Peter Spiegelbauer

Cassandra - Giovanni - Teil 2

In vino veritas

Als Cassandra Victor zum ersten Mal gegenüberstand hatte das Gefühl als wäre sie nur ein kleines Sandkorn in der ewigen Wüste des Lebens. Seine Präsenz erfüllte den Raum wie dicker Nebel es vermögen würde.
Ihre blauen Augen starrten wie gebannt auf seine erhabene Erscheinung. Sie hatte das Kleid an, welches ihr Sanceloto für diesen Anlass bereitgestellt hatte. Es war spät in der Nacht und das Feuer im Kamin schien einen Hauch von Dekadenz zu verbreiten.
„Guten Abend. Wie ich sehe hast du dich einiger Maßen gut erholt. Mein Name ist Viktor Giovanni. Wir befinden uns in einem meiner Landsitze, wenn man es so ausdrücken möchte….“
Viktor erzählte ihr noch einiges über ihren derzeitigen Aufenthaltsort, doch während er sprach bewunderte Cassandra die Wand zu ihrer Rechten. Hunderte Bücher in massiven Holzregalen standen vor ihr. Bücher waren ihr bis jetzt fremd gewesen. Lesen und schreiben hatte sie nie gelernt. Manche Einbände waren beeindruckender als andere und bei manchen konnte sie sich nicht zurückhalten und ließ andächtig ihre Finger über den Buchrücken streichen.
Viktor sprach in beruhigendem Tonfall weiter, bis er plötzlich endete. Sie fuhr aus ihren Gedanken hoch und sah zu ihm hinüber. Jetzt wurde ihr klar, dass er sie etwas gefragt hatte. Sofort schoss ihr das Blut in die Wangen und verlieh ihnen einen unwiderstehlichen Schimmer aus dunklem Rosa.
„Verzeiht. Ich war in Gedanken. Was wolltet ihr wissen?“ fragte sie beschämt.
„Ich fragte nur ob du etwas trinken möchtest. Wir besitzen erlesene Rotweine.“ Viktor lächelte noch immer. Er schien sich aufrichtig über ihre Anwesenheit zu freuen.
„Ich will eure Gastfreundschaft nicht zu sehr in Anspruch nehmen. Ihr habt euch schon viel zu viel Mühe gemacht. Dieses Kleid und das Bett, das ihr für mich bereitgestellt habt unterstreicht eure Großzügigkeit besser als es Worte je vermocht hätten.“ Demütig senkte Cassandra ihren Blick.
„Nicht doch. Setz dich lieber und lass dir von unserem Zusammentreffen erzählen. Soweit ich informiert bin warst du die ganze Zeit über bewusstlos und kannst dich vermutlich an nichts erinnern. Wenn du es willst, werde ich dir alles erzählen was ich weiß.“ Sein einladendes Lächeln wurde immer breiter.
„Doch zunächst….. Sanceloto! Sanceloto! Bring uns eine Flasche meines Lieblingsweins. Und sieh zu das er die richtige Temperatur hat.“
Durch die geschlossene Türe vernahm man nur ein gedämpftes „Ja, Meister.“, bis sich Schritte entfernten.
 
