Ernst Heissenberger

Der Drachentöter (eine Geschichte aus dem Mittelalter)



Frühling war es. Um ihn herum flatterten Schmetterlinge, und Bienen summten eifrig auf der Suche nach ersten Blüten durch die allmählich wärmer werdende Luft.
Seit drei Stunden war er, ohne sich eine Pause zu gönnen, geritten, und erst jetzt, da er seine und die Müdigkeit des Pferdes zu spüren begann, gönnte er sich eine Rast. Mit einer raschen Bewegung schwang er sich vom Pferd, das seinen Schädel nach hinten warf und, wie zum Dank für die Unterbrechung des Rittes, mehrmals lautstark in seine Richtung wieherte. Er führte das Pferd zu einer am Rande der vor ihm liegenden Wiese stehenden Gruppe junger Pappeln, band es an einem der Stämme fest und ließ sich, ermüdet aber auch zufrieden, auf dem noch winterkühlen Boden nieder.
Seine Eltern würden seine Abwesenheit erst am Abend bemerken. Sie waren im benachbarten Dorf zu Besuch bei einem der zahlreichen Brüder seines Vaters, der dort mit seiner Frau, einem alten, stets missgelaunten Wesen, und fünf Kindern lebte.
Langsam ließ er seinen Oberkörper in das hohe Gras sinken und verschränkte die Arme hinter seinem Kopf. Ermüdet von dem langen Ritt schloss er die Augen und versuchte sich das Leben in der Stadt auszumalen, von der sein Onkel schon so vieles zu berichten gewusst hatte.
Kurz darauf war er eingeschlafen. Unruhig bewegte er seinen Kopf. Unrhythmisch ging sein Atem, als er von verwegenen Abenteuern zu träumen begann, die es in naher Zukunft zu bestehen geben würde.
Eine knappe Stunde nur lag er in der Frühlingswiese, während sein Pferd friedlich neben ihm graste, und doch schien es ihm wie eine Ewigkeit, als er – ihm begann kühl zu werden, da Wolken vor die Sonne getreten waren – erwachte. Benommen blinzelte er, streckte die Arme von sich, wusste weder wo er sich befand noch wie er hierher gekommen war und sah, nachdem er sich langsam aufgesetzt hatte und sich allmählich wieder an den heutigen Tag zu erinnern begann, vor sich eine dunkle, finstere Gestalt, die zumindest einen Kopf größer war als die seines Vaters.
Er wagte sich nicht zu bewegen, und tausende Gedanken schossen ihm durch den Kopf.
„Was machst du denn hier so ganz alleine, mein Freund“, begann die finstere Gestalt vor ihm plötzlich zu sprechen und beugte ihren mächtigen Oberkörper in seine Richtung.
Unfähig zu antworten, versuchte er auf die Beine zu kommen, was ihm jedoch, immer noch müde von den Anstrengungen des Rittes und benommen von dem kurzen aber intensiven Schlaf, nur mühsam gelang.
„Bist du etwa stumm, mein Freund?“, sagte die Gestalt, als er nach einer halben Ewigkeit schließlich auf unsicheren Beinen stand. Diese zitterten jetzt nicht nur vor Müdigkeit, auch Furcht machte sich allmählich in ihm breit.
„Oder bist du etwa taub?“, setzte die Gestalt ihren Monolog fort, beugte ihren Oberkörper noch weiter in seine Richtung und brach plötzlich in schallendes Gelächter aus.
Nun war der Junge gänzlich verwirrt. Er wusste nicht, ob er in das Lachen des Fremden einstimmen oder vor ihm davonlaufen sollte. Entgeistert stand er da inmitten der Frühlingswiese. Er nahm weder die Schmetterlinge wahr noch den hellen Klang der unermüdlich zwitschernden Vögel, denen er zuerst, bevor er eingeschlafen war, gelauscht hatte.
„Na komm“, sagte schließlich der Fremde nach einer kurzen Weile des Lachens und legte freundschaftlich den rechten Arm auf die Schulter des Jungen, „wir wollen etwas essen. Und dabei wirst du mir erzählen, was dich hierher verschlagen hat.“
Er führte den Jungen in Richtung seines Pferdes, das er ebenfalls an einer der Pappeln, unmittelbar neben dem Pferd des Jungen, festgebunden hatte.
