschen des Anoraks, marschiert sie zügig los. So wird es ihr am schnellsten warm, und allzu lange wird es auch nicht mehr hell bleiben, dichte Wolken verdunkeln den Himmel.
Am Waldrand, wo ihr Weg abzweigt, muss sie schon den Reißverschluss des Anoraks öffnen, später zieht sie ihn sogar aus. Das Gehen mit dem schweren Rucksack strengt doch sehr an. Hätte sie Elvira mitnehmen sollen? Aber nein, die ist ja nicht mehr ihre Freundin.
Bei der ersten Bank macht Sabine kurze Rast. Sie packt eine Cola-Dose aus und einen Müsliriegel. Das sollte bekanntlich munter machen und Kraft geben, und die braucht sie jetzt wahrlich. Sie hätte nicht gedacht, dass der Weg so weit wäre! Wie lange ist sie wohl schon gegangen? Gut dass sie das Handy doch mitgenommen hat. Kein Anruf, kein SMS. Sie schaltet es nur ein, um die Uhrzeit zu sehen. Halb vier, in einer Stunde ist es stockfinster, - also keine lange Pause mehr. Der Rucksack scheint schwerer geworden zu sein, bringt sie fast aus dem Gleichgewicht. Es dauert eine Weile, bis sie wieder den richtigen Schritt hat und langsam, um mit den Kräften hauszuhalten, weiter bergan steigt.
Der Wald wird schon lichter, die hohen, alten und dichten Fichten werden mehr und mehr von Lärchen und kahlen Laubbäumen abgelöst. Die Sicht nach oben wäre freier, wenn nicht der graue Himmel erste Schneeflocken auf die Erde fallen ließe. Weiter oben ist es schon grau!
Dichter und dichter rieseln die Flocken, bald ist auch Sabine im Weiß eingehüllt. Den Weg kann sie noch sehen, aber sie muss sich beeilen, noch ein wenig an Tempo zulegen. Auch ohne den Anorak beginnt sie zu schwitzen, ist es etwa Angst?
Nein, daran will sie nicht denken, warum soll sie Angst haben? Sie wird jetzt ihr Abenteuer bestehen, will ans Ziel kommen. Was sollte sie auch tun, umkehren? Auf keinen Fall, nach Hause kann sie nicht mehr, - und will es auch gar nicht! Also, tapfer weitersteigen.
Der Rucksack beginnt zu drücken, die Schulterriemen schneiden ein, er wird immer schwerer. Das Gehen durch den Schnee wird auch schwieriger, ein verborgener Stein bringt sie manchmal ins Straucheln. Was, wenn ich mich hier verletzen würde? Was, wenn ich vom Weg abkomme? Würde mich dann jemand finden und retten? Der Blick aufs Handy zeigt nur sehr schlechten Empfang. - - Und plötzlich ist sie da, die Angst. Müsste ich hier erfrieren? Sie denkt an ihre Geschichten, und wie sich die Trapper Unterstände aus Ästen gebaut oder Löcher in den Schnee gegraben haben. Tapfer versucht Sabine gegen ihre Angst anzugehen, die dunklen Stimmen werden immer lauter.
Gleichmäßig weiß ist die Schneefläche jetzt, als sie aus dem Wald den freien Almboden betritt, und auch schon sehr dämmerig. Eine eintönige, lichtgraue Fläche um sie, so weit, so öde, und sie ist so allein. Heute findet sie es hier nicht mehr schön. Soll sie nicht doch noch umkehren? Der Verstand sagt nein, in stockfinsterer Nacht findest du den Weg durch den Wald nicht mehr. und hinauf kann es nicht mehr weit sein. Noch einmal ein Blick aufs Handy, der Zeit nach dürfte sie ja wirklich nicht mehr weit vom Ziel entfernt sein. Sie überlegt: Sieht man die Hütte eigentlich vom Weg aus? Denn noch scheint sie ja auf dem Weg zu sein, hoffentlich. Was ist, wenn ich die Richtung verliere, die Nacht wirklich im Freien verbringen muss? Ich bin müde, ich kann fast nicht mehr… Immer wieder, immer lauter meldet sich die dunkle Stimme der Angst.
