Irene Beddies

Wendel: Heimweh





Es war inzwischen längst Frühling.
Wieder einmal schwebten die Gespenster um die Häuser und schauten in die noch erleuchteten Fenster, um zu sehen, was die Menschen, die noch nicht schliefen, so trieben.
Hinter einem Fenster sahen sie einen alten Mann an einem Tisch sitzen. Vor ihm lagen dicke  Bücher. Manche waren aufgeschlagen. Zeichnungen von Häusern und Kirchen sah man darin. Auf einem Nebentisch lagen mehrere Papierrollen und Zeichenstifte. An der Wand gegenüber dem Fenster hing ein großes Bild. Ein prächtiges Schloss mit vier Türmen in einem großen Garten war darauf zu sehen.

„In einem ähnlichen Schloss habe ich gelebt, ehe ich zu dir kam“, erzählte Kasimirius, „dorthin will ich zurück.“
„Du willst wieder weg?“, staunte Wendel, „gefällt es dir nicht bei mir und der Eule?“
„Doch, schon. Aber ich habe Heimweh. Wenn ich das Bild hier sehe, merke ich wie sehr.“
Bekümmert schaute Kasimirius seinen Freund an. „Es war so schön dort“, erklärte er.
„Erzähle mir davon“, bat Wendel.
„Also, mein Bett war in einer kostbaren Truhe. In der liegt das Spitzenkleid einer Prinzessin. Die Truhe steht oben in einem Turm. Eine Wendeltreppe führt zu dem Zimmer, aber kein Mensch benutzt sie mehr. Es scheint mir, die Menschen haben vergessen, wo die versteckten Zimmer sind.“
„Lebtest du ganz allein in dem Schloss?“, fragte Wendel neugierig. „Ist das nicht langweilig?“
„Nein, nie. Es leben dort Menschen. Sie leben unten in den großen Räumen. Oft schwebte ich nachts durch einen offenen Kamin und sah mir die Räume an. Sie sind voll mit alten dunklen Möbeln, großen Spiegeln und wunderschönen Vasen. Am schönsten sind die vielen alten Bilder in ihren goldenen Rahmen. Auf ihnen sind all die vornehmen Leute abgebildet, die hier vor langer Zeit gelebt haben. Edle Damen in komischen Kleidern, Ritter auf ihren Pferden und Männer mit weißen Perücken und goldenen Spazierstöcken. Ab und zu auch ein Kind mit seinem Spielzeug oder einem Hündchen auf dem Schoß. Das schönste Bild war aber das Bild von Kasimirius, dem Starken....
Die Leute, die heute im Schloss wohnen, sehen aus wie alle Menschen hier in der Stadt. Sie müssen aber reich sein, denn sie feiern oft Feste mit vielen Gästen.“
„Konntest du denn die Leute erschrecken?“
„O ja, sie glaubten, dass eine Dame, die auf dem Bild in einem blauen Kleid zu sehen ist, im Schloss spukt. Man erzählt, sie war in ihrem Leben sehr grausam und hat ihren Mann vergiftet. Zur Strafe kann sie keine Ruhe finden. Das ist natürlich Unsinn. Aber ich machte mir das zunutze. Wenn Gäste über Nacht im Schloss blieben, schwebte ich in ihre Zimmer und erschreckte sie. Dann rannten sie schreiend auf die Korridore, bis die Besitzer kamen und sie beruhigten. Oder sie blieben stocksteif in ihren Betten mit der Deck über dem Kopf.“
„Glauben denn alle in deiner Gegend an Gespenster?“ fragte Wendel.
„Nein, nicht alle. Einmal war da ein Mädchen. Es war allein im Zimmer, denn die Erwachsenen feierten unten im Spiegelsaal. Als ich in das Zimmer kam und anfangen wollte, schrecklich zu rufen und zu heulen, da saß das Mädchen auf der Bettkante. ‚Auf dich habe ich gewartet‘, rief es gleich als es mich sah, ‚du musst mir erzählen, wie man es macht, dass man ein Gespenst wird. Hast du wirklich deinen Mann vergiftet?‘
‚Ich bin nicht der Geist der unglücklichen Dame‘, antwortete ich, ‚ich bin nur ein Gespenst und war immer eines.‘ ‚Woher weißt du das? Bist du als Gespenst geboren worden?‘ ‚Das weiß ich nicht. Ich glaube, Gespenster werden nicht geboren, denn sie haben keine Mutter‘, erklärte ich. ‚Wie traurig‘, sagte das kleine Mädchen und sah mich nachdenklich an.“

„Und dahin willst du nun zurück? Kennst du denn den Weg dorthin?“
„Ja. - Nein. Ich habe aber doch solche Sehnsucht nach einem Schloss. Ich werde so lange suchen, bis ich eins gefunden habe. Es braucht nicht das zu sein, von dem ich komme. Ein anderes Schloss ist sicher auch interessant. Ich könnte dort viel Neues erleben.“
„Und wann willst du auf die Suche gehen?“
„Am liebsten gleich. Aber erst bleibe ich noch einen Tag, denn bald ist die Geisterstunde zu Ende. Da schlafe ich lieber noch einmal bei dir im Pappkarton.“

(c) I. Beddies

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 28.01.2014. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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