„Ich hoffe, du hast Hunger, mein Junge“, sagte der Fremde und zeigte lächelnd auf einen über dem Sattel seines Pferdes hängenden toten Hasen.
Als er kurz darauf vor dem prasselnden Feuer saß und beobachtete, wie der Fremde den aufgespießten Hasen langsam über den Flammen drehte, kehrte wieder Leben zurück in seinen Körper. Er saß mit angewinkelten Beinen da und dachte an den heutigen Morgen, als er den Entschluss gefasst hatte, von zu Hause fortzugehen. Für immer fort und in die Stadt zu gehen, um dort sein Glück zu machen. Er dachte an die Erzählungen seines Onkels, der – so lange er sich zurück erinnern konnte – in der Stadt lebte. Und er dachte an die Schilderungen des Nachbarn, der sich in regelmäßigen Abständen in der Stadt aufhielt, um dort am Markt Handel zu treiben mit den Früchten des in mühevoller Arbeit bewirtschafteten Feldes und der Viehwirtschaft, die übrig blieben von den Abgaben, die an den Gutsherren zu leisten waren und von dem Bedarf der sechsköpfigen Familie, die es zu ernähren galt. Er erinnerte sich an die Schilderung über edle, vornehm gekleidete Damen und deren Begleiter, die hohe Ämter inne hatten und nicht tagtäglich von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang auf dem Feld oder im Stall stehen mussten, um für ihr tägliches Brot zu sorgen. Und er dachte an die Schilderung des bunten Markttreibens. Er versank dabei ganz in Gedanken, und beinahe schien es ihm, das Stimmengewirr der ihre Früchte anpreisenden Bauern und das Geschnatter und Gegackere der Enten und Gänse und Hühner zu hören, als der Fremde ihm eine Hasenkeule unter die Nase hielt.
„Da, mein junger Freund, lass es dir schmecken.“
Aus seinen Träumen gerissen, blickte er in das Gesicht des ihm gegenüber sitzenden Mannes, der so alt sein mochte wie sein Vater. Im Gegensatz zu diesem war seine Stirn jedoch zerfurcht, und sein dunkles langes Haar hing ihm bis zu seinen Schultern herab. Seine Haut war braun gebrannt wie es die seines Vaters war im Herbst nach Monaten mühevoller, entbehrungsreicher Arbeit auf dem Feld.
Langsam ergriff der Junge das schmackhaft riechende Stück Fleisch, lächelte dankend und biss hungrig hinein.
„Der arme Bursche ist mir heute leider über den Weg gelaufen“, lächelte der Mann zurück, „da konnte ich einfach nicht widerstehen.“
Er nahm sich selbst ein großes Stück von dem Fleisch und biss ebenfalls herzhaft zu.
Mittlerweile war die Sonne so weit gesunken, dass sie in nicht allzu langer Zeit die Wipfel des an die Wiese angrenzenden Waldes berühren würde. Die Pappeln, unter denen noch immer die Pferde standen, warfen lange Schatten, und in dem zuerst erregt geführten Vogelgezwitscher kehrte allmählich Ruhe ein.
„Und jetzt erzählst du mir, was dich hierher verschlagen hat, mein Junge“, sagte der Mann, nachdem die beiden den Hasen aufgegessen und die Knochen in das beruhigend flackernde Feuer geworfen hatten.
„Ich gehe in die Stadt“, sagte der Junge. „Ich will dort leben und ich will dort mein Glück machen.“
Der Mann sah den Jungen an und lächelte. Aber er lächelte nicht über den Plan des Jungen, er lächelte über die Vehemenz und Bestimmtheit, die in den Worten des Jungen lagen. Er begann von seinem bisherigen Leben zu erzählen, von einem Leben in einer Bauernfamilie, das bis jetzt nicht viel an Freuden und Annehmlichkeiten zu bieten gehabt hatte. Von einem eintönigen Leben jahraus, jahrein, das dahin lief ohne Abwechslungen und Überraschungen, bis man schließlich – nach unermüdlicher Mühe und Plage für seine Familie – an einer der unzähligen unheilbaren Krankheiten starb oder im Streit von einem betrunkenen Nachbarn erschlagen wurde. Aber der Junge erzählte auch von Geschichten, die er über die Stadt, die zwei Tagesreisen von seinem Dorf entfernt lag, gehört hatte, und je länger der Mann dem Jungen zuhörte, umso deutlicher kehrte die eigene Erinnerung zurück, als er von zu Hause fortgegangen war, um sein Glück in der Fremde zu suchen. Er erinnerte sich an die vielen Abenteuer, die ihm widerfahren waren, an so manche Rauferei, bei der er am Rande des Todes gestanden war und die er nur durch Glück und Zufall überlebt hatte. Aber er erinnerte sich auch an die vielen guten Dinge, an unzählige Abenteuer mit wohlhabenden Damen der Stadt und mit leichtgläubigen Mägden, die ungläubig staunend an seinen Lippen hingen, wenn er, in einigen Fällen natürlich maßlos übertreibend, wie er sich lächelnd eingestehen musste, Erlebnisse aus seinem ereignisreichen Leben geschildert hatte.