 
dies noctis

Tau benetzte die kalten Steine der Ruine. Es begann Tag zu werden. Cassandra stand immer noch vor dem pechschwarzen Gemäuer. Die Ruinen wirkten eindrucksvoll und düster. Die schwarzen Steine schienen das Sonnenlicht förmlich in sich aufzusaugen, und strahlten eine bedrohliche Finsternis aus, die geradezu spürbar war. Eine komische Mischung aus Angst, Ehrfurcht, Stolz und Hass manifestierte sich in ihrer Brust. Ihre kristallklaren Augen starrten fasziniert auf die riesige Grabstätte vor ihr. Die Eifersucht, die Cassandra einst für ihre leibliche Schwester empfunden hatte war seit ihrem Tod nicht mehr existent. Der Hügel auf dem dieses alte Kloster einst erbaut worden war, erinnerte Cassandra immer an ein überdimensionales Hügelgrab. Auf gewisse Weise war es das auch. Hier geisterte nicht nur ihre Schwester, sondern auch hunderte andere Seelen ruhelos umher. Cassandra kam gern hierher. Hier konnte sie dem Klagen der Geister genußvoll lauschen.
Die Sonne glitzerte in den vielen Tautröpfchen. Sie kniete sich auf die weiche Wiese und senkte den Kopf. Schloss die Augen und versuchte alles Leid und all die Trauer, die dieser Ort symbolisierte in sich aufzusaugen, um ihre eigene gehetzte Seele wieder zur Ruhe kommen zu lassen. Cassandra war acht Jahre alt und hatte ein weisses Spitzenkleidchen an. Ihr wunderschönes langes Haar umrahmte ihr Gesicht und unterstrich ihre kalten femininen Gesichtszüge. Oft fragte sie sich wie viele der Seelen sie selbst von ihren Körpern für immer befreit hatte. Doch nicht heute. Diesmal suchte sie nach einem bestimmten Geist.
Cassandra wusste, dass sie diesen heiligen Ort noch lange nicht betreten durfte. Seit einer Ewigkeit sehnte sie den Tag an dem sie die letzten Hürden überwinden würde, und in das Allerheiligste dieses Ortes vortreten durfte, herbei. Immer mehr und mehr begann die Ruhe in ihre Seele zurückzukehren und auch ihre gemischten Gefühle wichen einer seltsamen Zufriedenheit. Sie hielt sich schon ein wenig zu lange vor der Ruine auf. Die ersten riesigen purpur farbenen Seelenkrieger machten sich bereits auf um sie aus ihrem zarten Körper zu zerren. Sie spürte die eisige Kälte, wie jedes Mal wenn sie entdeckt wurde. Je näher die Krieger kamen desto kälter wurde ihr. Cassandra konnte sich nicht bewegen. Zu fokussiert waren ihre Gedanken auf den Geist, den sie zu finden erhoffte. Ihre Kraft reichte nicht aus, sich aus diesem tranceähnlichem Zustand zu befreien und das Weite zu suchen. Die Seelenkrieger machten sich daran, ihre kleine Seele aus ihrem Körper herauszureißen und für immer unter den dunklen Steinen zu begraben, als eine undurchdringliche Finsternis über Cassandra hereinbrach…
 
