Henning Besuden

Der Projektor

Ich drückte den Korken in die Rotweinflasche, und die Fontäne dekorierte mein weißes Hemd. Ungerührt startete ich den Computer und ging auf Ebay. Dort fand ich schöne alte Bücher, alte Münzen, antike Arbeitsgeräte, ein stark zerschlissenes Harmonium, alles was der Mensch so mal gebraucht hat. Nach dem dritten Glas Wein fiel mir ein, dass ich ja noch den Malt-Whisky für besondere Gelegenheiten im Keller versteckt hatte.

 

Zehn Minuten später saß ich hoch zufrieden auf meinem Sofa und trank das sündhaft teure Zeug aus einem guten alten Senfglas.

 

„Ich weiß, dass ich keinen Stil habe, aber wenigstens das kultiviere ich“,

 

sagte ich in die mich umgebende Stille hinein. Sabine war weg. Nachdem ich sie betrogen hatte, kam sie mit ihren besten Freunden, einer Armada von Frauenverstehern, immer der erste Teil des Duos 'einer zum reden und einer für die Liebe', und räumte die Wohnung aus. Es war ein klarer Schlussstrich, obwohl die Hälfte der Klamotten mir gehörte. Ab dafür - das Leben geht weiter.

 

Es war so schön ein Macho zu sein, aber ich vermisste sie furchtbar.

Also trank ich noch ein Glas auf Ex.

 

Ich stöberte weiter in Ebay nach unnützem schönen Zeug, und der Alkohol verbesserte meine Situation zwar nicht, verschönerte sie aber wesentlich.

 

Dann sah ich das Foto von diesem wunderschönen alten Kinoprojektor.

Hundert Euro, das war ja nichts für so ein mechanisches Meisterwerk - Mein Jagdinstinkt war geweckt.

Ich las mir die Beschreibung durch und – verstand nur 'Bahnhof'.

 

Dann schaute ich nach, wer sonst noch darauf bot – niemand.

Ein echter Glücksfall. Ich war wirklich aufgeregt. Ein Projektor und ein Film, das würde ein Spaß. Ich drückte auf 'bieten'.

Im nächsten Fenster konnte ich mein Gebot abschicken – ach was soll's : Hundertfünfzig Euro.

Und ab dafür!

Ich merkte wie der Alkohol mich so langsam ins andere Land hinüber gleiten ließ.

Ich schaffte es gerade noch, den Computer abzuschalten und mich auf dem Sofa langzumachen.

Dann verabschiedete sich die Welt.

 

 

Der Wecker klingelte am nächsten Morgen direkt durch mein Ohr in die wunde Stelle in meinem Gehirn. Ich fiel vom Sofa bei dem Versuch den Aus-Knopf zu finden. Der grelle Ton und der resultierende Schmerz ließen das Adrenalin durch meinen Körper schießen.

Ich sprang mit einem Schrei auf, schnappte das Mistvieh und schmetterte es gegen die Wand – Stille.

 

Manchmal ist die Pause die schönste Musik.

 

Oh, Kopfschmerz. Warum muss alles was Spaß macht immer so schlimme Folgen haben?

Ich rief bei der Arbeit an und sagte, dass ich mich nicht wohlfühle.

Nachdem ich beschlossen hatte, den Tagesbeginn noch ein wenig hinauszuzögern, legte ich mich wieder hin.

„So Kinder, und jetzt könnt ihr mich mal alle ganz doll gern haben.“

Als ich ausgeschlafen hatte, ging ich in das Café gegenüber und bestellte mir ein Frühstück.

Es war schon drei, aber Betti machte eine Ausnahme – was für ein Schatz, dieses Lächeln, diese Löckchen... Sie war das Schönste an dieser ganzen Stadt.

Ich genoss das Omelett und den Kaffee und ging zurück in die Wohnung.

 

Nachdem ich den Computer hochgefahren hatte, checkte ich meine Emails -

Werbung, Viagra, leichtes Geld – der übliche Unsinn.

'Wollen sie die 23 Nachrichten wirklich löschen?' - worauf du wetten kannst, du dämlicher Blechkopf.

Ebay – mir schwante Böses als ich die Mail öffnete.

Der Projektor – ich las mir die Beschreibung nochmal durch – 2 m hoch, und anderthalb Meter breit, einen halben Meter tief, 360 V Starkstrom, und ein Teil fehlte – Mist.

 

Na ganz Klasse, und wenn sich nicht irgendein anderer Idiot fand, der mich überbot, hätte ich den ganzen Kram nächste Woche in meiner Wohnung.

Was mich wirklich wunderte war, dass mir der Projektor kostenfrei angeliefert wurde.

Ich hätte den Whisky nicht trinken sollen, aber – Geschichte wird nicht im Konjunktiv geschrieben.

Am nächsten Tag ging ich wieder zur Arbeit. Im Laufe der Woche vergaß ich die Sache.

 

Dann kam der Tag der Entscheidung. Ich setzte mich an den Computer und öffnete meinen Maileingang.

 

„Herzlichen Glückwunsch!“

 

Ach du liebe....

Ok, was konnte ich machen? Ich musste wahrscheinlich alle Filmliebhaber des Planeten kontaktieren, um diese Monstrosität wieder loszuwerden. Morgen würde mir das gute Stück angeliefert werden.

 

Und tatsächlich, um zwei Uhr klingelte es an meiner Tür, und ein müder, aber sehr freundlicher Mann fragte mich nach meinem Namen und ließ mich dann eine Empfangsbestätigung unterschreiben.

Dann hörte ich nach fünf Minuten das Keuchen mehrerer Männer im Flur. Als sie in Sicht kamen – es waren vier- sah ich die große Holzkiste, und freute mich aus mir unerfindlichen Gründen.

Das waren die besten Möbelpacker der Welt, sie machten mit der riesigen Kiste nicht einen einzigen Kratzer im Flur.

 

Dank Kanzler Schröder und der Aussetzung der Mindestlöhne waren sie wahrscheinlich vollkommen unterbezahlt, und trotzdem gaben sie ihr Bestes – Respekt.

 

Das Riesengerät stand einige Augenblicke später in meinem Wohnzimmer und ich machte den Männern erst einmal einen Kaffee. Die Tür ging auf, und ein trat ein älterer Herr im grauen Mantel und mit italienischem Hut.

 

Er sah mit aus eisgrauen Augen an und überreichte mir einen dicken Umschlag.

„Hier, für ihre Umstände.“

 

Ich öffnete den Umschlag – er enthielt fünfzehntausend Euro.

 

Der erwartungsvolle Blick des Mannes überzeugte mich davon, dass entweder das Gerät oder der Film weitaus mehr wert waren.

Er schien meinen Verdacht zu spüren, und sein Blick verfinsterte sich, während er einen zweiten Umschlag aus seinem Mantel zog:

 

„Also gut, mein Lieber - dreißig Tausend.“

 

Seine Augen bohrten sich gleichsam in meinen Kopf. Sie duldeten keinen Widerspruch.

 

„Mein letztes Angebot. Ich hole das Gerät und den Film übermorgen ab. Sie behalten das Geld und sehen mich nie wieder.“ Dann kam er etwas näher.

 

Wenn übermorgen etwas fehlt, und sei es nur eine Schraube...“

 

Jetzt umringten mich die Möbelpacker,

 

„...dann sehen Sie mich wieder, und es wird das Letzte sein, was Sie sehen.“

 

Ich konnte mich der Argumentation des Mannes nicht verschließen.

Ich nickte und lächelte.

 

„Ok!“

 

Jetzt lächelte er auch und bedeutete den Männern zu gehen.

Er wand sich zum Gehen, blickte aber nochmal zwinkernd zurück.

 

„Übermorgen.“

 

Ich zwinkerte zurück.

 

„Übermorgen“

 

Danach schenkte ich mir mit zittrigen Fingern ein Glas Whisky ein und trank es in einem Zug.

Diese Wohnung hatte in letzte Zeit einfach zu viele Möbelpacker gesehen...

 

Ich prostete der großen Kiste von meinem Sofa aus zu:

 

„Prost, mein Guter. Reich oder tot“

 

Wenigstens war ich die Kiste wieder los. Jetzt musste ich nur noch meine verdammte Neugier in den Griff kriegen. Warum hatte er mir für dieses Monstrum so viel Geld gegeben und nicht einfach geboten?

 

 

Ich wachte am nächsten Morgen so gegen halb zwölf auf dem Sofa auf. Ich war vollkommen ausgeruht, nachdem ich traumlos geschlafen hatte. Dadurch dass meine liebe Ex-Freundin alles mitgenommen hatte war das Wohnzimmer sehr schön übersichtlich eingerichtet. Nur stand in der Mitte dieser riesige Projektor. Aber nachdem ich das Sofa ein wenig verschoben hatte, war der Blick auf den Fernseher wieder frei.