„Und deshalb bin ich von zu Hause weggegangen“, schloss der Junge mit fester Stimme, „um in der Stadt mein Glück zu machen.“
Die Sonne war hinter den Bäumen versunken, und die nur noch zaghaft flackernden Flammen warfen gespenstische Schatten auf die beiden am Feuerplatz sitzenden Gestalten.
„Wir werden jetzt schlafen gehen“, sagte der Mann nach einer langen Weile des Schweigens, „wir haben morgen einen weiten Weg vor uns.“
„Ja“, antwortete der Junge langsam und erhob sich. Er dachte an die Stadt, und er wusste, dass er dort sein Glück machen würde. Der Junge ließ seinen Blick langsam über die wie in Flammen stehenden Wipfel des Waldes streifen, und seine Augen glitzerten im rötlichen Schein der untergehenden Sonne wie zwei Edelsteine.

2
Die beiden waren noch keine Stunde geritten, als der Mann sich mit einem Ruck zu dem Jungen hinter ihm drehte, der noch ganz versunken war in den Erinnerungen an das gestrige Gespräch am abendlichen Feuer.
„Brrr“, sagte er kurz und bestimmt, und mit einer energischen Bewegung brachte er die beiden Pferde zum Stehen.
Der Junge, jäh aus seinen Gedanken gerissen, sah fragend in das Gesicht des Mannes, und noch ehe er etwas sagen konnte, schwang dieser sich vom Pferd und deutete in Richtung einer Waldlichtung, die keine fünfzig Meter vor ihnen aufzutauchen begann, rechts des Weges, auf dem sie sich befanden.
„Mir war“, sagt der Mann, jetzt mit deutlich gesenkter, beinahe flüsternder Stimme, „als hätte ich einen leisen Hilferuf vernommen.“
Der Junge stieg ebenfalls vom Pferd und zuckte nur unwissend mit seinen Schultern, da er selbst nichts dergleichen gehört hatte.
„Wir müssen vorsichtig sein“, sagte der Mann, „mir wurde vor einigen Tagen erzählt, dass sich hier in der Gegend eine Schar übler Gesellen herumtreiben soll.“
Mit einer vorsichtigen Bewegung griff er zu dem an seiner linken Seite hängenden Schwert und führte die beiden Pferde vom Weg ab nach links durch halbhohes Gebüsch in den Wald hinein zum nächsten Baum, wo er sie festband.
„Dieses Gesindel schreckt vor keiner Gräueltat zurück“, sprach er leise weiter, „vielleicht haben sie jemanden verschleppt.“
Der Junge spürte mit einem Male wieder wie seine Beine zu zittern begannen. Natürlich hatte sein Vater ihm von herumziehenden Räuberbanden erzählt, vor denen man sich in Acht zu nehmen hatte. Abends, wenn er wach im Bett gelegen war, hatte er sich wundersame Abenteuer ausgedacht, von Banditen und hübschen Mädchen, die er aus deren Gewalt befreite und die ihn daraufhin zum Dank für diese Rettung heirateten und mit ihm in Glück und Zufriedenheit gemeinsam den Rest ihres Lebens verbrachten. Aber das waren Tagträume gewesen, und jetzt galt es, sich der Realität zu stellen.
Der Junge stand neben seinem Pferd, seine Beine zitterten und angestrengt versuchte er, die Hilfeschreie ebenfalls zu hören.
„Komm“, sagte der Mann und deutete in Richtung der Waldlichtung, „aber sei leise.“
Eine Ewigkeit später, so schien es zumindest dem Jungen, standen sie, verdeckt von wildem Gestrüpp, am Rande der Waldlichtung und sahen am gegenüber liegenden Waldrand drei Männer um ein herunter gebranntes, nur noch schwach glosendes Feuer sitzen. Wenige Schritte neben den Männern lag eine zusammengekrümmte Gestalt, die der Junge zuerst für ein Bündel Stoff hielt. Erst als das Bündel Stoff sich bewegte, wurde dem Junge bewusst, dass es ein menschliches Wesen war.
