Hermann Schuh

Bei den Silberbänken



Bis zum Beginn der Hurrikansaison ist noch ein Monat Zeit. Jetzt, Anfang Mai ist vielleicht der beste Termin, um mit einer kleinen Segelyacht den Nordatlantik von Westen nach Osten zu überqueren. Meine erste Etappe soll von Samaná, dem Nordosten der Dominikanischen Republik, zu den im Norden liegenden Bermuda Inseln führen, die etwa 840 Seemeilen entfernt sind.
   Einige Stunden nach meinem morgendlichen Aufbruch und anfänglich herrlichem Segelwind ist meine Position ziemlich genau der 21. Breitengrad Nord und 69 Grad, 40 Minuten westlich von Greenwich.
   Vor einigen Minuten habe ich die letzten nautischen Wettermeldungen über Kurzwelle erhalten. Der US-Seewetterdienst ist verlässlich, ziemlich genau trifft er heute in seiner Voraussage das Seegebiet, in dem ich mich befinde. Die Aussichten versprechen mittlere bis starke Winde aus nordöstlicher bis nördlicher Richtung. Das Barometer ist leicht gesunken und steht bei 1016 Millibar. Der Wind ist jetzt vollkommen eingeschlafen, das Meer hat eine kaum wahrnehmbare Dünung aus Nordost, ist opalisierend, beinahe träge, tiefblau und still. Es ist tropisch heiß. Die Segel meines kleinen Bootes habe ich festgezurrt, damit sie nicht knallend von Seite zu Seite fliegen. Ich komme nicht weiter und fürchte die Strömung, die mich nach Westen versetzen wird. Dort liegen, nur wenige Seemeilen entfernt die Silberbänke, die ich unbedingt vermeiden muss. Sie bestehen aus Feldern gefährlicher, messerscharfer Riffe, die tückischerweise von nur wenig handbreitem tiefem Wasser überspült werden. Wer da mit seinem Schiff hineingerät, ist unweigerlich verloren.
   Die Silberbänke! Vor ein paar Hundert Jahren war eine spanische Flotte von 40, mit geraubtem Silber beladene Schiffe, auf ihrem Weg von Mittelamerika nach Europa in diese berüchtigten Klippen geraten und mit Mann, Maus uns all dem Silber untergegangen. Die Götter der Azteken hatten sich gerächt.
   Hilflos, beinahe lächerlich, schaukelt mein Boot auf dem Meer. Ich könnte unter Motorkraft zurück zu meinem letzten Ankerplatz fahren und ein viel gemütlicheres Leben führen, aber ich habe meine Rückreise nach Europa zu gut geplant, um jetzt zu kneifen. Ich weiß, ein Umkehren würde mich um Tage, vielleicht Wochen in meinem Vorhaben zurückwerfen und ein früher Hurrikan könnte eine große Gefahr in diesem Teil der Welt bedeuten. Hier auf hoher See fühle ich mich dann doch sicherer. Alles, was ich benötige, ist ja schließlich nur Wind.
   Ich muss mein Hauptaugenmerk auf die Gefahr bei den Silberbänken richten. Angestrengt suche ich Anzeichen von Riffen und lausche nach Brandungsgeräuschen. Immer wieder der Blick zur Uhr, um die nächsten Wettervoraussagen auf die ich dringend warte auf keinen Fall zu versäumen.
   Ich begebe mich in die Kajüte und setze mich neben meine Hündin Susi auf das Sofa. Sie drängt sich an mich und leckt meine Hand. Auf der Kurzwelle schmettert Pavarotti Rigoletto, dann kommen die Wetternachrichten.
   Ich zeichne die Angaben des Wetterdienstes in eine vorgefertigte Skizze meines Seegebietes mit den ungefähren Angaben der Längen- und Breitengrade ein: zuerst die Lage eines kleinen Sturmtiefs zum Zeitpunkt der letzten Beobachtung, das über dem 19. Breitengrad Nord und dem 68. Längengrad westlich von Greenwich lag. Dazu die angegebene, nach Westen führende Bewegung des Tiefs und seine Geschwindigkeit von vier Knoten. Dann trage ich meinen angenommenen Standort und meinen vorgegebenen Kurs ein. Nach kurzem Studium meiner Zeichnung nehme ich mir vor, lieber auf der Hut zu sein.
