Marc Schmidt

Apfel und Honig

Die Axt fuhr mit einem metallischen Klonk in den Baumstumpf seitlich der Hütte. Gleich würde Nicks Vater die Tür öffnen und das Blockhaus betreten. Aufgeregt lauschte Nick und tatsächlich näherten sich schwerfällige Schritte.
»Bin wieder da«, brummte der Vater, ein großgewachsener Mann mit der Statur eines Bären. Er war draußen im Wald gewesen, einen Baum fällen. Anschließend hatte er damit begonnen, ihn transportfähig zu machen. Zunächst hatte er die größeren Äste abgesägt, um ihn später in Stücke hacken zu können.
Nick stand mitten im Zimmer und blickte zu seinem Vater auf. Dieser grinste ihm zu und entblöße zwei gelbliche Zahnreihen.
»Na, Sohnemann«, sagte er freundlich und hängte seine Jacke an einen herausstehenden Nagel an der Wand.
»Hallo Vater. Hast du einen Baum gefällt?«
»Oh ja, das habe ich. 'Ne große Eiche.«
»Das ist toll«, sagte Nick und es klang wie ein Flüstern.
Der Vater lachte. Er hatte aus dem aufgeschichteten Stapel vor der Hütte ein paar Holzscheite mitgebracht. In wenigen Schritten durchmaß er die Hütte, klappte den Ofen auf und schob die Scheite hinein. Kurz darauf knisterte und knackte es aus der Ecke.
Der Vater ließ sich langsam in den großen Sessel am Fenster nieder. Draußen fielen zarte Flocken vom Himmel. Die ersten des Jahres. Sie blieben nicht liegen, dafür war es noch zu warm.
Sein Vater hatte Kälte mit nach drinnen gebracht. Nick stellte sich nah an den Ofen heran, um seine kleinen Finger zu wärmen.
»Jetzt brauche ich eine kleine Stärkung«, sagte der Vater. »Nicky, sei doch so gut und bringe mir einen Apfel.«
Nick, froh sich endlich nützlich machen zu können, eilte zu dem vernarbten Holztisch und griff aus der Schale einen Apfel.
»Du bist ein guter Junge«, sagte der Vater vom Fenster aus. »Vergiss den Honig nicht.«
Nick drehte sich auf halber Strecke um und ging in Richtung Vorratskammer. Er öffnete die Tür und sofort strömte ihm verlockender Geruch entgegen. Der große getrocknete Schinken, der von der Decke baumelte überdeckte alles andere. Nick wusste genau, wo der Honig zu finden war. Rechts. Neben den Gemüsekonserven.
Der Vater saß bei Nicks Rückkehr mit geschlossenen Augen in seinem Sessel und schreckte auf.
»Bin ich erschöpft«, brummte er und gähnte. »Die frische Luft macht mich immer so müde.«
Nick beobachtete seinen Vater, wie er das Glas mit dem Honig auf dem Fenstersims abstellte, wie er nach einem Schneidebrett aus Holz griff, das direkt danebenlag und wie er darauf den Apfel ablegte. Es war ein alter Apfel. Die goldrote Haut war bereits schrumpelig und an einigen Stellen braun.
Nicks Vater griff an seinen Gürtel. Seine fummelnde Hand holte ein spitzes Messer hervor. In den riesigen Pranken des Mannes sah es winzig aus. Nick fielen die schwieligen und rissigen Hände seines Vaters auf. Unter den Nägeln hatte sich Erde und Sand angelagert.
In aller Seelenruhe halbierte der Vater den Apfel mit dem ersten Schnitt. Er leckte sich den hervorgetretenen Saft vom Finger. Anschließend wurde der Apfel geviertelt und das Kerngehäuse mit chirurgischer Präzision ausgehebelt. Der Vater blickte auf und grinste seinem Sohn zu.
»Weißt du, man sollte nichts wegwerfen«, sagte der Vater.
Er pickte die Kerne aus dem Gehäuse, schnitt oben und unten den Stiel ab und stopfte sich den Rest in den Mund. Er kaute laut.
Anschließend schnitt der Vater den Apfel in mehrere kleine Schnitze. Es waren so viele, auf jeden Fall mehr als fünf. Weiter konnte Nick noch nicht zählen.
Der Vater drehte den Deckel des Glases ab und tauchte ein Apfelstück hinein. Beim Herausholen zog es einen glitzernden Faden, der sich auf dem Weg in den Mund des Vaters in dessen vollem Bart verfing. Er hing dort wie ein goldenes Spinnenweben. Der Vater biss krachend zu und seufzte laut.
»Nick«, sprach sein Vater mit vollem Mund, »merk dir eins: Apfel und Honig…«
Der Junge nickte, obwohl er nicht ganz verstand, was sein Vater ihm mitteilen wollte.
Schnell verschwanden weitere Teile des Apfels, zuerst im Honigglas und danach im zermahlenden Mund des Vaters.
Nick beobachtete seinen Vater fasziniert; die sich bewegenden Kaumuskeln an den Wangen; der auf und ab hüpfende Adamsapfel; die blauen Augen, die Nick währenddessen so schelmisch anblickten. In Nicks Augen war sein Vater so groß und… einfach nur… ja, groß. Er hatte eine wahnsinnige Kraft und aß sehr viel über den Tag. Besonders abends, wenn er den Tag im Wald verbracht hatte. Dann tischte er groß auf und Nick fragte sich, wie ein einzelner Mensch so viel Nahrung zu sich nehmen konnte. Manchmal versuchte Nick genauso viel wie sein Vater zu essen, doch hatte dann recht schnell Bauchschmerzen.
»Wie flüssiges Bernstein«, sagte sein Vater träumerisch und blickte dabei auf den Honig. »Bienen sind lästig, aber dafür liebe ich sie.«
»Ich habe Angst vor Bienen«, sagte Nick.
»Natürlich hast du das«, sagte der Vater und aß grollend lachend weiter.
Vor dem Fenster wirbelten die Schneeflocken. Der Vater beobachtete sie und schien unbeeindruckt. Er wirkte müde, abgekämpft.
Es waren noch genau zwei Apfelstücke übrig, wie Nick bemerkte. Er stand vorm Ofen. Seine Hände glühten. Langsam entfernte er sich ein paar Schritte von der Heizquelle.
Sein Vater blickte zu ihm hin. Erneut grinste er. Nick sah, wie der Vater nach dem letzten Stück griff und es in das Glas tunkte. Als er es schwungvoll herausholte tropfte Honig auf den Boden.
»Nicky«, sagte sein Vater. »Komm mal eben her.«
Schüchtern näherte sich der kleine Junge mit den glühenden Händen.
»Iss etwas«, wurde Nick aufgefordert. »Iss!«, drängte sein Vater.
Und Nick nahm behutsam das goldglänzende Apfelstück in seiner warmen Handfläche auf. Eine kleine Stelle im Apfel war braun und sah verfault aus. Ohne weiter zu überlegen stopfte Nick es sich ganz in den kleinen Mund.
Der Vater lachte und zog seinen Sohn zu sich auf den Schoß.
Nick kaute mühsam. Sein Mund war viel zu voll. Der Apfel schmeckte leicht mehlig, aber süß wie Sirup. Apfel und Honig. Genauso schmeckte Nicks Kindheit und so würde sie für immer schmecken.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 02.03.2014. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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