„Siehst du das Mädchen?“, fragte der Mann leise und deutete kurz mit seinem Kopf in Richtung der Wegelagerer.
Mehrmals schluckte der Junge, und Schweiß trat auf seine Stirn. Er brachte kein Wort heraus und nickte nur stumm zurück.
„Diese Schweine“, presste der Mann zwischen zusammengekniffenen Lippen hervor, „die wollen sie wirklich verschleppen – oder ihr Gewalt antun. Aber ohne mich, wartet bloß …“
Er deutete dem Jungen, ihm zu folgen, zog sein Schwert aus der Scheide und schlich langsam, geduckt, und damit verdeckt von dem am Waldrand wachsenden Gestrüpp, in Richtung der an der Feuerstelle Sitzenden.
Gut gelaunt saßen diese da, prosteten sich lautstark zu und brachen wenig später in fröhliches Gelächter aus.
„Versuche, dich auf die andere Seite zu schleichen“, sagte der Mann, als sie nur noch wenige Schritte von den dreien entfernt waren. „Auf mein Zeichen hin läufst du auf die Waldlichtung und beginnst so laut zu schreien wie nur möglich. Das wird sie soweit ablenken, dass sie mich nicht kommen hören.“
Stumm nickte der Junge und drehte sich in die Richtung, in die der Mann deutete. Vorsichtig darauf achtend, nur jedem dürren am Waldboden liegenden Ast auszuweichen, entfernte er sich, wie der Mann ihm geheißen hatte und wartete, nachdem er etwa fünfzig Schritte von seinem Begleiter entfernt wieder in Deckung gegangen war, auf dessen Zeichen zum Losschlagen.
Sein Herz klopfte ungestüm, und er wunderte sich, wieso keiner der drei am Feuer Sitzenden von diesem Klopfen aufgeschreckt wurde. Ihm schien sein Herzklopfen alles um ihn herum zu übertönen. Mit beiden Händen hielt der Junge sich an dem vor ihm stehenden Baumstamm fest und ließ dabei seinen Begleiter nicht aus den Augen, der hinter Gestrüpp ebenfalls in Deckung gegangen war. Ein paar Augenblicke starrten die beiden sich über die zwischen ihnen liegende Distanz hinweg an, bewegungslos wie zwei Raubtiere, die sich anschickten über ihre ahnungslosen Opfer herzufallen. Dann gab der Mann dem Jungen das vereinbarte Zeichen zum Losschlagen.
Aber der Junge rannte nicht los. Mit bleichem Gesicht stand er da, umklammerte den Baumstamm vor sich und spürte, dass seine Beine ihm nicht gehorchten. Wirre Gedanken schossen ihm durch den Kopf. Von Abenteuern, die er sich ausgemalt und die er unzählige Male, in seinem Bett liegend oder auf einer warmen sonnenüberfluteten Wiese, durchlebt hatte, bruchstückhafte Erinnerungen an Erlebnisse seiner Kindheit mit Nachbarskindern in dem kleinen unscheinbaren Dorf seiner Eltern. Erst als die Erinnerung wiederkam an Erzählungen seines Onkels von der Stadt und an seinen Entschluss, dort sein Glück zu machen, nahm er all seinen Mut zusammen, warf noch einen raschen Blick zu dem Mann, der mittlerweile Anstalten machte, auch ohne die Unterstützung des Jungen loszuschlagen, und stürmte, aus vollem Halse schreiend, auf die vor ihm im gleißenden Sonnenlicht daliegende Waldlichtung.
Die drei um die Feuerstelle Sitzenden waren in der Zwischenzeit ruhiger geworden und schienen sich auf einen kurzen Mittagsschlaf vorzubereiten, als der Junge plötzlich vor ihnen auftauchte und lauthals schreiend ihre Aufmerksamkeit auf sich lenkte.
Noch ehe die drei auf die Beine kamen, war der Begleiter des Jungen, der nur wenige Augenblicke nach dem Jungen aus seiner Deckung gestürmt war, hinter ihnen.