   Ich stecke meinen Kopf aus der Kajütluke und betrachte das Meer in die Richtung, aus der ich eventuelle Starkwinde erwarten könnte. Ich kann aber nichts Verdächtiges erkennen. Weit hinter mir sehe ich die Berge der Dominikanischen Republik in einem zarten Blau. Tausend Dinge gehen mir durch den Kopf. Wenn ein starkes Wetter wirklich aus der vorausgesagten Richtung auf mich treffen sollte, werde ich meinen Kurs sicherlich nicht halten können. Ich werde nach Westen in die Silberbänke driften, und wenn das Tief über mich hinweggezogen sein würde und die Riffe der Silberbänke etwas von mir übrig gelassen haben sollten, werde ich inmitten dieser Gefahrenzone mit widrigen, oder gar keinen Winden rechnen müssen. Das sind keine guten Aussichten. Ich schaue mir noch einige Zeit die Augen aus dem Kopf gehe dann wieder an meine Wetterkarte und überprüfe alles.
   Wieder an Deck suche ich jeden Zentimeter meines Bootes nach unsicheren Stellen ab. Ich hole extra Tauwerk aus meiner Cockpitbank und spanne Fangleinen an allen möglichen Stellen des Decks. Das große Vorsegel ersetze ich durch eine kleine Sturmfock. Das Großsegel reffe ich bis auf ein winziges Stück Tuch. Es sieht das alles lächerlich aus, bei diesem windlosen Wetter. Gut, dass mich niemand sieht, denn man würde mich vermutlich der Übervorsichtigkeit bezichtigen. Ich hole meine Angel Schleppleine ein, deren Köder, ein paar Streifen bunten Stoffs, etwa hundert Meter hinter dem Heck meines Bootes ausgebracht war, aber jetzt nutzlos tief unten im Meer schwebt.
   Unter Deck koche ich Tee und fülle zwei Thermoskannen. Ich koche einen Topf Reis mit Zwiebeln und grünen Papayas. Ich werfe alle losen Dinge in eine Kiste unter dem Backbordsofa, damit sie, wenn es so weit ist, nicht durch die Gegend fliegen. In der Vorschiffskabine habe ich Unmengen von Obst und Gemüse gelagert. Ich lege eine Decke darüber und zurre diese fest so gut ich kann.
Dann gehe ich wieder an Deck, es ist jetzt 13.00 Uhr Ortszeit. Im Osten hat sich eine breite und dichte Bank aus Dunst gebildet. Etwas Wind kommt auf und weht aus Nordnordost. Es ist brütend heiß. Eine klare Dünung kommt aus Nordost. Ich lege das Boot auf Steuerbordbug, segle hart am Wind und versuche, weit hinaus auf den Atlantik zu gelangen, um mehr Abstand von den Silberbänken zu erreichen. Das Boot segelt schnell, doch leider auch weg von meinem Ziel und geradewegs auf das Tief zu. Aber lieber das, als den Silberbänken zu nahe zu kommen. Wenigstens ist die Situation jetzt klarer.
   Zuerst trimme ich meine Windfahnensteuerung auf den neuen Kurs, öffne eine Dose Sardinen und setze mich ins Cockpit. Es gibt nichts Lächerlicheres, als eine Dose Sardinen auf dem weiten Ozean.
   Es fällt mir auf, dass Susi nicht wie üblich bei mir ist. Sie ist sonst immer die Erste bei Tisch. Ich rufe in die Kajüte und sehe, dass sie sich in einer sicheren Ecke des Sofas zusammengerollt hat, und spitzt nicht einmal die Ohren. Was weiß sie, was ich nicht weiß?
   Nicht zufällig betrachte ich gegen 16.00 Uhr das Barometer. In den letzten Stunden ist es um vier Millibar gesunken. Weil das Tief in südöstlicher Richtung von meiner Position liegt und ich mich im oberen westlichen Quadranten des Druckgebietes befinde, wird ein Starkwind wohl aus Nordost auf mich treffen. Diese Überlegung stimmt auch mit der Vorhersage überein. Ich bin mir nur zu gut bewusst, was dies bedeutet. Das Wetter wird, wenn ich meinen alten Kurs zu den Bermudas wieder aufnehme, von vorne kommen und mich geradewegs in die verruchten Silberbänke treiben. Aber ich habe in den letzten Stunden etwas Seeraum gewonnen und wage eine Wende. Für den Wandersegler gibt es nichts Bedrückenderes, als auch nur eine einzige Seemeile von seinem Kurs abzukommen.