 

Das Programm war langweilig, also machte ich mich mit Hilfe der Fernbedienung auf die verzweifelte Suche nach einem wenig Abwechslung. Auf einem Privatsender lief ein tschechoslowakisches Märchen, das allerdings rüde durch irgendeine dämliche Handywerbung unterbrochen wurde. Ich würde mir dieses Märchen hart erkämpfen und alles schlucken müssen, was der moderne Mensch verdammt nochmal für gut und teuer zu halten hatte.

Ich hielt zehn Minuten Werbung tapfer durch. Dann war ich einfach gezwungen umzuschalten – die deutsche Fernsehwerbung ist einfach unterirdisch.

 

Ah, Nachrichten, da blieb ich drauf. Plötzlich sah ich die Gesichter des Alten und seiner Möbler-Kollegen im Fernsehen - sie waren alle tot.

Jetzt war ich hellwach. Ich hatte Angst und merkte, wie die Panik in mir aufstieg. Schon der Alte hatte mir unmissverständlich zu verstehen gegeben, dass mit ihm nicht zu spaßen war.

Und nun war er getötet worden, wahrscheinlich von Leuten,

deren Sinn für Humor noch weniger ausgeprägt war als seiner.

 

Das konnte nur eines heißen – ich musste verschwinden, und zwar schnell.

 

Mein erster Gedanke war, das Geld, ein paar Klamotten und meine elektrische Zahnbürste zu schnappen, und ein Loch in der Landschaft zu hinterlassen.

Aber dann fiel mein Blick auf diese große Kiste in der Mitte meines Wohnzimmers.

Sie stand einfach nur da.

Ich hatte den Fernseher ausgeschaltet und starrte auf diese Kiste in der Mitte des Raumes –

volles Programm, keine Werbung.

 

Dann nahm der Gedanke Gestalt an. Ich musste diese Kiste zum Laufen bringen, koste es was es wolle. Vier Menschen – ihrerseits bereit zu töten – waren getötet worden für dieses Ding. Es musste etwas Atemberaubendes damit auf sich haben.

 

Ich musste schnell handeln. Also erst mal duschen, das macht den Kopf klar.

Als ich sauber und angezogen war, ging ich rüber zu Betti und ließ mir dieses wundervolle Lächeln und ein Frühstück servieren.

Danach ging ich zum Supermarkt und besorgte mir Proviant und Hygieneartikel aller Art, vom Klopapier über Shampoo bis zu neuen Aufsätzen für meine Zahnbürste. Dann rief ich Frank an und fragte ihn, ob er mir für zweitausend Euro seinen VW Kastenwagen für einen Monat leihen würde.

 

Seine Reaktion kam prompt: „Alter, hast du gesoffen?“

 

„Schlimmer, ich bin vollkommen klar, und du darfst es niemandem erzählen.

Zweitausend, wenn der Kübel in zehn Minuten vor meinem Haus steht.“

 

Kurze Pause, dann: „Gebongt.“

 

Ich liebe Pragmatiker.

 

Ich rief einen Entrümpler aus Bremen an.

 

„Wenn Sie es schaffen, mir in exakt einer halben Stunde vier ihrer besten Leute zur Verfügung zu stellen, gebe ich ihnen dreitausend Euro cash auf die Hand.“

 

Kurze Pause. „Adresse?“

 

Ich liebe Pragmatiker.

 

Eine Stunde später saß ich hinter dem Steuer des Kastenwagens und war auf der Flucht, mit einem mörderischen Geheimnis in einer Kiste, die ich irgendwie zum Laufen kriegen musste. Irgendeine aus Langeweile oder Gewohnheit zog ich mein Handy – eine Nachricht.

 

Ich fing an zu lesen – Lieber Himmel!

 

Um keinen Unfall zu bauen, verließ ich die A1 und fuhr auf den nächsten Parkplatz.

 

„Wenn Sie diese Nachricht erhalten, haben Sie die richtige Entscheidung getroffen.

 

Wir müssen das Gerät reparieren und den Film abspielen.

Ich habe meinen Anwalt informiert. Mobil: 0160 102 39 38.

Er kann ihnen weiter helfen. Beeilen Sie sich.

Sie werden die Welt verändern, mein Lieber .“

 

Das war das erste Mal, dass ich mit dem Alten in Kontakt trat.

Ich rief den Anwalt an, und der wies mich, an sofort mit meiner Fracht nach Brünn, Tschechien zu fahren.

Ich kannte die Stadt noch aus meiner Zeit als Call-Center-Agent und hatte sie lieben gelernt.

 

Am nächsten Tag checkte ich im Hotel Moravka ein und genoss erstmals seit Jahren wieder die Atmosphäre der Stadt.

 

Dann fing ich so langsam an, mir eine Wohnung zu suchen. Ich fand ein ausgebautes Dachgeschoss, dass mir genug Platz bot. Es war etwas heruntergekommen, hatte aber eine Küche, ein Bad und vor allem ein geräumiges Wohnzimmer, in dem ich den Projektor aufbauen konnte. Der 360-Volt-Anschluss war in der Küche. Ich zog also los und besorgte mir ein Verlängerungskabel, das bis ins Wohnzimmer reichte. Dann bestellte ich mir ein paar Möbler, die mir die Kiste aus dem Bus in die Wohnung brachten.

 

„Sollen wir die Kiste aufmachen?“

 

„Nein danke, das mache ich später.“

 

Sie gingen mit fröhlichen Gesichtern, da sie dachten, ich wüsste nicht, was ich ihnen gezahlt hatte.

 

Der eine gab mir seine Karte.

 

„Wenn du irgendwas brauchst...?“

 

Nachdem Sie gegangen waren fing ich an, mein neues Reich aufzuräumen. Als ich fertig war fuhr ich zum Supermarkt und kaufte Proviant für die nächsten zwei Wochen ein – vierzehn Dosen Westernbohnen, Zahnpasta und Shampoo.

Der nächste Halt war beim Baumarkt. Ich liebe Baumärkte, vor allem die Abteilung mit den Äxten -

ich weiß auch nicht warum.

 

Eigentlich brauchte ich nur ein Stemmeisen und ein Teppichmesser, um die Kiste zu öffnen. Aber ich schlenderte ein bisschen herum.

 

Am Abend, nachdem ich meine Schätze im Kühlschrank, im Badezimmer und im Wohnzimmer verteilt hatte setzte ich mich auf das Sofa und betrachtete diese riesige Kiste, die sich rein von den Ausmaßen einfach gigantisch gegen den Rest der Wohnungseinrichtung abhob.

 

Ich saß einfach nur da und genoss den Anblick.

Dann holte ich mir ein Bier aus dem Kühlschrank und prostete dem Rätsel in der Kiste zu, das schon vier Menschen das Leben gekostet hatte.

 

„Morgen pack' ich dich aus, Baby!“

 

Dann trank ich den ganzen Abend Bier und genoss dieses wunderbare Geheimnis.

 

 

Am nächsten Morgen frühstückte ich, als ich ein schabendes Geräusch an meiner Eingangstür hörte.

Ich lief in den Flur – jemand hatte einen Brief unter der Tür hindurchgeschoben.

 

Ich nahm ihn auf. Mein Name – diese Adresse, kein Absender.

 

Ich hoffte nur, dass es der Absender der SMS war. Ich hatte irgendwie den Eindruck,

dass er mich nicht töten würde.

 

Ich ging mit Herzklopfen zurück ins Wohnzimmer und öffnete den Umschlag.

Ein Gedanke beherrschte mein Hirn – Ich hatte alles falsch gemacht.

 

Ich hätte das Geld nehmen und verschwinden sollen, ich gottverdammter Idiot.

 

Ich öffnete den Brief mit zittrigen Fingern.

 

(Anrede)

 

„Ich habe ihre bisherigen Schritte mit großem Interesse verfolgt, und freue mich, Sie in diesem günstigen Augenblick kontaktieren zu können. Der tragische Tod meines langjährigen Konkurrenten hat mich gewissermaßen auf ihre Fährte gebracht. Um eines von vornherein klar zu stellen:

 

Ich war es nicht, und ich bedaure es zutiefst.

In ihm hatte ich einen wunderbaren Gegner, an dem ich wachsen konnte.

 

Aber nun zu den Dingen, die getan werden müssen.

Wir brauchen einen Saal mit einem Starkstrom-Anschluss, in dem der Projektor nach seiner Reparatur laufen kann, und wir uns den Film anschauen können, der wahrscheinlich bereits in den Projektor eingelegt ist.

 

Wir können die entsprechenden Arrangements gerne zusammen treffen. Sie haben sich durch ihr entschlossenes Handeln meine Sympathie erworben.

Seien Sie bitte morgen Mittag an der Uhr auf dem Platz der Freiheit.“

 

Ich war sehr beruhigt, dass ich nicht sterben würde – wenigstens nicht umgehend.

 

 

Am nächsten Tag stand ich neben diesem phallischen Ungetüm von einer Uhr auf dem Platz der Freiheit in Brünn und konnte nicht eine Sekunde in die Zukunft planen. Wenn sich jemand aus diesem gleichförmigen Strom von Menschen gelöst und mich erschossen hätte, wäre ich nicht im Mindesten erstaunt gewesen.