Mit einem mächtigen Satz sprang er auf den ihm am nächsten Sitzenden zu und bohrte ihm das Schwert mit solcher Wucht durch den Rücken, dass die blutige Spitze aus seinem Bauch wieder austrat. Halblaut röchelnd kippte der tödlich Getroffene zur Seite.
Der neben ihm gesessen war, bekam, da er noch immer entgeistert den Jungen vor ihm anstarrte, von dem, was sich hinter seinem Rücken abspielte, nicht das Geringste mit. Deshalb sah er auch nicht, wer ihn tötete. Er spürte nur einen leisen Lufthauch an seinem rechten Ohr entlang streichen, dann fiel er in einen dunklen, finsteren Schacht, und das war das letzte, was er in seinem Leben wahrnahm.
Sein Kopf, den der hinter im stehende Mann mit einem mächtigen Hieb seines Schwertes vom Rumpf getrennt hatte, flog in flachem Bogen zur Seite und kullerte – wie ein herbstreifer, vom Baum gefallener Apfel – am Boden entlang und landete schließlich in der glosenden Feuerstelle, die wenig später nach verbrannten, in der Glut knisternden Haaren zu riechen begann.
Dem dritten Wegelagerer war ein nicht wirklich längeres Leben beschieden als seinen Gefährten. Mühsam auf seine Beine gekommen und sich vom ersten Schreck erholend, begann er auf die offene Waldlichtung zu laufen, stolperte aber nur wenige Schritte später und landete bäuchlings am Boden zwischen ersten, zaghaft blühenden Frühlingsblumen. Der Mann hinter ihm, sein blutiges Schwert drohend erhoben, hatte den Gestürzten mit wenigen Schritten eingeholt, und er ließ den am Boden Liegenden nur wenige, spärliche Augenblicke Zeit sich auf den Rücken zu drehen, ehe er sein Schwert mit einem kräftigen Stoß durch ihn hindurch bohrte. Kläglich aufseufzend verdrehte der tödlich Getroffene seine Augen, dann starb auch er.
Der Junge, der mittlerweile nicht mehr schrie, sondern nur fassungslos, mit weit aufgerissenen Augen und offenem Mund, das Gemetzel beobachtete, hörte das hässliche Knirschen, als das Schwert sich – durch den zuckenden Leib hindurch – in den Waldboden bohrte. Er wusste, dass er dieses Geräusch in seinem ganzen Leben nicht wieder vergessen würde.
Für endlos lange Augenblicke stand er da und wusste nicht, was er tun sollte. Sein Blick wanderte von den drei am Boden liegenden Toten zu dem Mann, der gerade sein Schwert langsam aus dem dritten leblosen Körper zog und dann zum Waldrand zurückging, wo sich noch immer das Mädchen befand.
Bewegungslos lag es da. Durch den Schreck war es offensichtlich in Ohnmacht gefallen und hatte von den Gräueltaten nichts mitbekommen.
Der Mann beugte sich über das Mädchen, nahm es auf seine Arme und schickte sich an zu den Pferden zurück zu gehen.
„Aber die Toten“, sagte der Junge und ging eiligen Schrittes auf ihn zu, „wir können sie doch nicht so einfach liegen lassen.“
„Mach dir über die nur keine Sorgen“, gab der Mann mit fester Stimme zurück, „die werden nicht lange liegen bleiben. Das nächste Rudel Wölfe wird sich über dieses Festmahl freuen.“
Kurz darauf waren sie bei ihren Pferden angelangt.
„Hier in der Nähe gibt es ein Dorf“, sagte der Mann, nachdem er auf sein Pferd gestiegen war, „dort wird man sich um das Mädchen kümmern.“

3
Das Dorf, das sie kurze Zeit später erreichten, bestand aus nicht mehr als aus dreißig Häusern.
Als die drei den breiten, von den heftigen Regenfällen der letzten Tage ausgewaschenen Weg in das Dorf ritten, fand sich nur ein älterer Mann, der, kaum dass er die herannahenden Reiter bemerkte, zuerst langsam, dann jedoch immer schneller werdend und schließlich – soweit es seine körperliche Verfassung und sein fortgeschrittenes Alter zuließen – laufend auf sie zukam. Dabei schwenkte er den Stock, auf den er sich zuerst gestützt hatte, und sein Mund verzog sich zu einem immer breiten werdenden Lachen.