   Ich lege mich auf meine Koje und döse vor mich hin. Ich denke an einen Tag, an dem ich eines Morgens aus dem Fenster schaute und sah, wie die Sonne silbrig durch die Zweige der Akazien vor dem Haus schien, wie ein leichter Wind in den Blättern und Blüten der Holundersträuche spielte und die Luft erfüllt war von berauschenden Düften.
   Habe ich alles getan, was einer guten Seemannschaft entspricht? Es kommt mir der Gedanke, einen Fluchtweg zu planen. Aber wohin? Jede Richtung scheint die falsche zu sein. Selbst ein segelbarer Kurs, der mich weiter weg von den Riffen der Silberbänke bringen könnte, würde nur näher an das anrückende Tief führen.
   Wenig später scheint es, als wäre die aus Nordosten anrollende Dünung durch eine Dünung aus Nordnordosten ersetzt. Ich muss mehrere Male diese geringfügige und dennoch wichtige Veränderung mit einer Peilung über den Kompass überprüfen, muss dazu einige simple Kopfrechnungen anstellen und merke, dass ich mich kaum konzentrieren kann. Irgendetwas Unerklärliches liegt in der Luft und drängt sich mir auf. Ich kenne diese Unruhe aus vielen anderen Situationen. Sie taucht meist dann auf, wenn ich schon einige Tage ununterbrochen auf See bin und alle Verbindungen zum Land abgebrochen sind. Es ist, als würden damit alte Instinkte geweckt werden, die für ein Überleben in der Wildnis der Meere vorgesehen sind. Es sind kleine Warnungen, die aus meinem Unterbewusstsein kommen. Es sind Vorahnungen auf ein sehr bald eintretendes Ereignis, auf das man sich einstellen muss.
   Und da ist es schon! Plötzlich, buchstäblich aus heiterem Himmel frischt der Wind auf und erreicht in weniger als einer Minute vier Windstärken. Dann fünf und mehr. Im Nu ist das Meer eine wirre, hässlich zerfurchte Wasserwüste, grau und von hellen Gischtstreifen durchzogen. Zuerst sind die Wellen kurz und steil, aber nicht besonders hoch. Doch die Höhe nimmt rasch zu. Erst jetzt merke ich, dass der Himmel vollkommen bedeckt ist. Einzelne fette Wassertropfen peitschen mir ins Gesicht und schnell fallen gewaltige Wassermassen auf mich herunter.
   Ich schalte die Selbststeueranlage aus und übernehme das Ruder. Ich kann den Kurs so hart am Wind nicht halten und muss weiter vom Wind abfallen. Das wird mich direkt in die Silberbänke hineinführen und die Situation verlangt es, wieder zu wenden und ein weiteres Mal nach Südosten, weg von meinem Ziel zu segeln. Mein Boot ist wie ein wildes Pferd und bäumt sich auf, während ich es mit dem Bug durch den Wind zwinge.
   Rasch aufeinander folgende Böen peitschen mit aller Gewalt durch das Rigg. In der Takelage dröhnt es, das Stahlseil des Großfalls schlägt in einem wilden Staccato am Mast, als wenn man mit einer Eisenstange an einem Metallzaun entlang rattert.
 Da stelle ich fest, dass plötzlich alle Beklemmung in mir verschwunden ist, ja es kommt mir sogar komisch vor, wie ich hier am Ruder stehe und alle paar Sekunden versuche, einem Wasserschwall auszuweichen. Ich stelle mir vor, wie ich mich bei meiner Arbeit am Ruder betrachte und bemerke, dass es höchste Zeit ist, meinen wuchernden Bart zu stutzen.
   Das Schiff nimmt im wahrsten Sinne des Wortes eine stürmische Fahrt auf. Eine Welle hebt uns hoch, balanciert uns sekundenlang auf ihrem Rücken, trägt uns weit davon und wir brausen hinab in das Wellental und werden dort von unvorstellbaren Wassermassen eingeschlossen, abgebremst und beinahe begraben. Hinter dem Heck schäumt das Fahrwasser und beginnt uns zu überholen, die nachfolgende Woge packt das kleine Boot und hebt es aus seiner nassen Gefangenschaft heraus, hoch hinauf und ich überblicke beinahe die Unendlichkeit des Ozeans. Das gewaltige Schauspiel versetzt mich in Euphorie. Übermütig, aber doch mit einer riesigen Portion Respekt, schaue ich über die Schulter, den mich jagenden Wellen entgegen und ich möchte ihnen zubrüllen, dass ich mich nicht vor ihnen fürchte.