Als sie erwachte spürte Cassandra feine Einschnitte auf ihrer makellosen Haut. Relikte ihres Traumes. Das Bettlaken war blutgetränkt, doch die Einschnitte waren nicht der Grund für das Blut. Woher die Einschnitte kamen wusste sie nicht. Cassandra hatte während des Traumes zu schwitzen begonnen. Instinktiv riss sie sich das hauchdünne Schlafgewand vom Leib. Sie hörte erst damit auf, als sie bemerkte, dass es ihr eigenes Blut war, das auf ihrer blassen Haut klebte. Schlagartig beruhigte sie sich.
Die Erinnerung an ihren Traum schlich sich langsam in ihre Gedanken. Wie oft hatte sie die Ruinen in ihren Träumen schon besucht? Sie wusste es nicht mehr. Cassandra bemerkte zunächst gar nicht, dass sie zu weinen begonnen hatte. Auch dafür hatte sie keine Erklärung. Dicke Tränen aus Blut flossen auf ihre seidene Bettdecke. Sie fühlte sich leer und kraftlos.
Sie verfluchte die menschlichen Reaktionen ihres vampirischen Körpers. Ihr Körper war seit ihrer Verwandlung vollkommen verändert. Sämtliche Funktionen wie Herzschlag, Atem und Kreislauf hatte ihr Körper eingestellt. Seltsamer Weise konnte Cassandra immer noch weinen und schwitzen. Da sie aber kein Wasser mehr zu sich nahm, mit dem sie Schweiß oder Tränen produzieren konnte, schied ihr Körper die einzige Substanz aus, die er erhielt. Blut.
Lautes Schnaufen vor der Türe ihres Schlafgemachs, ließ sie mit einem Mal hochfahren. Notdürftig bedeckte sie ihren Körper mit der seidenen Decke und zog an der Kordel, welche in ihr Himmelbett eingearbeitet worden war. Augenblicke später öffnete sich die doppelte Türe lautlos.
„Guten Morgen, liebste Tochter.“ Edoardo Giovannis Lippen umspielte ein seltsames Lächeln, als er ihr Schlafzimmer betrat.
„Ich wusste nicht, das ihr so bald schon zurück sein würdet, verehrter Conte.“ Cassandra schlug demütig die Augen nieder.
Edoardo ging hinüber zum Nachttisch und entzündete eine purpurene Kerze, die er extra für sie mitgebracht hatte.
„Was ist hier passiert, während ich weg war?“ fragte der Conte, ohne auf Cassandras Feststellung über seine plötzliche Rückkehr näher einzugehen.
„Victor hat seine Studien über spirituelle Knotenpunkte fast vollendet. Die Bediensteten des Marquis de Champlain sind vor zwei Tagen in der Stadt angekommen und erbitten eine Audienz bei euch.“ Antwortete Cassandra, während sie immer noch ihre devote Haltung gegenüber Edoardo einnahm.
„Das meinte ich nicht. Warum bist du befleckt?“ jetzt erst ließ Edoardo seinen Blick von der Kerze zu Cassandras Bett wandern.
„Ich hatte mein Mal heute im Bett eingenommen.“ Sie hasste es Edoardo anzulügen, aber aus irgendeinem Grund musste sie es tun.
Edoardo setzte sich zu ihr auf das Bett und begann durch ihr dichtes, dunkles Haar zu streichen.
„Etwas beunruhigt dich doch. Willst du mir nicht erzählen, was dich bedrückt?“
Liebevoll und fürsorglich klangen seine Worte. Wie gern hätte sie ihm seine Besorgnis geglaubt. Doch die langen Jahre unter der Aufsicht des Conte hatten sie Vorsicht gelehrt.
„Ich war um euch besorgt. Eure Existenz garantiert die meine.“
„Kluges Kind.“ Edoardo beugte sich über ihren Hals und begann ihn behutsam zu liebkosen.
Cassandra verharrte regungslos. Einst liebte sie es, wenn er sie berührte. Aber seit dem Edoardo sie zu einem Mitglied der Familie gemacht hatte, war alles anders geworden. Ihr Bezug zu ihrem Körper, Gefühlen, Zeit und Raum hatte sich grundlegend geändert. Dinge die ihr als Mensch wichtig waren, verloren mit den Jahren mehr und mehr an Bedeutung.
Plötzlich stand Edoardo auf und schickte sich an zur Tür zu gehen.
„Du bist ein gutes Kind. Eines Tages werden wir den Mond am Nachthimmel erblühen sehen und die Macht unserer Väter in unseren Herzen tragen.“