Das Mädchen hatte in der Zwischenzeit ihr Bewusstsein wiedererlangt, von dem vor ihrer Rettung Vorgefallenen aber nur sehr bruchstückhaft zu erzählen gewusst und schließlich, ganz offensichtlich verängstigt über die nicht gerade Vertrauen erweckende, hünenhafte Erscheinung des Mannes, vor dem sie jetzt am Sattel saß und der sie mit einem kräftigen Griff umfasst hielt, überhaupt geschwiegen.
Jetzt aber, als der alte Mann raschen Schrittes zwischen den Häusern des Dorfes auf sie zukam, erhellte sich auch ihr Gesicht, und als er mit erhobenen Armen vor den beiden Pferden stand, war darin sogar ein Lachen zu erkennen. Rasch und geschickt entwand sie sich den Armen ihres Retters, ließ sich vom Pferd herab auf den Weg gleiten und schloss den alten Mann, mit zitternder Stimme immer wieder „Vater, Vater“ schluchzend, herzlich in ihre Arme.
Wie der Junge, als man ihn in das Haus das alten Mannes geführt hatte, und sein Begleiter erfuhren, handelte es sich bei dem von ihnen geretteten Mädchens um die jüngste Tochter des Dorfältesten, eben jenes Mannes, der ihnen, als sie in das Dorf geritten waren, entgegen geeilt war.
Sie hieß Cristina und war sechzehn Jahre alt. Sie war heute am frühen Vormittag mit ihrer älteren Schwester Agnes zu dem in der Nähe gelegenen Bach gegangen, um dort die Wäsche der Familie zu waschen. Da der Bach aber aufgrund der heftigen Regenfälle der letzten Tage Hochwasser führte und ungestüm und kraftvoll an dem schmalen in der Strömung bedenklich knarrenden Holzsteg vorbeischoss, entriss er dem Mädchen in einem unachtsamen Augenblick ein großes Tuch und trug es mit rascher Geschwindigkeit davon. Kaum hatte sich Cristina vom ersten Schrecken erholt, lief sie – ihrer verdattert zurückbleibenden Schwester über die Schulter zurufend: „mach du die Wäsche einstweilen fertig, ich bin gleich wieder zurück“ – dem auf den Schaumkronen dahin tanzenden Tuch hinterher. Der Bach aber trug das Tuch rascher mit sich fort als das Mädchen zu laufen imstande war, so dass es Cristina unmöglich war, das Tuch zu erwischen, noch dazu, da das Ufer des Baches dichter und dichter mit Weiden und Gestrüpp verwachsen war, je näher er dem hinter dem Dorf gelegenen Wald zuströmte.
Völlig außer Atem und ohne Aussicht darauf, das Tuch jemals wieder zu sehen, blieb das Mädchen schließlich stehen und merkte mit einem Mal, dass es sich im Wald befand, und zu der Angst vor der drohenden Strafe für ihre Unachtsamkeit kam plötzlich eine andere, ungewisse Angst, als sie um sich blickte.
Ihre Eltern hatten sie und ihre Schwester stets davor gewarnt, nur ja nicht ohne Begleitung des Vaters in den Wald zu gehen, und jetzt stand sie da, alleine inmitten der auf sie bedrohlich wirkenden Bäume, umgeben von unbekannten Geräuschen. Sie wusste nicht recht, wovon die Angst ausging für sie hier im Wald. Waren es die riesigen, in den Himmel reichenden Bäume, die mit ihren hin und her schwankenden Ästen nach ihr zu greifen schienen, das ferne Ächzen eines verdorrten Astes im Wind oder das unermüdliche, heisere Geschrei zweier um ein Weibchen streitenden Vogelmännchen? Zitternd stand sie da. Sie wollte schreien, aber ihre Stimme versagte. Mit einer heftigen Bewegung fuhr sie herum und wollte zurücklaufen. Aus dem Wald hinaus, in das Dorf, zu ihrer Schwester, zu ihren Eltern; wollte sich im Bett verstecken und die Bettdecke über ihren Kopf ziehen.
Dennoch blieb sie wie angewurzelt stehen, denn vor ihr standen drei Männer, die sie noch nie zuvor gesehen hatte.
Mit in die Hüften gestützten Armen standen sie da, und sie lächelten das Mädchen merkwürdig an. Es war Furcht erregend und böse und grauenvoll. Wenn Wölfe lächeln würden, schoss es Cristina durch den Kopf, bevor sie ihre gierigen Zähne in den Hals eines unschuldigen Lammes vergruben, dann würden sie genauso lächeln wie diese drei Männer.