   Eine andere Welle steht plötzlich schwarz und hoch über uns. Sie scheint tatsächlich für eine Weile stillzustehen, bricht dann aber explosionsartig am Heck des Schiffes, überfällt wie mit weit ausgebreiteten massigen Armen das Schiff, überflutet Cockpit und Deck, reißt mich vom Steuerrad und ich lande, in meiner Sicherheitsleine hängend, in der Spritzpersenning der Steuerbord Reling.
   Es regnet jetzt so stark, dass ich den Mast vor mir kaum sehen kann. Die Luft ist erfüllt von Wasser. Ich bin vollkommen orientierungslos und doch habe ich das trotzige Gefühl, Herr der Lage zu sein. Irgendwie ist die ganze Situation ganz einfach phantastisch: Der mächtige Regen glättet etwas die aufgewühlte Oberfläche der See und scheint die Wogen runder zumachen, aus einem gewaltigen Wolkenhaufen bricht trotz des erbärmlichen Regens die Sonne grell hervor und durchdringt die Atmosphäre mit einem diffusen Grün, so, als ob ich in einer Flaschenpost säße und erstaunt in die Welt um mich herum blickte.
   Plötzlich ist der Spuk vorbei. Kein bisschen Wind, kein bisschen Regen. Nur mein kleines Boot fliegt in den Wellen von einer Seite auf die andere, die Segel, im gleichen Rhythmus der Bootsbewegung, machen einen Höllenlärm und drohen jeden Augenblick zu zerreißen. Ich robbe zum Mast, löse den Großfall und zerre das gereffte Segel herunter. Ich krieche zurück ins Cockpit, hole den Baum dicht mittschiffs und zurre ihn fest. Dann wieder zurück zum Mast, falte das Großsegel so gut es geht über dem Baum und befestige es mit dem langen Ende der Großschot. Jetzt bricht wieder eine Welle an Backbord, eine Tonne Wasser reißt mich von den Beinen, und ich bin froh, dass ich an einer Sicherheitsleine hänge. Meine Mutter hat schon immer gesagt, mit mir würde es einmal ein böses Ende nehmen; aber so hatte sie es sich sicherlich nicht vorgestellt.
   Wieder im Cockpit, öffne ich einen spaltbreit die Luke über dem Niedergang zur Kajüte und halte Ausschau nach meinem kleinen Hund. Sie hat sich in Polster und Decken verkeilt, nur ihre langen Ohren stehen spitz heraus. Ich weiß, sie würde mit der ganzen Sache am liebsten nichts zu tun haben wollen. Ich klettere hinunter in die Kajüte und setze mich einen Augenblick neben sie auf das Sofa und streichle in gewohnter Weise ihren Kopf. Sie leckt meine Hand und ich weiß, sie ist nicht nachtragend.
   Wenig später bricht die Dämmerung herein und wie in den Tropen üblich, ist es in wenigen Minuten Nacht. Der Seegang hat sich ein wenig beruhigt und es herrscht ein leichter Wind aus Nordost. Ich trimme das Boot zurück auf meinen geplanten Kurs zu den Bermudas, richte die Windfahnensteuerung aus, öffne eine kostbare Dose Rindfleisch, mische dieses mit meinem bereits vorgekochten Reis und wärme alles auf. Es riecht bald so gut in der Kajüte, dass sogar Susi den Kopf hebt und ihr Interesse an einer ordentlichen Mahlzeit bekundet.
   Etwas später, nachdem ich mich vergewissert habe, dass niemand unvorhergesehen unseren Weg kreuzt, beuge ich mich über meine Seekarte und berechne vergangene Zeiträume und Richtungen auf einem Stück Papier. Bei dem Drunter und Drüber der letzten Stunden ist es jedoch vollkommen unmöglich, auch nur annähernd eine gute Position zu errechnen. Ich komme jedoch zu dem Schluss, dass sich meine Situation keineswegs normalisiert hat. Denn knapp im Westen von meiner angenommenen Position liegen nach wie vor die Silberbänke. Oder war ich gar mittendrin? Dieser Gedanke treibt mich eiligst zurück an Deck.