 

Dann kam ein kleiner, älterer Herr im dreiteiligen Anzug auf mich zu.

 

Die Außentemperatur betrug dreißig Grad im Schatten, und er trug einen Dreiteiler mit Schlips. Während er lächelnd auf mich zukam und mir die Hand drückte, schwitzte er nicht im mindesten.

 

Er lachte offen bei der Begrüßung:

 

„Schön, Sie endlich zu treffen, was für ein Bubenstück. Ich bewundere ihren Mut.

Dann das Ding mit der Flucht – toll.“

 

Seine stahlblauen Augen leuchteten, sein Gesicht war ein einziges freundliches Faltenmeer.

 

Ich mochte den Mann auf der Stelle.

 

Er rieb sich die Hände.

 

„So, nun wollen wir mal den Apparat begutachten. Wenn Sie mir bitte zu meinem Automobil folgen möchten?“

 

Ich folgte dem Mann zu seinem Automobil. Er war Teil einer aussterbenden Art – er war ein kultivierter Mensch.

 

Nach einer gründlichen Inspektion machte er ein paar Anrufe auf Tschechisch. Sein Ton war freundlich aber so bestimmt, dass Widerspruch einfach undenkbar war. Es war Teil seiner natürlichen Autorität.

 

Dann klappte er sein Telefon zu, ein klassisches Handy – kein Smartphone – ich mochte diesen Mann.

 

Gegen Abend waren wir wieder auf dem Platz der Freiheit. Wir saßen in einem der Cafés und tranken Bier. „Sie haben wirklich Mut junger Mann. Mein lieber Herr Pferd!“

 

Er hob sein Glas und wir stießen an. „Sie wissen ganz offenbar nicht, mit wem Sie sich angelegt haben, geschweige denn, worum es geht, sonst hätten Sie das Geld genommen und wären gerannt wie ein Hase.“

 

Ich muss sehr perplex drein geschaut haben, denn er machte eine beschwichtigende Geste.

 

„Solange es mich gibt, wird sich niemand an Sie heranwagen. Ich gelte in unserem Gewerbe als Alpha-Tier. Aber Sie junger Teufelskerl halten die Karte zu einem Wissensschatz in ihren Händen, den Sie sich wahrscheinlich gar nicht vorstellen können.“

 

„Was für eine...?“

 

„Der Projektor! Als ich das Gesicht von Kromminek in den Nachrichten sah, wusste ich, dass die Russen ihn auf dem Gewissen haben.“

 

Mir war schwindelig.

 

„Sehr geehrter Herr... wie auch immer,

 

Setzen Sie mich bitte ins Bild, ich verstehe kein Wort von dem, was Sie mir sagen.“

 

Er überlegte kurz. Dann nickte er.

 

„Mein junger Freund. Stellen Sie sich den größten Wissensschatz der Welt vor. Schreiben Sie

'Bibliothek von Alexandria' und dahinter eine hochgestellte Zwei. Oder besser noch -

nehmen Sie ein Schachbrett. Legen Sie auf das erste Feld eine Information von wissenschaftlicher Bedeutung. Auf das nächste Feld legen Sie zwei wissenschaftlich relevante Informationen, auf das nächste vier, auf das nächste, sechzehn ... und so weiter. Auf dem letzten Feld werden Sie einen Wissensschatz von immensem Ausmaß finden.“

Ich schüttelte den Kopf.

 

„Ich glaube nicht mal, dass das Ding noch funktioniert.“

 

Der Blick den er mir darauf hin zuwarf ließ das Blut in meinen Adern gefrieren.

 

„Ich weiß, dass das Ding momentan nicht funktioniert.“

 

„Ja, aber dann wird dieser Schatz wohl nicht gehoben werden, oder?“

 

Ich war übermütig, wollte ihn provozieren. Keine Ahnung, was mich da ritt.

 

Einen Augenblick lang rang er um Fassung. Dann erschien wieder dieses milde großväterliche Lächeln auf seinem Gesicht.

 

„Ich weiß wie das Ding funktioniert, denn Ich halte das Patent.“ Er zwinkerte mir zu.

 

„Was daran ist ihr Patent?“

 

„Der holographische Projektor.“

 

„Ich denke, so in zwei Jahren werde ich mal wieder den Markt revolutionieren.“

 

„Sie belieben zu scherzen.“

 

Sein Gesicht blieb ernst.

 

„Aber wie ist das Ding dann auf Ebay gelandet?“

 

„Tarnung, mein Lieber. Es ist ein ganz normaler Projektor, solange ich nicht das Zusatzgerät anschließe. Solange machen selbst die Filmrollen den Eindruck, als habe der Zahn der Zeit sie zerstört.“

 

Aber wie wollen Sie...“

 

Er sah mir fest in die Augen und nahm meine Hand.

 

„Ich weiß alles über dieses Gerät, und hatte ein ganzes Leben lang Zeit, mich auf diesen Augenblick vorzubereiten.“

 

„Aber warum gehen Sie nicht einfach hin und öffnen die Bibliothek.“

 

Er zuckte mit den Schultern.

 

„Ich weiß nicht, wo sie ist.“

 

Ich schaute wohl noch fragender als zuvor.

 

Er nickte.

 

„Als die Russen vor Berlin standen, ließ Hitler alle töten, die den genauen Standort der Bibliothek kannten. Glauben Sie, der immense wissenschaftliche Vorsprung Deutschlands kam von ungefähr?

Die ganze Zeit hatten sie diese Wissensquelle ungekannten Ausmaßes zur Verfügung.

 

Wie gesagt – Hitler ließ alle töten, die davon wussten. Aber ein Kameramann, der mit der geheimen Dokumentation eines Steins befasst war, der die Quelle dieses unglaublichen wissenschaftlichen Vorsprungs war und ist, hatte vor seiner Hinrichtung als kleine Rache einen Film gedreht, der exakt dokumentiert, wie man zum Eingang der Bibliothek kommt, und ihn seiner Frau geschenkt.

 

Sein Assistent, der der Hinrichtung entgangen war, hat den Film gestohlen und ist mit ihm und Projektor nach Dortmund getürmt. Dort hat er sein Leben lang versucht, den Projektor zum Laufen zu bringen. Wir haben seine Bemühungen peinlich genau überwacht, durften aber nicht in Erscheinung treten, da wir ansonsten die Aufmerksamkeit der deutschen Behörden auf uns gezogen hätten.

Vorletztes Jahr hat er sich schließlich erhängt. Und letzten Monat hat seine Frau offenbar das Gerät mitsamt dem Film auf Ebay zum Verkauf angeboten, da sie in höchsten Geldnöten war.“

 

Ich verstand es immer noch nicht.

 

„Und warum haben Sie nicht einfach mitgeboten?“

 

„Ich wollte mich nicht meinen Feinden zeigen.

Aber ich habe den Ebay-Server hacken lassen und bin so auf Sie gestoßen.“

 

„Und warum haben Sie mich nicht früher kontaktiert?“

 

„Dann hätte es ein Blutbad gegeben, bei dem der Projektor hätte beschädigt werden können.“

 

Ich nickte. „Gut, ich bewundere ihre Geduld. Soweit ich es verstehe, gibt es drei Parteien, die den Projektor in ihren Besitz bringen wollen, Sie, den Verstorbenen und seine Mitarbeiter und die Russen, richtig? Leute ohne jede Moral.“

 

Er überlegte und nickte dann langsam.

 

„Leute ohne jede... Ja, so kann man das nennen.“

 

„Und wie gedenken Sie, mich vor diesen Leuten zu schützen?“

 

Er beugte sich leicht vor.

 

„Ganz einfach, mein Lieber. Ich bin älter, weiser – und böser!“

 

Ich lehnte mich zurück und hob wortlos mein Glas.

Er zwinkerte mir zu, die Gläser klirrten.

Der Pakt war geschlossen.

 

 

Wir verabredeten uns für den nächsten Tag.

Dann stand er auf und reichte mir die Hand.

 

Ich beeilte mich aufzustehen und schlug ein.

 

Der Mann hatte einen überraschend festen Händedruck.

Er hielt meine Hand fest und nickte. „Bis morgen, mein Lieber.“

 

Dann drehte er sich um und ging. Ich stand da wie vom Donner gerührt.

Ich wollte zahlen, aber der Wirt winkte ängstlich ab. Ich zuckte mit den Schultern und ging nach hause.

Dort stand mitten im Wohnzimmer der Projektor – verpackt und unberührt von den ihn umgebenden Ereignissen. Ich wagte nicht, die Kiste zu öffnen, aber es war trotzdem beruhigend, ein Brecheisen im Hause zu haben.

Ich nahm mein Buch zur Hand und öffnete mir ein Bier. Ich brauchte mal eine Auszeit.

 

 

Es ging nicht. Ich konnte mich nicht konzentrieren. Genervt legte ich das Buch zur Seite, und fing an, mit dem Bier in der Hand, den Projektor zu umrunden.