Mittlerweile war Agnes aus Angst, es könnte etwas passiert sein, mit der zum Teil ungewaschenen Wäsche zurück zum Dorf und zu den Eltern geeilt, um von dem Vorgefallenen zu berichten. Ihr Vater, entsetzt und zu Tode erschrocken, hatte wenig später drei Männer aufgetrieben, die sich auf die Suche nach seiner verschwundenen Tochter machten. Bewaffnet mit Dreschflegeln und ihren verdutzten Frauen aus den Händen gerissenen Küchenmessern liefen sie in Richtung Wald, dem besorgten Vater versprechend, nicht eher zurück zu kehren, bis sie seine Tochter gefunden hätten.
Das war nun schon über eine Stunde her, und sie waren noch nicht zurückgekehrt.
„Ich werde wohl jemanden losschicken müssen“, sagte der Dorfälteste mit vor Wiedersehensfreude noch immer zitternder Stimme, „damit sie nicht noch länger im Wald herumirren müssen.“
„Wenn Ihr wollt“, sagte der Junge, „dann kann ich das machen.“
Er stand auf, nahm sein Pferd, das draußen im Hof an einen Holzpflock gebunden war und ritt in Richtung Wald davon, um die drei Männer aus dem Dorf zu suchen.
Es war mittlerweile Nachmittag geworden, und vor die zuerst vom Himmel brennende Sonne schoben sich allmählich dunkle, bedrohliche Wolken, ein herannahendes Gewitter ankündigend. In der Ferne hörte der Junge leises Donnergrollen, und er trieb sein Pferd zur Eile.
Nach kurzer Zeit hatte der Junge die Männer gefunden. Sie waren auf der Suche nach dem Mädchen schließlich ebenfalls auf die Waldlichtung gelangt und standen jetzt kopfschüttelnd und fassungslos vor den drei Toten. Da sie sich nicht im Geringsten erklären konnten, was sich hier zugetragen hatte, mussten sie, da von dem Mädchen weit und breit jede Spur fehlte, mit dem Allerschlimmsten rechnen. Der Junge sah ihre entsetzten Gesichter, und er konnte sich vorstellen, was in ihren Köpfen vorging.
Er stieg vom Pferd und ging langsamen Schrittes, versucht, sie nicht noch mehr zu erschrecken, vor allem deshalb, da er ein Fremder für sie war, auf sie zu.
Seiner ansichtig geworden, erhoben die Männer wie auf Befehl gleichzeitig ihre mitgebrachten Waffen und machten, nach nur wenigen Schrecksekunden, Anstalten, auf den Jungen loszustürmen.
Mit möglichst energischer Stimme – er nahm alle Kraft und allen Mut zusammen – gebot dieser ihnen Einhalt, schilderte sodann das vor kurzer Zeit Vorgefallene, versicherte den immer erstaunter und fassungslos Blickenden mehrmals, dass Cristina sich wohlauf und gänzlich unverletzt bei ihren Eltern befände und trieb die Männer zur Eile, da das bedrohliche Gewitter sich mehr und mehr dem Wald näherte und der Himmel immer düsterer wurde.
Die ersten Regentropfen fielen bereits, als die vier schließlich das Dorf und das Haus des Dorfältesten erreichten. Mit feuchten Kleidern traten sie in die Stube, wo man inzwischen aus anderen Häusern Tische herbeigetragen und aneinander gereiht hatte. In dem Haus befanden sich jetzt vielleicht fünfzehn Personen, Männer und Frauen und einige Kinder, welche die Eintretenden herzlich und lautstark begrüßten.
Man hatte Essen und allerlei Getränke aufgetragen und ließ sich von dem hünenhaften Fremden die wundersame Geschichte von Cristinas Rettung immer und immer wieder erzählen. Der Junge und die drei zur Suche des Mädchens Ausgeschickten setzten sich ebenfalls an einen der Tische, und man reichte ihnen Brot und Wein.
Wenig später war die enge Stube erfüllt mit fröhlichen Stimmen, Gelächter, Kindergeschrei und von den von zwei Männern vorgetragenen Liedern, die diese in der Stadt gehört hatten und die von edlen Rittern handelten, die, Abenteuer um Abenteuer erlebend, durch die Lande zogen.
