Christa Astl

Sabines Überlebenskunst Teil 4



 
Abstieg und Heimkehr
 
 
Diese Nacht schläft Sabine nicht gut. Immer wieder hört sie den Hubschrauber über sich kreisen, der sie holen will, der sie aus ihrer Idylle entführen will. Männer seilen sich ab, kommen aufs Haus zu, ins Haus herein, die Türe hat sie nie versperrt, ziehen sie aus dem Bett, fesseln sie… Sie kann sich nicht bewegen, wird wach, erkennt, dass sie sich in einer der Decken verfangen hat.
Draußen ist es noch dämmrig, aber ein schöner Tag ist schon zu erkennen. .
Sabine will nicht mehr schlafen, die Angst, welche ihr der Traum einflößte, steckt ihr in allen Knochen. Sie schaltet das Handy ein, will nach der Uhrzeit sehen. Heute will sie ja absteigen, dann mit dem Zug heimfahren, da muss sie sich wieder nach einer Uhr richten. Als ob das Telefon darauf gewartet hätte, läutet es sofort. Dieselbe unbekannte Nummer wie gestern. „Hallo?“ Sie merkt, wie die Stimme zittert. Des Redens ungewohnt oder vor Angst? Ein Mann antwortet: „ Bist du Sabine Müller, die seit Freitag von zu Hause abgängig ist? Du bist wohl in Bergnot und wir möchten dich holen und nach Hause bringen…“ - Lasst mich in Ruhe, kommt bloß nicht hierher, - denkt Sabine, doch ruhig antwortet sie: „Ja ich bin Sabine Müller. Mir geht es gut. Ich bin in einer Hütte und steige heute ab ins Tal. Bitte holt mich nicht!“
Noch einmal versucht der Mann, sie zu überreden, sich doch bergen zu lassen, doch Sabine bleibt bei ihrem Entschluss: Ich bin allein herauf gekommen, ich komme auch allein zurück.
Jetzt steht der Entschluss fest. Sie muss absteigen. Gemischte Gefühle streiten in ihr. Einerseits würde sie gerne hier bleiben, dieses stille Leben in der Natur behagt ihr sehr. Wenn nicht gerade körperliche ermüdende Arbeit zu tun ist, hat sie Zeit zum Nachdenken. Über ihr Zuhause, die Forderungen und Wünsche ihre Eltern, ihr eigenes Verhalten ihnen gegenüber, über ihre Stellung innerhalb der Klasse, ihr Verhältnis zur Schule überhaupt, und über ihr zukünftiges Leben. Hier in der Einöde ist ihr schon bewusst worden, worauf es ankommt, was zum Leben wichtig ist. Alle materiell erwerbbaren Dinge fehlen ihr hier, trotzdem ist sie glücklich. Nicht einmal in ihr mitgebrachtes Buch hat sie geschaut. Sogar das Tagebuch war im Rucksack geblieben. Tagsüber hatte sie keine Zeit, die Abende mit Kerzenschein waren zum Schreiben und Lesen nicht geeignet. – Macht nichts, zu Hause hat sie Zeit, aus der Erinnerung zu schreiben, da kann sie ihr Erleben nochmals Revue passieren lassen.
Noch einmal einheizen, einen Holzvorrat zum Ofen legen – will sie denn wieder kommen? Vielleicht, aber sie hatte ja auch gleich Heizmaterial vorgefunden, so soll es auch der nächste haben.
Die aufgewärmten, gezuckerten Nudeln schmecken zwar nicht so besonders zum Frühstück, ebenso wie der warme Marmeladensaft, aber so fällt ihr der Abschied leichter. Den letzten Rest der noch vorhandenen Dörrfrüchte packt sie als Marschverpflegung in den Rucksack.
Dann räumt sie die Hütte auf, auch die Nächsten sollen den Ort sauber vorfinden. Als Entschädigung für die verbrauchten Lebensmittel legt sie zwanzig Euro auf den Tisch. Mit Beklemmung denkt Sabine aber daran, dass die Nächsten nichts Essbares mehr vorfinden. Was sollen sie hier mit Geld?
Ein neuer Plan reift in ihr: Ich komme wieder und fülle das Regal auf. Vielleicht begleiten mich die Eltern?
Der Rucksack ist diesmal um einiges leichter, als Sabine ihn schultert. Noch einmal überprüft sie, ob das Feuer im Ofen erloschen ist, dann versperrt sie die Türe, und legt den Schlüssel unter das dafür bestimmte Brett.
Ein Blick rundum, ein etwas wehmütiger Abschied, der sie für Momente traurig werden lässt, dann gibt sie sich einen Ruck, wendet sich ab und steigt langsam auf dem am Vortag bearbeiteten Weg ab.
Die Raben krächzen ihren Abschiedsruf, Sabine winkt ihnen zu wie Freunden. Das Eichhörnchen lässt sich diesmal nicht sehen, die beiden Goldhähnchen wispern leise, als sie an ihrem Baum vorüber geht.
Noch ist blauer Himmel über ihr und Sonnenlicht um sie, doch wieder türmt sich ein Wolkengebirge heran, das die Sonne bald verdeckt.