Sie mochte seine theatralische Art, doch heute machte sie ihr Angst. Vielleicht deshalb, weil sie wusste, dass das Bild, dass bei seinen Worten vor ihrem geistigen Auge entstand, der Wahrheit entsprach. Die meisten Giovanni waren nichts anderes als selbstsüchtige, machthungrige, intrigante Puppen. Cassandra jedoch sehnte sich danach aus dieser gefühlskalten Umgebung auszubrechen. Für sie galt es eher gute Mine zum bösen Spiel zu machen.
„Ach ja, bevor ich es vergesse…“ Edoardo stand bereits in der Türe, als er sich noch einmal zu ihr umdrehte. „…Victor gibt heute einen Maskenball in seiner Villa. Mach dich doch bitte sauber und zieh dir was nettes an. Ich erwarte dich in einer Stunde in der Eingangshalle.“
Die Türe schloss sich genauso lautlos, wie sie sich geöffnet hatte.
Die Kerze war nun die einzige Lichtquelle. Cassandra starrte auf die flackernde Flamme und dachte angestrengt über ihre jetzige Existenz nach. Cassandra hatte sich seit ihrer Verwandlung der Nekromantie verschrieben. Es war faszinierend die fleischlosen Überreste von Menschen zu fangen und sie für eigene Zwecke zu verwenden. Sie musste unzählige Schriftrollen studieren und mindestens ebenso viele mehr oder weniger erfolgreiche Rituale vollziehen, bis sie sich endlich als würdig erwiesen hatte, um die „Schattenfeste“ besuchen zu dürfen. Dieses Ereignis lag jetzt fast zehn Jahre zurück, doch der Anblick der schwarzen Ruine hatte sich unauslöschlich in ihr Gedächtnis eingeprägt. Die meisten detailierten Erinnerungen an dieses Ereignis, wurden ihr gleich danach aus ihrem Gedächtnis gelöscht. Doch winzige Bruchstücke hatten sich mit Hilfe von starken Emotionen so tief eingebrannt, dass es fast unmöglich war sie zu eliminieren.
Cassandra fuhr aus ihren Gedanken hoch, als sie die außergewöhnlich hohe Flamme der Kerze bemerkte. Wie jeder Vampir hatte sie eine natürliche Angst vor großen Flammen. Kreuze, Silber, Knoblauch oder Weihwasser waren eher verfehlte Darstellungen ihrer Art aus Legenden. Doch Feuer und Sonnenlicht konnte das Ende für jeden Vampir bedeuten.
Sie löschte die Kerze, obwohl sie keine unmittelbare Gefahr für sie darstellte. Mit einem Mal wurde es wieder stockdunkel. Müde setzte sie sich an den Rand ihres Bettes und konzentrierte sich darauf die kleinen Einschnitte zu heilen. Einige verschwanden augenblicklich. Andere erwiesen sich als hartnäckiger. Erst einige Minuten später war nichts mehr zu sehen und ihr Körper wieder so makellos wie zuvor.
Cassandra machte sich für den bevorstehenden Maskenball zurecht. Das dies länger als die vorgegebene Stunde in Anspruch nehmen würde, war eine unumstößliche Tatsache. Aber als Frau durfte sie sich das erlauben.
Edoardo saß in der Eingangshalle in einem alten venezianischen Ohrensessel und ging gerade die schriftlichen Berichte seiner Bediensteten durch, als Cassandra über eine der zwei halbgeschwungen Treppen hinabstieg, um mit ihm auf Viktors Empfang zu erscheinen.

Diese Geschichte basiert zum größten Teil auf den Rollenspielbüchern von White Wolf, genauer gesagt auf den Sourcebooks von Vampire the Masquerade. Da es dieses Spielsystem schon seit vielen Jahren nicht mehr gibt, und es demnach kaum noch von irgendjemandem heutzutage gespielt wird, wollte ich dieser Kindheitserinnerung von mir Tribut zollen, in dem ich einige Geschichtsfragmente dazu verfasste.
Es tut mir leid, wenn sich der eine oder andere Leser erst ein wenig durch-googeln muss, um zu verstehen worum es in diesem Spielsystem überhaupt geht, beziehungsweise um den Hintergrund der Geschichte zu verstehen. Ich bedanke mich schon jetzt für euer Verständnis.
Da ich diese "Kurzgeschichte" schon seit Langem nicht mehr überarbeitet habe, bin ich für jeden konstruktiven Vorschlag zur Verbesserung des Textes dankbar. Liebe Grüße Peter Spiegelbauer
Peter Spiegelbauer, Anmerkung zur Geschichte

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 05.03.2014. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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