Ich umrundete ihn ein ums andere mal, dabei hörte ich in meinem Kopf Bachs 'Air on the G-String'.

Es beruhigte mich immer, diese Musik zu denken.

 

Ich wollte irgendjemanden anrufen, nicht alleine sein, sie anrufen, aber sie war nicht mehr da, sie hatte mich aus ihrem Leben gelöscht.

 

Ich wusste, dass ich genug getrunken hatte. Ich durfte auf keinen Fall rausgehen.

 

Noch ein Bier – Gut.

 

Rausgehen und Mist bauen – nicht gut.

 

Vier Stunden später torkelte ich durch die Straßen von Brünn, und hatte bereits zweimal versucht, sie anzurufen. Ihre Stimme auf dem Anrufbeantworter zu hören, war so schmerzhaft.

 

Plötzlich hielt neben mir ein Auto. Der Alte saß darin – das Gesicht versteinert. Der Taxifahrer stieg aus, umrundete das Auto und raunte mir zu: „Einsteigen – sofort!“

 

Als ich im Auto saß, fühlte ich mich schlecht. Ich hatte meine Ex-Freundin angerufen und mich komplett zum Deppen gemacht. Der Alte saß mir gegenüber wie eine Statue. Er regte sich noch nicht mal.

 

„Ich....es tut mir...“ Er hob nur die Hand, und ich schwieg.

 

Er blitzte mich an mit seinen stahlblauen Augen.

Ich schaute aus dem Fenster, um seinen Augen auszuweichen.

 

Ich hatte es komplett versaut.

Er zog einen silbernen Flachmann aus der Innentasche seines Jacketts.

 

„Ist schon gut, mein Junge. Sie stehen unter enormem Druck.“

 

Ich trank einen großen Schluck. Es schmeckte merkwürdig. Dann sank ich zur Seite und wurde ohnmächtig.

Als ich aufwachte, drehte sich zunächst alles.

 

Ich lag in einem Hotelzimmer der gehobenen Klasse. Auf dem Tisch lag eine tschechische Zeitung. Ich hatte drei Tage verschlafen. Es hatte in meiner Wohnung eine Schießerei gegeben.

 

Das kann doch wohl nicht....

 

Die Tür ging auf, der Alte trat herein und deutete auf die Zeitung.

 

„Ich habe den einzigen Kiosk in St. Petersburg gefunden, in dem sie tschechische Zeitungen verkaufen.“

 

Ich las die Geschichte einer Schießerei zwischen zwei rivalisierenden Banden. Es ging offenbar wie üblich um Drogen und Territorien.

 

„Sie haben den Projektor herausgeholt?“

 

Er lächelte vornehm. „Die andere Seite war schneller – ich böser.“

 

Ich betrachtete den Mann ganz genau, dem ich bisher so blind vertraut und meine Sympathie geschenkt hatte.

 

„Sie fragen sich bestimmt, ob Sie mir trauen können. Wie Sie sich vorstellen können, bin ich der Letzte, der Ihnen diese Frage beantworten kann.“

 

Ich nickte: „Sie haben diese Menschen getötet.“

 

Er wägte den Gedanken ab.

„...meine Leute – auf meinen Befehl, also Ja. Ich habe diese Menschen getötet.“

 

Ich sah ihn direkt an. „Ohne Rücksicht auf Verluste.“

Er nickte kaum merklich.

 

„Und was passiert jetzt mit dem Projektor?“

„Der wird gerade repariert.“

 

„Wann können wir den Film anschauen?“

 

„Morgen...“, er rieb sich die Hände. „Ich freue mich schon, wie damals, als ich mit meinen Ki... mit meinen Eltern meinen ersten Chaplin-Film gesehen habe.“

 

Ich war neugierig. „Welchen?“ - „Modern Times! Ein Meisterwerk. Und jetzt werde ich wieder der Architekt und Herrscher der Moderne sein.“

 

Wir waren also in St. Petersburg.

Er verließ mich. „Bis morgen früh, mein Lieber.“

 

Ich wollte ein wenig in die Stadt gehen. Aber ich hatte nichts bei mir.

Ich hob den Hörer des Telefons ab. Hoffentlich konnten die Leute an der Rezeption Deutsch oder Englisch.

 

„Ja hallo, ich.. äh.. sprechen Sie Deutsch?“

 

„Natürlich. Wie kann ich Ihnen behilflich sein?“

 

Ja, ich würde gerne in die Stadt gehen, habe aber weder meinen Ausweis noch Geld dabei.“

 

„Ihre Reisetasche mit ihrem Pass und ihrer Brieftasche befinden sich unter ihrem Bett.“

 

„Äh, aber ich habe keinen Rubel.“

 

„Auf dem Nachttisch liegt ein Umschlag.“

 

„Ja, danke.“

 

„Wir wünschen einen angenehmen Aufenthalt.“

 

Ich öffnete den Umschlag. Er enthielt ein gehobenes Schweizer Monatsgehalt in Rubeln und Dollars, sowie eine kleine Karte aus geschöpftem Büttenpapier.

 

„Mein Lieber Junge!

Genießen Sie ihren Aufenthalt – aber bitte keine Anrufe mehr!“

 

Ich ging erst mal ins Kino.

 

Dort überlegte ich mir, wie es wäre, dem Alten den Projektor zu verkaufen. Aber ich verwarf den Gedanken sofort und ging in ein nettes kleines Restaurant. Dort bestellte ich mir ein Steak mit Salzkartoffeln und frischem Gemüse. Die Rotweinsoße war toll. Dazu bestellte ich mir ein großes tschechisches Bier. Danach ließ ich mir noch einen Ouzo bringen. Das war so gut, dass ich für etwa eine halbe Stunde nicht mehr über meine momentane Situation nachdachte.

 

Dann traf es mich. Die Frau, die sich den Salat und das Wasser bestellt hatte, war auch im Kino gewesen.

 

'Ja, und glaubst du, du bist der einzige, der nach dem Kino Hunger hat?'

 

Ich musste mich unbedingt entspannen. Also spazierte ich durch die nächtliche Großstadt und dachte nach. Niemand beachtete mich. Ein kleiner Hund schnüffelte an meinem Hosenbein und sah mich fragend an.

 

Ich ging in eine Bar. Auf der Bühne tanzten zwei Stripperinnen gelangweilt, während ein Kunde in der ersten Reihe seine Erregung kaum verbergen konnte.

 

Ich sah mir die Stripperinnen an. Dabei merkte ich, dass ich seit einem Monat keinen Sex mehr gehabt hatte, geschweige denn Liebe.

 

Ich wollte diesen Körper, der sich dort auf der Bühne abmühte. Ich wollte in ihn eindringen, ihn benutzen. Der Mensch, die Frau interessierte mich nicht im Mindesten.

 

Ich zückte einen Fünfhundert-Euro-Schein, zwinkerte ihr zu und ging zur Tür. Dort bedeutete ich ihr, mir zu folgen. Sie verließ die Bühne sofort, und ich ging vor die Tür.

 

Auf der Straße rauchte ich eine Zigarette. Dann hörte ich den promiskoitiven Takt ihrer hohen Hacken auf dem Asphalt.

 

Sie lächelte mich an, aber ich lächelte nicht zurück. 'Wenn du einen Freund willst – kauf dir einen Hund.' Sie sah mich fragend an. Ich umfasste ihre unglaublich schmale Taille.

 

„Taxi!“

 

Es wurde eine traumhafte Nacht. Nachdem ich mit ihr fertig war, gab ich ihr das Geld und zeigte auf die Tür. Ihr Blick war von einer so müden, niedergeschlagenen Traurigkeit, dass es mir wehtat.

 

„It's for my kids, you know?“

 

Als die Tür ins Schloss fiel, zuckte ich zusammen.

 

Ich ging ins Badezimmer, schloss ab und stellte mich vor den Spiegel.

 

„Schwein.“

 

Nichts anderes war ich. Trotzdem schlief ich ein, sobald mein Kopf das Kissen berührte.

 

 

Als ich am nächsten Morgen aufwachte, klingelte das Telefon um zehn Uhr.

Ich musste mich erst aus meinem wirren Traum lösen, um den Hörer von der Gabel nehmen zu können.

Es war der Alte. Er strahlte durch das Telefon.

 

„Er ist fertig, mein lieber Junge. Der Projektor ist fertig! Ich erwarte Sie in einer Stunde im Frühstücksraum.“

 

Heute würde sich endlich der Vorhang heben, das Geheimnis gelüftet werden.

Aber ich konnte mich nicht dafür begeistern, ich konnte sie nicht vergessen, ihren Blick, ihre Worte.

 

„It's for my kids, you know?“

 

Ich ging unter die Dusche und bereitete mich auf diesen Tag vor.

 

Der Alte saß im Frühstückszimmer an einem reich gedeckten Tisch und strahlte.

 

Ich setzte mich hin, und fing mürrisch an zu essen.