Ihr präparierter Weg ist gut zu begehen, sie sinkt kaum ein. Ein paar Mal dreht sie sich noch um, wendet sich grüßend zur Hütte zurück, die immer kleiner und ferner erscheint. Als Sabine den Wald erreicht, wirkt der dunkle Holzbau wie ein kleiner Punkt einsam und verlassen in all dem Weiß. Wie um das Gefühl der Verlassenheit zu verstärken, ist auch der Himmel bedeckt und erste Flocken fallen nieder. – Jetzt könnte es mich wieder einschneien, und ich hätte die Arbeit noch einmal – denkt Sabine im Weitergehen.
Sie hat das Ende des am Vortag präparierten Weges erreicht. Die Schneeschaufel hat sie nicht mehr mitgenommen, hat sie eigentlich ganz vergessen. Das rächt sich nun, nie hätte sie gedacht, dass im Wald, unter den Bäumen so viel Schnee liegt! Unbekümmert und ein wenig unaufmerksam ist sie in den ersten Schneehaufen, den die Äste abgeschüttelt haben, geraten. Beim Sturz rutscht der Rucksack nach vor und über ihren Kopf und drückt sie mit dem Gesicht in den Schnee, denn sie hat den Bauchgurt nicht geschlossen. Mühsam wälzt sie sich wieder heraus und versucht auf die Beine zu kommen. Gottlob, alles heil geblieben, aber alles voll Schnee. Vor allem mal Rucksack runter, den Schnee entfernen, auch Anorak, Mütze und Handschuhe sind zum Ausräumen. Unangenehm ist der Schnee in den Stiefeln, der dort sofort taut.
Vorsichtig geht Sabine weiter, ein Sturz könnte ja auch schlimm enden, hier im Wald könnte sie kein Hubschrauber mehr holen. Sie bricht einen dürren Ast von einer alten Buche, um die jeweilige Schneetiefe vor jedem Schritt zu sondieren. Manchmal kann sie so eine Schneegrube umgehen. Auf diese Weise dauert der Weg durch den Wald doch länger als erwartet. Der wolkenbedeckte Himmel lässt die Dämmerung noch früher eintreten, und es schneit jetzt sehr dicht.
Als Sabine endlich den Wald verlässt, weisen ihr einige Straßenlampen den Weg. Noch ist es ein gutes Stück bis zum Bahnhof.
Da bleibt ein Auto neben ihr stehen. Sabine bekommt Angst, Angst vor dem ersten Menschen, den sie nach längerer Zeit wieder trifft. Dankend lehnt sie sein Angebot sie mitzunehmen ab.
Obwohl Sabine sehr müde ist, jetzt will sie sich in keine Gefahr mehr begeben. Am Bahnhof hat sie großes Glück, denn in nur zehn Minuten kommt ihr Zug. Gerade noch Zeit genug, um den Eltern ihre Ankunft anzukündigen.
Oh Schreck – das Handy geht nicht mehr, der Akku ist leer.
Der Zug ist recht gut besetzt, Sabine findet aber noch einen Platz. Ein freundlicher älterer Mann hilft ihr, den Rucksack in das Gepäckfach hinauf zu heben. Teilnehmend fragt er nach ihrem Weg, und auf ihre Frage leiht er ihr sein Handy, damit sie zu Hause anrufen kann. Natürlich meldet sich keiner, sie spricht ein paar Sätze aufs Band. - -
Aber am Bahnhof erkennt sie von weitem schon den karierten Anorak ihres Vaters und daneben die Mutter, wie üblich in schwarzem Mantel und ihrer alten lila Mütze. Fast erdrückend erscheint ihr die Umarmung des Vaters, die Mutter wischt sich Augen und Nase mit einem Taschentuch, das Vater ihr reichen muss.
Jetzt erst bemerkt Sabine ihre Müdigkeit. Im Auto schläft sie fast ein, es wird wenig gesprochen. Der Vater muss sich auf den Verkehr konzentrieren.
Erst bei einer Tasse heißen Kakao beginnt Sabine zu erzählen und die Eltern hören beide still zu. Mutter will zwar fragen, warum sie ihnen das angetan habe, doch Vater beruhigt sie. Dann nimmt er seine Tochter nochmals in den Arm und sagt: Gut hast du das gemacht, meine Große! Mutter hingegen streichelt sie und meint: Bin ich froh, dass du wieder da bist, mein Kind.
Am nächsten Schultag ist Sabine natürlich die Hauptperson. Immer und immer wieder muss sie berichten, erzählen und alle Kleinigkeiten erwähnen. Als sie zum Schluss sagt, dass sie so bald wie möglich nochmals hinauf muss, um Lebensmittel hinzubringen, erklären sich einige bereit, mitzugehen.
Das wird am drauffolgenden Sonntag ein fröhlicher Zug, und alle sind sichtlich beeindruckt von einem Leben in so einer Bergeinsamkeit.
 
 
ChA 22.01.14
 
 
 
 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 24.01.2014. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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