Doch immer weiter steigt Sabine, immer öfter bleibt sie für kurze Atemzüge stehen und hält Ausschau. Auf der Almwiese muss ich schon sein, - und so lang ich auf ihr bin, bin ich noch richtig. Eigentlich ist es gut, dass die Landschaft weiß ist, so ist die dunkle Hütte leichter zu sehen. Diese Gedanken macht ihr Mut. Die Augen gewöhnen sich an das Dunkel, der Blick ist scharf auf den Weg gerichtet, von dem sie nicht abkommen darf. Der müsste genau auf die Hütte zuführen, wenn die Erinnerung sie nicht trügt.
Wieder einmal muss sie rasten, die nächste Cola-Dose auspacken. Iiihh, ist das Zeug jetzt kalt! Bis hinunter in den Bauch spürt sie die Kälte und die Sehnsucht nach einem warmen Platz am Ofen keimt auf, lässt sie weitersteigen, treibt sie zu neuer Leistung. Ja, hier leistet sie was! Was würde der Vater sagen, wenn er sie so tapfer marschieren sähe? Er, der nach einem viertelstündigen Spaziergang über müde Beine klagt? Und Mutter würde hier in der Dunkelheit längst schon vor Angst vergehen…
Plötzlich taucht schemenhaft etwas Dunkles auf, groß, hoch, breit…, nimmt nach weiteren Schritten Konturen an, entpuppt sich – als das Ziel! „Juchuu!“ Doch der vermeintlich laute Juchzer, mit dem sie ihrer Freude Ausdruck geben will, verhallt und verliert sich in der fast grenzenlosen Weite unter dem Himmel, aus dem dicht und weiß der Schnee fällt.
Nun die Taschenlampe raus, wo ist das lose Brett, unter dem der Schlüssel liegt? Unter dem Schnee verborgen. Wo ist eine Schaufel? Irgendwo hinter dem Haus, aber der Schnee ist sehr locker, sie kann ihn mit dem Fuß wegschieben. Endlich findet sie den Platz, den Schlüssel, und mit viel Kraftanwendung gelingt es ihr aufzusperren. Erneut ist Sabine über sich selbst hinaus gewachsen, hat Kräfte entwickelt, die sie zu Hause nie hätte ausprobieren dürfen.
Im Haus ist es, wie enttäuschend, fast noch kälter als draußen. Ein tastender Griff zum Lichtschalter, es gibt keinen! Wieder wird die Taschenlampe eingeschaltet, - wie lange wird die Batterie wohl halten? – da fällt ihr Blick auf eine dicke Kerze am Tisch, das Feuerzeug daneben tut allerdings keinen Dienst mehr. – Gut dass sie eines mithat, und eine Schachtel Zündhölzer auch noch. Denn ob es ihr gelingen würde, wie ihre Abenteuerhelden Feuer zu schlagen, ist sie sich nicht sicher. So also hat sie schon mal heimeliges Kerzenlicht, kann sich im Lichtschein ein wenig orientieren. Sie sieht, dass vor dem Ofen Holz liegt, sogar eine Zeitung.
Der Rucksack steht an die Bank gelehnt, Sabine zieht den schneefeuchten Pullover aus und erstmal den Anorak an, und macht sich ans Anfeuern. Leider brennt es nicht gleich, schon nach wenigen Augenblicken ist das Zeitungspapier verbrannt, ohne das Holz zu entzünden. Sie hält Umschau, ah, da liegen kleine dürre Äste! Ja, die brennen endlich. vorsichtig legt sie Holz nach, erst immer nur Scheit für Scheit, damit die feine Glut nicht gleich wieder erdrückt wird.
Tatsächlich, das Feuer brennt, sie legt nun größere Holzstücke nach, ganz allmählich wird es wärmer. Sabine ist glücklich! Richtig warm wird es ihr, von innen heraus. Dass sie das geschafft hat! Ganz allein, ohne irgend eine Hilfe!
Ihre Lebensgeister kommen zurück, der Erfolg hat die Müdigkeit verdrängt, erst einmal meldet sich der Hunger. Mit etwas müden, steifen Beinen geht sie zum Rucksack, breitet im Schein der Kerze seinen Inhalt auf dem Tisch aus. Aufräumen kann sie morgen bei Tageslicht. Brot mit Streichwurst wäre jetzt was Schnelles. Zum Kochen hat sie keine Lust.
Gleich morgen muss sie als erstes Wasser holen, hoffentlich findet sie die Quelle noch!? Sonst müsste sie Schnee schmelzen. Für heute hat sie genug geleistet, bald wird sie sich in ihren Schlafsack wickeln, ein paar Decken drüber legen, und dann hoffentlich gut schlafen. Das ist für diesen Tag ihr letzter Wunsch.
 
 
ChA 04.01.2014

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