Ihr trauriger Blick hatte sich mir eingebrannt und ließ sich nicht mehr löschen – bis heute nicht.

 

Er klatschte in die Hände.

 

„Vergiss das Straßenfleisch. Dies ist ein wirklich großer Tag.“

 

Ich schluckte und wollte gerade losbrüllen, da schlug er mit der flachen Hand auf den Tisch und streckte mir drohend den Zeigefinger entgegen.

 

Er flüsterte nur: „Überlege dir gut, ob du in der moralischen Position bist, mich zu schulmeistern.“

 

Dann strahlte er sofort wieder.

 

„Zurück zum Wesentlichen: Die Vorführung beginnt um 11.00 Uhr s.t.

Sie haben also nach dem Frühstück noch eine Stunde Zeit, sich frisch zu machen.

So, und nun vergessen wir den ganzen Unmut und hauen erst mal ordentlich rein.“

 

Sein Gesicht strahlte, und er zwinkerte mir aufmunternd zu.

 

Als ich mich nach der Dusche anzog und meine Uhr an meinem Arm befestigte, war es 10.30 Uhr und es klopfte. Er strahlte wie ein kleiner Junge als ich die Tür öffnete.

 

„Ach wie schön, Sie sind fertig. Also...“

 

Er wies mich im Gehen an, ihm zu folgen.

 

„Los geht’s!“

 

Vor dem Hotel wartete ein schwarzer VW Bus mit abgedunkelten Fenstern. Als der Alte einen Meter von dem Auto entfernt war öffnet sich die Schiebetür und er stieg ein, ohne seinen Schritt zu verlangsamen.

Als ich eingestiegen war, schloss sich die Schiebetür automatisch. Erst jetzt fiel mir die Dicke der Scheiben auf. Er nickte: „Panzerglas, nach dem Vorfall in ihrer Wohnung darf ich kein Risiko eingehen.“

 

Wir fuhren ein halbe Stunde. Der Alte trank eine Flasche Mineralwasser und schaute nachdenklich aus dem Fenster.

 

„...noch einmal so sorglos die Straßen entlang spazieren...“

 

Ich wunderte mich.

 

„Aber in Brünn saßen wir doch auch in einem Straßencafé.“

 

Er lächelte: „Sicher, nachdem ich fünfzig meiner besten Leute vom frühen Morgen an den Platz hatte überwachen lassen.“

 

Meine Gedanken raßten. Er klatschte in die Hände: „Wir sind da!“

 

Die Tür ging auf. Ich sah den Eingang zu einem beeindruckenden Jugendstil-Kino. Zwei wunderbar geschwungene Tore mit Kassettenfenstern bildeten den Eingang. Als ich den Alten ansah, unterdrückte er den liebevollen Blick sofort, mit dem er mich gestreift hatte.

 

„Das ist ihr Kino?“ - „Ja, dieses Kino ist der Luxus, den ich mir gönne.“

 

Um nichts in der Welt hätte ich diese Vorstellung verpassen wollen.

 

 

Hinter dem Eingangsportal eröffnete sich mir eine verloren geglaubte Kinowelt. Das Foyer entsprach aufs Haar dem Treppenhaus der HMS Titanic. Uns wurden die Mäntel abgenommen, und wir entnahmen einem Silbertablett zwei Champagnergläser aus Bleikristall.

 

„Mein Lieber, ich freue mich, diesen wunderbaren Augenblick mit dir zu teilen.“

 

Wir stießen an, und der helle Ton des Kristalls wurde durch die Raumakustik noch verstärkt.

 

Dann führte mich der Alte in die Loge, die den Blick auf einen klassischen Theatersaal mit einer riesigen Leinwand freigab. Das Licht ging aus und für einen Augenblick war es stockdunkel.

 

Dann begann der Film. „Das in diesem Film gezeigte Material unterliegt der stickten Geheimhaltung.

Seine Vorführung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Führers.“

 

Na, das konnte ja heiter werden. Für dreißig Sekunden wurden die exakten GPS-Koordinaten der Bibliothek eingespielt, gefolgt von der Farbaufnahme einer Stahltür in einem Felsen. Aber dies war keine Kinovorführung mehr.

 

Ich stand vor der Stahltür. Ich sah an mir herunter und trug die Uniform eines SS-Soldaten. Ich blickte durch eine Kamera, die ziemlich schwer in meiner rechten Hand lag.

Die Tür wurde mir geöffnet, und ich trat ein.

 

Es umgab mich vom ersten Schritt an eine Welt des Wissens. Der erste Saal enthielt unzählige Papyri. „Dies sind die Kopien aller Schriften aus der Bibliothek von Alexandria“, sagte eine Frau mit einem taillierten Kostüm und hochgesteckten Haaren, die mich durch die Bibliothek führte. Ich konnte nicht umhin, ihre Beine zu filmen.

Ich folgte ihr in den nächsten Saal. „Wir befinden uns in der griechischen Abteilung.“ Uns erwartete eine Bücherwand, über der ein kupfernes Schild mit einem Namen prangte – 'Archimedes'.

 

Wir gingen in den nächsten Saal. „Und hier befinden sich die Errungenschaften unserer wissenschaftlichen Abteilung, die von der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft gefördert wird.“

Wir kamen in einen Saal mit Computern. Die Wände waren gefüllt mit unendlichen Regalen für DVD-Roms. „Dies ist der Stand der Technik, den der Stein uns zu nutzen autorisiert hat.“

 

Im nächsten Saal befand sich eine exakte Kopie der historischen Bibliothek von Dublin.

Hier fühlte ich mich wohl. Die Erinnerungen schossen in mein Gehirn. Aber es ging ohne Pause weiter.

Eine Treppe führte hinab zu einem kleinen Raum, der nur eine einzige beleuchtete Vitrine enthielt, und der ansonsten gänzlich abgedunkelt war.

 

In der Vitrine war eine Art Bergkristall aufgebaut, der jedoch von innen bläulich zu leuchten schien.

 

„Die in diesem Medium gespeicherten Dateien dürfen unter keinen Umständen vor der Jahrtausendwende ausgelesen werden. Erst dann wird auch der Plan für ein entsprechendes Gerät zur Herstellung freigegeben.“

 

Danach kam der Abspann des Films, und ich befand mich wieder in der Loge des Kinos.

Als ich den Alten ansah, lachte er los.

 

„Das ist es. Nun haben wir die Koordinaten zur Quelle allen Wissens – ein Ozean des Wissens und der Kultur.“ Ich stand noch immer unter Schock als er mich in den Arm nahm.

 

Ich war dort gewesen, hatte diese Räume in einer SS-Uniform durchschritten und nicht in 3-D, nein, ich war dort gewesen. Ich war dieser Frau gefolgt, ich konnte noch ihr Parfum riechen.

Ich konnte den Kopf in jede Richtung drehen, alles anfassen, diese Räume auf mich wirken lassen, den Geruch der Bücher, der Pergamente, der Papyri – des Wissens.

 

Was war das nur für ein wunderschöner Ort.

 

Der Alte nickte: „Genau dasselbe habe ich nach der ersten Aufführung meines Projektors empfunden.“

Ich starrte ihn an. „Das gibt es doch gar nicht.“

 

Er lächelte mich an: „Doch mein Junge. Das gibt es, und jetzt wissen wir auch wo wir suchen müssen.“

 

Als wir wieder in den gepanzerten VW Bus stiegen war es spät am Abend.

Ich fragte den Alten, und er erklärte es mir.

 

„Der Film wird stark verlangsamt abgespielt. Ansonsten würde die Information das Gehirn des Betrachters frittieren.“

 

Tatsächlich hatte ich starke Kopfschmerzen. Im Hotel angekommen wollte ich nur noch schlafen.

 

 

Als ich mich am nächsten Morgen mit dem schlimmsten Kater meines Lebens an den Frühstückstisch setzte stand dort schon ein Glas mit einer aufgelösten Schmerztablette für mich bereit.

 

Der Alte nickte mir müde zu. „Ich hab auch schon zwei intus.“

 

Nachdem ich das Glas geleert hatte, war der Schmerz weg.

Jetzt war ich hellwach. „Wann machen wir uns auf zu dieser Bibliothek?“

 

Er lachte. „Das ist die richtige Einstellung.“

 

Nachdem der Kopf wieder frei war hatte ich einen Bärenhunger. Der Alte liebte mich. Er sah mich an wie einen Sohn.

So viel Liebe hatte ich zuletzt nur von Rudi bekommen. Rudi war ein Pudel-Mischling, ein kleines schwarzes Wollknäuel, bei dem man nicht genau wusste wo vorne und hinten war.

 

Und jetzt war hier dieser alte Mann, und ich wusste nicht, was ich von seiner Zuneigung zu halten hatte.

Rudis Zuneigung war einfach ungeteilt und selbstlos gewesen. Ein kläffender, schwanzwedelnder, alles anpinkelnder, kleiner fusseliger Engel.

Als sie ihn einschläfern mussten, habe ich eine Woche gesoffen.