   Der Wind hat jetzt wieder etwas aufgefrischt kommt aber immer noch aus Nordost. Die See ist gleichmäßiger und mein Kurs dadurch auch genauer. Die Windfahnensteuerung arbeitet gut. Trotzdem weiß ich, dass mich Wind und Strom weiter nach Westen zu den Silberbänken versetzen. Ich könnte noch härter an den Wind gehen, um mehr freien Seeraum zu gewinnen, aber ich würde langsamer sein und die Abdrift würde größer sein. Ich beschließe, den alten Kurs beizubehalten, eine Stunde noch oder zwei, um mich dann wieder auf Steuerbordbug zu legen und wiederum nach Südosten auszuweichen.
   Wenig später, ich stehe eingeklemmt in der Niedergangsluke auf der Stiege zur Kajüte, mein Lieblingsplatz, wenn es darum geht, Ausschau zu halten. Ein unerwartetes Glück tritt ein: Die Bewölkung hat sich vollkommen verzogen und ein herrlich strahlender Sternenhimmel tut sich auf. Ich suche in den Myriaden von funkelnden Punkten den Nordstern, finde ihn auf etwa halber Höhe zum Zenit und korrigiere meinen Kurs so, dass der Stern gerade auf der Steuerbordseite des Mastes hervorlugt. Das bedeutet für mich, dass ich zur Kontrolle des Kurses nicht ständig auf die ermüdenden Leuchtziffern des Kompasses starren muss. Der Kurs zum Nordstern führt mich ziemlich genau zu den Bermudas. Für mich ist dies die schönste Art des Navigierens bei Nacht, die Sterne bekommen ihre eigentliche Bedeutung, sie sind nicht irgendwelche Lichtpunkte, sondern der Inbegriff an Genauigkeit und Verlässlichkeit. Doch was wir heutigen Seefahrer von den Sternen wissen, ist eigentlich ziemlich wenig, weil Satelliten unseren Weg über die Meere weisen. Während der Planung zu meiner einjährigen Reise über den Atlantik und zurück, hatte ich die Wahl, mich entweder mittels eines GPS, also einem „Global Positioning Systems“, oder der althergebrachten Methode der Astronavigation meinen Weg zu finden. Ich hatte mich ohne viel Überlegung für die Navigation mit den Himmelskörpern entschieden, nicht etwa weil ich dies für die romantischere der beiden Möglichkeiten hielt, sondern, weil jederzeit damit zu rechnen war, dass die Vereinigten Staaten von Amerika, welche die Kontrolle über die Navigationssatelliten hat, diese für den nichtmilitärischen Gebrauch abschalten könnte, wenn es in ihren Kram passt. Dies war zum Beispiel im ersten Irakkrieg der Fall. Hunderte Yachties, die sich auf ihre GPS-Geräte verlassen hatten und dachten, sie bräuchten keine Astronavigation, saßen plötzlich und ohne Vorankündigung buchstäblich im Dunklen. Manche von ihnen standen vor kaum lösbaren navigatorischen Aufgaben, sei es bei einer nächtlichen Passage durch ein klippenreiches Gebiet in der nördlichen Karibik oder auf der dringenden Suche nach einem Hafen. Die Mehrheit der modernen Wandersegler hat kaum mehr Kenntnis von den reichen und überaus präzisen Möglichkeiten, die Sonne, Mond und Sterne dem Navigator auf den Meeren bieten.
   Ich reiße mich los von meinen Betrachtungen und lausche in die Nacht. Ich darf die Silberbänke nicht vergessen. Ich versuche mich auf das Geräusch von Brandungswellen zu konzentrieren und suche in der Finsternis nach Gischt.
   Der Wind hat weiter zugenommen und kommt jetzt aus Nordnordost. Hart am Wind rausche ich durch Berge und Täler einer pechschwarzen Wasserwüste. Am Nordstern, der jetzt zu weit steuerbords des Mastes steht, kann ich erkennen, dass ich meinen Kurs zu den Bermudas so nicht halten kann und den Silberbänken näher und näher komme. Nur ungern wende ich das Schiff wieder durch den Wind und flüchte mich einmal mehr auf den verhassten südöstlichen Kurs. Wieder weg von meinem Ziel und hinaus in den offenen Atlantik.
   Zumindest fühle ich mich nach dieser Entscheidung sicher vor den Riffen der Silberbänke. Eine sensationelle Müdigkeit nimmt mich plötzlich gefangen. Ich beschließe, mich in meine Koje zu verkriechen und es bei den verwirrenden Abenteuern des heutigen Tages zu belassen. Irgendwann wird mich mein Boot schon zu den Bermudas bringen.
 
 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 26.02.2014. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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