Jana Weiß

Grenzerfahrung


Geliebter,
 
nachfolgendes habe ich aufgeschrieben, weil es eine Erfahrung ist, die wir beide wohl nie vergessen werden. Ich habe es dir schon ein paar Mal gesagt: Noch nie warst du mir so nah, wie in diesen Momenten. Noch nie fühlte ich mich so verbunden wie zu diesem Zeitpunkt. Ich schlug die Augen auf und sah dich zuerst. Nichts war mir so wichtig wie deine Nähe in diesem Moment. Doch jetzt sollst du alles wissen…
 
Grenzerfahrung
 
Zwei Wochen nach dem Hundebiss auf dem Mittelaltermarkt ging es mir plötzlich nicht mehr so gut. Ich fühlte mich schlapp, ich fühlte mich krank. Und die Angst, doch irgendwas „gefährliches“ zu haben, trieb mich zum Arzt. Ich konnte nicht ahnen, welche Lawinen dieses Erlebnis nach sich zog, welche Mühlen die verdammte Bürokratie antrieb. Ab diesem Zeitpunkt war ich eine Nummer in der Kartei, tollwutverdächtig, vielleicht schon aufgegeben, aber dies konnte oder wollte man mir so natürlich nicht sagen.
 
Zunächst wurde ich mit einer 4-fach Impfung malträtiert, zur Vorsorge – sagten sie. Was gibt es da noch vorzusorgen? – wollte ich entgegnen, fand die ganze Angelegenheit witzig und lehnte mich innerlich gegen so viel ärztlichen Unsinn auf. Ein kurzer Anruf in der Klinik. „Sie müssen sich gegen Tollwut impfen lassen, das ist Pflicht“ – mit diesen Worten entließ mich die Ärztin. In ihren Augen sah ich Erleichterung. Sie hat den Fall abgegeben, weitergegeben, sollen sich andere drum kümmern. Und sie kümmerten sich schon am nächsten Tag. Aufklärung vor der Impfung, eigentlich wäre es schon zu spät, Heilungschancen gleich Null, aber was sein muss, muss sein – der Gesetzgeber will es so, sie verstehen das doch sicher...". Ich verstand gar nichts, weder diesen Unsinn noch die vermeintliche Gefahr. Noch immer erschien mir das Ganze wie ein schlimmer Traum, ich muss nur aufwachen und der Spuk hat ein Ende. Das erwies sich leider als Trugschluss. Nach der ersten Impfung ging es mir zwei Tage schlecht. Am Freitag Fete bei Mario. Da haben wir noch gelacht über meine Dämlichkeit, sich von einem kleinen Welpen beißen zu lassen, da haben wir gewitzelt über die 1. Impfung. Einen Tag später - Samstag – sollte die zweite erfolgen. Keine Ahnung, warum du darauf bestanden hast, mich zu fahren. Ich wollte dich schlafen lassen, ich schaff das allein – bin doch schon groß. Meine Gedanken hast du weggewischt mit einem einzigen Satz: Ich fahre dich! Eigenartig, hattest du böse Vorahnungen?
 
Infektionsstation – Keller, leere Gänge, und ewiges Warten auf die einzig verfügbare Ärztin. Wir haben unsere Witze darüber gemacht und ich sagte: „Hier im Keller ist Endstation, hier karren sie die Toten hin, da bin ich ja gerade richtig.“ Mit einem Lächeln verschwand ich hinter einer dieser Türen. Was dann geschah, weiß ich nur aus deinen Erzählungen. Ich erinnere mich daran, dass ich mich wunderte, wie sehr es brannte, als die Ärztin mir das Zeug in den Körper spritzte, und ich fühlte, dass irgendwas nicht in Ordnung sein konnte. Dunkelheit umfing mich, und eine ungewohnte Schwäche. Diese verdammte Kälte. Sie griff um sich, breitete sich aus, lähmte mich. Wie aus weiter Ferne spürte ich, dass mein Hals zuschwoll und meine Lunge sich verkrampft. Es ist gleich vorbei, dachte ich noch. Von da ab wollte ich nur noch meine Ruhe, in die ich bereits immer wieder eingetaucht war. Ein schwerer, dunkler Mantel, der mich zudeckte, der mich wärmte und mir die Schmerzen nahm. Dort war es so schön, still und friedlich. Es strahlte eine helles Licht, das mich beinahe blendete, ich konnte keinen Weg erkennen, keinen Anfang und kein Ende. Die Wärme durchflutete meinen gesamten Körper. Ein unheimlich gutes Gefühl von Schwerelosigkeit und Ruhe. Alles schien sich aufzulösen. Ich sah vertraute Gesichter, längst verloren und dennoch so nah. Sie bedeuten mir, stehen zu bleiben, nicht weiterzugehen, winken zum Abschied. 
 
Immer wieder dringen Wortfetzen an mein Ohr, schäumen über, nehmen Besitz. Sie stören mich. Gurgelnde Geräusche, hektische Bewegungen und ein Körper, der sich aufbäumt, statt aufzugeben. Ich sehe seinen Kampf, will das nicht. „Lasst mich doch einfach in Ruhe“. Meine Lippen formen sich und bringen dennoch nichts hervor. Es ist so anstrengend. Plötzlich waren sie wieder da: all die Schmerzen, die Angst, die Gefühle, der Verstand und meine Orientierungslosigkeit. Ich drehe meinen Kopf instinktiv nach links, und sehe in ein blasses, erschrockenes Gesicht. Du glaubst gar nicht, wie froh und dankbar ich bin, zuerst dich zu sehen. Das hatte soviel Vertrautes und ich wollte bleiben!
 
Das Leben hatte mich wieder und du bist an meiner Seite.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 09.03.2014. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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