 

Aber der Alte – ich konnte ihn einfach nicht einschätzen.

 

Als ich fertig war, sagte der Alte, der wohl meine Gedanken gelesen hatte:

 

„Kommen Sie heute Abend zu mir. Ich glaube, wir haben einiges zu besprechen.“

 

Ich nickte unsicher, aber er lachte.

 

„Nein, nichts schlimmes. Ich muss nur einige Dinge mit ihnen besprechen, die Muße erfordern.“

 

 

Als ich geklingelt hatte und sich die Tür öffnete war ich aufgeregt wie lange nicht mehr. Der Alte empfing mich in seinem Haus mehr wie einen Sohn als wie einen Gast. Er führte mich ins Wohnzimmer, wo zwei Bierseidel und eine bunte Variation an Beilagen auf uns warteten. Er bat mich, in seinem Ohrensessel Platz zu nehmen, der sich als außerordentlich gemütlich erwies. Nachdem er uns zwei Flaschen Bier gebracht hatte, machte er es sich mir gegenüber auf dem Sofa bequem.

 

„So mein Lieber, nun werde ich dir all deine Fragen beantworten. Schieß los.“

 

Mir schoss gleich eine ganze Reihe von Fragen durch den Kopf.

 

„Warum lassen Sie mich so nah an sich heran? Sie machen nicht den Eindruck eines naiven Mannes auf mich.“

 

Er lächelte. „Einen Augenblick.“ Er verließ den Raum und als er zurückkam gab er mir das Foto seines Sohnes, der mir tatsächlich zum Verwechseln ähnelte.

 

„Aber ich bin nicht ihr Sohn.“

 

„Du bist ihm wie aus dem Gesicht geschnitten, auch dein Mut steht seinem in nichts nach. Daher möchte ich dich als meinen Nachfolger einsetzen. Dies ist das erste mal in meinem Leben, dass ich eine geschäftliche Entscheidung aus persönlichen Erwägungen heraus treffe. Aber ich habe nicht mehr lange zu leben – Also, bist du einverstanden?“

 

Ich war sprachlos. „Was ist das überhaupt für ein Unternehmen?“

 

„Komm mit.“ Wir gingen in den Keller, und er führte mich in sein Heimkino.

 

Ich setzte mich und sah einen Bericht über Inter-Intell. Am Anfang stand eine Erklärung des weitverzweigten Organigramms, das alle nennenswerten Waffenschmieden und IT-Unternehmen der Welt beinhaltete. Dann folgten Reportagen über Antigravitations-Versuche mit Flugobjekten, dem neuesten Schrei der Rüstungs- und Luftfahrtindustrie. Dann ließ er den Film stoppen und das Licht anschalten.

 

Ich sah ihn direkt an. „Sie sind Waffenhändler.“

 

Er schüttelte den Kopf und hob den knochigen Zeigefinger.

 

„Ich entwickle Technologien und verkaufe sie. Traurige Tatsache ist, dass Macht der Hauptantrieb menschlichen Daseins ist, und deshalb immer effektivere Waffen gebraucht werden, um den jeweiligen Gegner aus dem Weg zu räumen, und in der Welt aufzusteigen.

 

Und nur aus diesem Grunde bin ich der mächtigste Mann der Welt.“ Ich starrte ihn an. Er ließ das Licht löschen und den Film weiterlaufen. Der Eingang der Bibliothek wurde gezeigt. Es ging um die Konkurrenz, die sich langsam durch Forschung und Spionage an das Niveau von Inter-Intell herangetastet hatte. Es ging um den Stein, und darum, dass es nach seiner Auswertung endgültig nur noch ein Zentrum für Waffentechnologie geben würde:

 

Inter-Intell – Globaler Lieferant zukunftsweisender Technologien.

 

„Ich muss zugeben, dass mir ihre Vision Angst macht.“

 

Er lachte und sah mich an. „Gerade das qualifiziert dich umso mehr. Du wirst verantwortungsvoll mit der Macht umgehen.“ Ich war verwirrt wie noch nie.

 

Er klopfte mir auf die Schulter. „Noch ein Bier?“

 

Ich nickte und folgte ihm hinauf ins Wohnzimmer, wo ich erschöpft in seinen Sessel fiel.

 

„Und das alles nur wegen diesem blöden Projektor.“

 

Der Alte war euphorisch.

 

„Natürlich, das war der Schlüssel zu unserem Ferrari – in diesem Seifenkistenrennen,

der modernen Forschung.“

 

Ich dachte, warum hat die Witwe von diesem Kameramann das Ding nicht einfach zum Eisenhändler gebracht. Aber auch hier war der Grund derselbe wie immer – Gier.

 

„Morgen fliegen wir zur Bibliothek. Willst du mit?“ Ich nickte und hob mein Glas. Wir stießen an.

 

„Jetzt fahr erst mal ins Hotel und ruhe dich aus.“

 

Als ich im Hotel im Bett lag und die Nachttischlampe ausschaltete, gingen mir tausend Gedanken durch den Kopf.

Eine Minute später war ich eingeschlafen.

 

 

Am nächsten Morgen läutete das Telefon um 9.00 Uhr. Der Alte war ganz aufgeregt.

 

„Bist du schon wach? Heute ist ein großer Tag. Wir fliegen zur Bibliothek und bringen das Lesegerät am Stein an. Heute ist Zahltag, mein Junge, für alles was ich für diesen Stein durchgemacht habe. Um drei Uhr lasse ich dich abholen. Bis dahin musst du alles gepackt haben. Bis später“

 

Er legte auf. Ich packte meine Sachen in die Reisetasche und schlenderte noch ein wenig durch die Stadt. Das letzte mal war ich vollkommen betrunken gewesen, und der Alte hatte mich einfangen und nach hause bringen müssen. Jetzt schien die Sonne und die Jugend von St. Petersburg zelebrierte ihre Schönheit.

 

Ich war tief beeindruckt von diesen wunderschönen Gesichtern, die eine stolze, unnahbare Würde vermittelten. Als ich zurück ins Hotel ging wusste ich, dass ich diese Stadt wieder besuchen würde.

 

Es klopfte an der Tür. Der Alte trat ein und strahlte. „Oh ich bin so aufgeregt. Wir werden zum zweiten Mal das Gesicht der Welt verändern. Ich sehe, du hast gepackt – Auf geht’s!“

 

Als wir im Auto saßen, holte er aus der Minibar zwei Gläser und eine Flasche Champagner. Zum ersten Mal betrachtete ich unseren Chauffeur genauer. Er war der Inbegriff der Unauffälligkeit – grauer Anzug, unauffälliges Allerweltsgesicht, Pokerface. Ich war neugierig. „Verraten Sie mir doch bitte ihren Namen.“ Der Mann errötete zutiefst und flehte mit den Augen beim Alten um Gnade. Der nickte mit einem kalten Ausdruck im Gesicht.

 

„Mein Name ist Jacek.“

 

Ich freute mich und hatte keine Ahnung, was ich da anrichtete.

 

„Ich kenne einen Jacek. Aus Polen – richtig?“

 

Er nickte. Sein Gesicht war aschfahl. Ich sah den Alten fragend an. Der winkte ab.

 

„Jacek ist nur schüchtern.“ Aber ich wusste instinktiv, dass mehr dahinter steckt. Ich hatte einen großen Fehler gemacht. „Ich möchte, dass Jacek mein persönlicher Chauffeur wird.“ Der Alte zuckte mit den Schultern.

 

„Kein Problem.“ Jacek warf mir einen dankbaren Blick zu.

 

Als wir im Flughafen ankamen und Jacek mir meine Tasche gab fühlte ich, wie er mir etwas in die Manteltasche steckte. Ich bedankte mich bei ihm, ohne eine Miene zu verziehen und folgte dem Alten zur Abfertigung. „Warum fliegen wir nicht mit ihrem Flieger.“ Er blickte mich ernst an. „In meinem Beruf gibt es nur eine unverrückbare Regel : Wenn du auffällst, bist du tot.“

 

„Aber Sie müssen sich doch irgendeinen Luxus gönnen.“

 

Er lachte. „Natürlich. Mein Kino und Schweizer Schokolade.“ Dann eilte er weiter. Als wir eine Stunde später im Flugzeug saßen und auf dem Weg nach Krasnojarsk waren, reichte er mir ein kleines Gerät, nicht unähnlich einem Walkman.

 

„Hier das wird deine Vorstellung von Kino ein wenig erweitern.“

„Ich muss erst mal die Keramische Abteilung aufsuchen.“

 

Er sah mich fragend an. Ich zeigte auf das WC-Zeichen und er lachte. Als ich eingeschlossen war, griff ich in meine Tasche und faltete den Zettel auseinander.

 

'Danke, dass Sie mir das Leben gerettet haben. Er ist der Teufel – vergessen Sie das nie.'

 

Ich nahm den Zettel in den Mund und wollte ihn kauen und herunterschlucken, wie im Fernsehen, aber mein Gott, schmeckte das übel. Ich kaute und kaute, und erst nach fünf Minuten konnte ich den Klumpen schlucken. Mein Magen revoltierte, aber wenn ich mich jetzt übergab, war alles umsonst. Ich ging zurück auf meinen Platz.

 

„Alles in Ordnung, mein Junge?“ - „Ich habe mir in St. Petersburg den Magen verdorben.“

 

„Ja, ich weiß. Dieses verdammte gechlorte Wasser. Ich habe ihnen Technologien zum entchloren angeboten, aber glaubst du, diese Idioten wären bereit, auch nur den Einkaufspreis zu zahlen?“

 

Er winkte ab. „Lebensunwerte Maden. Gib ihnen Waffen, und sie sind glücklich.“

 

„Das ist ein ziemlich hartes Urteil.“

 

Er beugte sich zu mir herüber. „Ich erzähle dir jetzt mal eine kleine Geschichte, mein Lieber.

Nach dem Krieg, als ich mich weigerte, mit den Amis zu kollaborieren und mir die Mittel fehlten, unsere wissenschaftlichen Arbeiten, die ich in unseren Keller geschafft hatte zu Geld zu machen, hatte ich nichts, verstehst du – Null Komma nichts. Die Inflation hatte Deutschland im Würgegriff. Ich dachte wir säßen alle im selben Boot. Ich versuchte meine Familie mit Schwarzhandel über die Runden zu bringen, da ich die Patente auf keinen Fall verkaufen konnte ohne die Alliierten auf den Plan zu rufen, die mir alles weggenommen hätten. Dann erkrankten nacheinander meine Frau und mein Sohn an Lungenentzündung. Ich versuchte, Antibiotika aufzutreiben, aber es gab nichts.“

 

Er rang mit den Fäusten und zischte, um nicht zu schreien:

 

„Es gab nichts, was ich hätte tun können. Sie starben – beide.“

 

Er verbarg sein Gesicht in den Händen. Als es wieder zum Vorschein kam war es kalt und hart wie Eis.

 

„Dann kam die Währungsreform. Jeder bekam vierzig Mark – hieß es.

 

Alles auf Null und Neuanfang – hieß es.

 

Und urplötzlich waren die Auslagen der Geschäfte voller Waren. Es gab alles, auch Antibiotika.

 

Genau einen Monat zu spät.“

 

Er schüttelte den Kopf und rang für einen Augenblick um Fassung.

 

„Aber das heißt ja, dass alles da war, aber nicht freigegeben wurde, weil die Bevölkerung es nicht bezahlen konnte.“

Er nickte: „Genau das heißt es. In dieser Welt ist jeder nur das wert, was der Markt für ihn zu zahlen bereit ist. Aber weißt du, was ich an der Menschheit wirklich bewundere und mag?“

 

Ich war gespannt. Er schüttelte langsam den Kopf.

 

„Nichts – rein gar nichts.“

 

Ich suchte verzweifelt nach einer Antwort, schloss aber den Mund wieder unverrichteter Dinge.

 

Er zeigte auf das Gerät vor mir auf der Ablage. „So mein Lieber. Jetzt vergiss das Gefasel eines alten Mannes und genieße den Film.“ Ich steckte mir die weißen Plugs in die Ohren und drückte auf 'Play'.

 

Ich sah die Original-Starwars-Folgen in 3D ohne Rand, als säße ich selbst in einem Raumschiff. Ich versuchte Prinzessin Leia auf die Schulter zu klopfen, wischte aber durch sie hindurch – wäre auch zu schön gewesen.

 

Nach dem Abspann saß ich wieder im Flugzeug, was wirklich verstörend war. Der Alte nickte.

 

„Ja, daran arbeiten wir noch. Die Rückkehr in die Realität ist einfach brutal.“ Ich wollte ihm das Gerät zurückgeben, aber er schüttelte nur den Kopf. „Es enthält alle Filme, die bisher auf der Welt produziert wurden, und einige Extras. Sieh es als kleines Geschenk für meinen Geschäftspartner und Nachfolger.“

 

Wir landeten. Endlich würde ich die Bibliothek sehen. Ich schnallte mich an. Am Flughafen wurden wir ganz normal abgefertigt. Ich folgte diesem kleinen, unauffälligen Mann und versuchte verzweifelt, mir ein Bild von ihm zu machen. Aber es blieb alles im Dunkeln.

 

Am nächsten Tag fuhren wir im Flugzeug von Krasnojarsk los. Ich wusste nicht wohin es ging. Also sah ich mir noch einen Film an. Und als ich die Stöpsel aus den Ohren nahm, sah ich in das lächelnde Gesicht des Alten. „Bereit die Welt zu ändern?“

 

Wir fuhren mit einem Jeep zu einer Stelle, wo wir von schwer bewaffneten Soldaten empfangen wurden die vor dem Alten salutierten. Auf Russisch befahl er ihnen uns zum Eingang der Bibliothek zu führen.

 

Als wir eintraten war ich tief beeindruckt von dieser Ansammlung menschlichen Wissens, und war neugierig auf den Stein.

 

Ich begann den Zweck der ganzen Unternehmung zu hinterfragen. Offensichtlich war der Alte ein Misanthrop.

 

Aber die perfekte Kopie der Bibliothek von Dublin weckte so schöne Erinnerungen in mir, dass ich die Zweifel vergaß und nur noch voller Bewunderung durch diesen Raum schritt. Ich tat das, was ich damals in Dublin schon hatte tun wollen: ich erklomm eine der Leitern und betrachtete die Bücher aus der Nähe. Dante, die Canterbury Tales – alles Bücher, die ich noch lesen wollte. Der Alte winkte mir, dass er weitergehen wollte. Wir betrachteten die Papyri in der Bibliothek von Alexandria. Ich betrachtete die vollständigen Werke des Archimedes und stellte mir vor, was allein die Auswertung dieser Bücher für die Forschung bedeutete. In der nächsten Abteilung waren die Schriften anerkannter Alchimisten, z. B. Von Nettesheim und das Original der Gran Grimoire. Gefolgt von da Vinci, mit den Korrekturen der von ihm in seinen Konstruktionen eingefügten Fehlern. Wir gingen vorbei an den Bibliotheken des Mittelalters und der Renaissance. Die Bibliothek der Neuzeit bestand lediglich aus einem unscheinbaren Kasten. „Wir sind dabei, die Daten in einen resistenten Kunststoff auf zudrucken, und hoffen, mit Hilfe des Steins ein die Zeit überdauerndes Speichermedium zu finden.“

 

Ich betrachtete ihn von der Seite. Seine Begeisterung für dieses Projekt ließ ihn jünger aussehen.

 

„Wie liest man den Stein aus?“

 

„Wir haben einen Apparat gebaut. Aber der Stein ist eine harte Nuss, wie man so schön sagt.“

 

Er führte mich in den Raum mit dem Stein. Ich war von Anfang an gebannt von seinem Anblick. Seine schlichte Schönheit war ein erstes Indiz für seine Perfektion.

 

Er steckte in einer Apparatur, die von mehreren Wissenschaftlern eingestellt wurde, die wortlos arbeiteten. „Ich denke, nächsten Monat können wir mit der Auswertung beginnen.“

 

„Was werden Sie mit den Daten tun?“

 

Er zuckte mit den Schultern: „Das was wir schon immer gemacht haben. Wir bedienen den Markt und machen unsere Kunden hoffnungslos von uns abhängig.“

 

„Warum?“

 

Der Alte war tatsächlich erstaunt. „Wie meinst du das, mein Junge?“

 

„Warum wollen Sie Regierungen von sich abhängig machen?“

 

Er sah mich hart und unverwandt an: „Weil ich es kann.“

 

Als wir im Hubschrauber saßen, wandte er sich mir zu: „Entschuldige bitte, dass ich vorhin unfreundlich war, aber es ist wichtig, dass wir die Welt im Gleichgewicht halten. Und das kann man am besten durch die Kontrolle der Rüstung erreichen. Nur so ist dauerhafter Frieden möglich.

Mein Ziel ist es, dieses Gleichgewicht auf eine neue Ebene zu heben.“

 

„Und wenn die Ergebnisse ihrer Auswertungen irgendwann mal zum Einsatz kommen?“

 

„Dann wird sich die ohnehin zu zahlreiche Weltbevölkerung merklich dezimieren.“

 

„Sagen Sie mal, meinen Sie das im Ernst? Wollen Sie diese wunderbare Welt des Wissens so missbrauchen?“

 

„Wissen wurde immer aus Gründen der Dominanz über einen Gegner angesammelt. Das war schon immer einer der Hauptbeweggründe.“

 

„Wie ist das mit der Musikwissenschaft?“

 

„Die Kirchen haben ihre wunderschönen Orgeln nur gebaut, um das Volk zu beeindrucken und niederzuhalten. Das ist psychologische Kriegsführung. Nein, mein Lieber, menschliches Streben dient letztlich immer dem Machtgewinn.“

 

„Und warum übernehmen Sie dann nicht einfach die Macht?“

 

„Weil ich die Welt lieber orchestriere, als sie einfach zu führen. Wer gerade das Solo spielt, bestimme ich. Ich muss es also nicht selbst spielen. Um dieses Recht lasse ich die ehrgeizigen Narzissten dieser Welt kämpfen, ohne mich einzumischen. Diese Idioten bezahlen dafür, sich gegenseitig vernichten zu dürfen. Wenn einer zu groß wird, baue ich einfach seinen Gegner auf.

 

Du wirst es noch verstehen. Die Freude an der Orchestrierung der Welt wird dich für vieles entschädigen. Zu viele Skrupel sind nicht angebracht.“

 

Mein Kopf rauchte als ich die Tür zu meinem Hotelzimmer hinter mir schloss.

 

 

Auf dem Bett lag ein dicker Din-A-4-Umschlag. Ich öffnete ihn. Die erste Seite war ein Kopie der Todesanzeige für Jacek. Gefolgt von einem Brief von seiner Witwe:

 

Sie schrieb mir, dass ihr Mann sie eines Morgens fester als üblich in den Arm genommen hatte und am Abend nicht mehr nach hause gekommen war. Sie führte in nüchternen Worten aus, dass dieser Brief ihr Todesurteil war und dass der Alte jede Form von Indiskretion mit dem Tod bestrafte. Unter dem Brief befanden sich Berichte aus Regionalzeitungen über Unfälle, Explosionen und Brände. Der Stapel war gut einen Finger dick und datierte zurück bis zum Jahr 1968.

 

Ich wusste jetzt, was ich zu tun hatte. Es musste enden, und ich war derjenige, der den Schalter umlegen würde.

 

 

Ich musste extrem vorsichtig sein. Es war mehr als wahrscheinlich, dass der Alte mich überwachen ließ. Allerdings übertrug er mir nach zwei Monaten die Leitung der Bibliothek und des Projektes zum Auslesen des Steins.

 

Ich hängte mich voll rein, obwohl ich inhaltlich natürlich keine Ahnung hatte. Aber ich ließ die Ingenieure machen, und wenn mal einer einen Joint rauchte oder einen Flachmann aus der Tasche zog, sah ich in die andere Richtung, und sagte ich würde in einer Viertelstunde wieder kommen. Dann waren das Kraut und der Alk verschwunden und die Leute wieder bei der Arbeit und absolvierten ihre Vierzehnstundenschichten. Der Alte setzte die Leute schon genug unter Druck.

 

Ich ließ mir von einem der Männer grob die Funktionsweise des Apparates erklären -

mit dem Ergebnis, dass ich bis heute nicht weiß wie es funktioniert.

 

Aber eine Information blieb hängen.

 

„Wenn du den Knopf hier zu weit aufreißt, bleibt von uns allen nur ein großes Loch in der Landschaft übrig.“

 

Mein Ziel war es also, einen Moment abzuwarten, in dem die Maschine unbewacht war -

und alles in die Luft zu jagen.

 

Wir arbeiteten jeden Tag vierzehn Stunden. Das heißt, die anderen versuchten, das Ding zum Laufen zu bringen, und ich stand dumm herum und war der Stellvertreter vom Alten.

 

Irgendwann waren beiden Ingenieuren nach dem Genuss eines Flachmanns, den ich mitgebrachte hatte

schlecht, und ich führte sie hinaus zum Jeep, den ich dort geparkt hatte. Dann drehte ich den besagten Regler bis zum Anschlag nach rechts, verließ die Bibliothek, ließ die beiden einsteigen, und fuhr los.

 

Es war ein verdammter Jammer, außer den beiden Ingenieuren, die sich bereits auf der Rückbank in zwei Tüten übergaben, taten sechzehn Männer in der Bibliothek ihren Dienst. Ich war bereits zehn Minuten gefahren, da gab es erst einen hellen Blitz und dann einen ohrenbetäubenden Knall.

 

Ich hielt den Wagen an, schmiss die beiden raus und fuhr weiter. Ich hatte vor Schichtbeginn mein Konto geplündert, ansonsten war die Flucht völlig ungeplant, weil der Alte ansonsten Wind davon bekommen hätte.

 

Aber wenn er den Stein hatte könnte er leicht einen neuen Apparat bauen und dann war nichts gewonnen. Ich wendete und fuhr zurück zur Bibliothek. Aber dort wo vorher der Eingang gewesen war, befand sich nur noch ein Krater. Wie sollte ich den Stein in diesem Chaos finden.

 

Er fand mich. Als ich ausstieg lag er genau vor mir im Sand – vollkommen unbeschädigt, mit einem wunderbaren blauen Schimmer. Ich steckte ihn ein, stieg in den Jeep und fuhr davon.

 

Ich wusste nicht warum ich es getan hatte, aber ich wusste, dass es enden musste.

 

Nach fünf Stunden fuhr ich in ein Waldstück und machte den Motor aus. Es war wunderbar still. Mich umgab vollkommene Dunkelheit. Ich war so müde, dass ich trotz der Kälte sofort einschlief.

 

Am nächsten Morgen wachte ich erholt auf und fuhr in das nächste Dorf. Dort fragte ich nach einem Telefon. Eine Frau lieh mir ihr Handy, ich gab ihr fünfzig Dollar -Sie strahlte.

 

Ich wählte die Nummer des Alten.

 

„Mein Lieber, es ist schön von dir zu hören. Was machst du denn für Sachen?“

 

„Es ist wegen Jacek, Sie haben ihn umgebracht.“

 

„Nun ja, aber dein Bodycount kann sich auch durchaus sehen lassen.“

 

Ich legte auf und gab der Frau ihr Handy zurück und beeilte mich, das Dorf zu verlassen.

 

Nach einer Viertelstunde hörte ich eine Explosion – das Dorf war ausradiert.

 

Dann landete der Hubschrauber vor mir auf der Straße und ich wusste, dass es vorbei war.

Also zog ich den Stein aus der Tasche und die Rohrzange, die ich im Wagen gefunden hatte und hielt den Stein mit der Zange in die Höhe.

 

Der Alte stieg aus dem Hubschrauber und kam mit einem traurigen Gesicht auf mich zu.

 

„Junge, gib mir den Stein.“

 

„Ich werde ihn zerstören.“

 

Ich sah tatsächlich eine Träne auf seinem Gesicht.

 

„Warum?“

 

„Wegen Jacek.“

 

„Der Chauffeur?“

 

„Der Mensch.“

 

Damit drückte ich zu, und der Stein zersprang in tausend Stücke, die an mir herabregneten.

Er zog sein Springmesser, marschierte auf mich zu und rammte es in meinen Bauch.

Der Schock ließ mich nichts spüren, nicht einmal als meine Knie auf die Straße knallten und ich zur Seite fiel. Er setzte sich im Schneidersitz vor mir hin.

 

„Warum hast du Dummkopf auch den Stein zerstört?“

 

„Um der Welt eine Pause zu verschaffen, ehe sie sich an ihrer Gier nach Innovation verschluckt.“

 

„Diese Welt ist verdorben.“

 

„Nein, Sie führen immer noch einen Krieg, der seit über sechzig Jahren vorbei ist.“

 

Er nickte und zog seinen Mantel aus. Dann drehte er sich um und gebot dem Hubschrauber, wegzufliegen. Der Hubschrauber verschwand im Himmel.

 

Ich spürte jetzt den Schmerz, war aber immer noch klar bei Verstand. Es schien, dass das Messer wie durch ein Wunder keine inneren Organe oder größere Adern getroffen hatte. Aber der Schmerz hielt mich in einer Starre. So konnte ich nicht in die Szene eingreifen, die sich nun vor mir abspielte.

 

Der Alte bedachte mich mit seinem sanftesten Lächeln. Er war nun wieder der väterliche Freund. Dann zog er das Jackett aus und rollte die Ärmel seines Hemdes hoch.

 

Sein Messer durchschnitt beide Arme der Länge nach mit der Leichtigkeit eines Pfluges, der durch einen Acker fährt.

 

„Ach Junge...“ Er schüttelte traurig den Kopf. Nach ein paar Minuten fiel er nach vorne.

 

Noch im Tod saß er unbeugsam in seinem Schneidersitz.

 

 

Epilog:

 

Am nächsten Morgen wachte ich auf. Der Alte saß immer noch da.

 

Der Stein lag vor mir – heil und ganz.

 

Ich stand auf und steckte ihn ein. Der Schmerz war verflogen.

 

Ich startete den Jeep und fuhr los. In Richtung Bremen, Betti einen Heiratsantrag machen und den Bulli bezahlen, den ich in Brünn hatte stehen lassen.

 

Das Kino läuft gut. Ich zeige nur Schwarz-Weiß-Filme, die ohne das Zusatzgerät laufen.

 

Bogart hat Stil – Understatement – Dreiteiler – ein echter Herr.

 

 

Betti ist bei mir, sie ist der einzige Engel auf Erden.

 

Ende.  

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 03.02.2014. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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