Der Junge saß am Ende des Tisches. Er begann sich – der starke Wein stieg ihm allmählich zu Kopfe – erneut auszumalen, welche Abenteuer auf ihn warten mochten in der fernen Stadt, als sich jemand neben ihn setzte und sagte: „Ich bin ja so froh, dass ihr beide meine Schwester gerettet habt.“
Es war Agnes, Cristinas Schwester, und sie lehnte sich an seine Schulter, um mit ihrer Stimme den in der Stube herrschenden Lärm zu übertönen.
Der Junge drehte sich zu ihr. Sie war ihrer Schwester sehr ähnlich. Sie hatte schwarzes glattes Haar und helle fröhliche Augen.
Der Junge lächelte. „Weißt du“, sagte er dann, ich habe zur Rettung nicht viel beigetragen. Mein Freund“ – er deutete über den Tisch – „hat wohl die Hauptsache davon erledigt.“
„Aber er hat auch erzählt“, sagte Agnes, „als du zuerst auf der Suche warst nach den drei Männern aus dem Dorf, dass du ihm tapfer geholfen hast und dass er es alleine nicht geschafft hätte.“
Der Junge warf einen kurzen Blick in Richtung seines Begleiters, der am anderen Ende der Tischreihe gerade einen großen Schluck Wein nahm, lächelte und drehte sich wieder zu dem neben ihm sitzenden Mädchen.
„Möglicherweise“, sagte er, „hat er recht – irgendwie …“
„Ich würde so gerne mehr über dich erfahren“, sagte das Mädchen. „Aber nicht hier. Hier versteht man ja sein eigenes Wort nicht. Komm, wir gehen nach draußen in den Stall. Dort ist es ruhiger.“
Die beiden standen auf, und unbemerkt von den anderen verließen sie die Stube.
„Wir hier im Dorf“, sagte das Mädchen und drehte sich zu dem Jungen, „hören nicht viel vom Leben anderswo. Nur selten, dass Männer aus dem Dorf in die Stadt kommen und dann erzählen, was sie dort gesehen und erlebt haben. Und dabei würde mich gerade das brennend interessieren, verstehst du? Wie leben die Menschen in der Stadt? In welchen Häusern wohnen sie? Wie kleiden sie sich? Was machen sie den ganzen Tag über?“
Die beiden lagen nebeneinander auf in einer Ecke des Stalles aufgeschichtetem Stroh, und auf das Holzdach über ihnen trommelte rhythmisch und einschläfernd dünner Landregen.
„Einmal nur“, fuhr das Mädchen fort, „nur ein einziges Mal möchte ich in die Stadt, um zu sehen, wie die Menschen dort leben.“
Der Junge drehte sich zu ihr und stützte sich auf seinen linken Ellbogen. Lange sahen die beiden sich an, dann sagte der Junge: „Ich habe noch nie jemanden gesehen, der so schön ist wie du.“
Behutsam fuhr er ihr durch die Haare.
Als die beiden nach einer Weile wieder in das Haus zurück gingen und in die Stube traten, sahen sie gerade, wie der Begleiter des Jungen, lautstark grölend und bedrohlich schwankend und obwohl ihn die neben ihm Sitzenden zurückzuhalten versuchten, auf einen Tisch stieg. Aufgrund seiner Größe stieß er allerdings, kaum dass er auf dem Tisch stand, mit einem dumpfen Krachen seines Kopfes an die niedrige Zimmerdecke, schwankte noch bedrohlicher und ging schließlich auf dem Tisch in die Knie.
Mit einer heftigen Bewegung riss er sich sein Hemd entzwei, und zum Vorschein kam ein fingerlanger, spitzer, an einem Lederband hängender Zahn.
„Hier“, grölte der Mann und die ganze Stube schien unter seiner gewaltigen Stimme zu vibrieren, „hier habt ihr den Beweis.“ Er griff zu dem Zahn und hielt ihn vor sich hin wie ein Pfarrer das Kruzifix. „Das ist der Zahn eines Drachen.“
In der Stube war es totenstill. Nur der schwere Atem des auf dem Tisch Knieenden war zu hören, und von dem Zahn in seinen Händen schien mit einem Mal ein merkwürdiges Strahlen auszugehen.
„Das ist der Zahn eines Drachens“, sagte der Mann nach einer ganzen Weile des Schweigens. „Eines Drachens, den ich mit diesen, meinen Händen getötet habe.“
Er hatte seine Stimme jetzt gesenkt und breitete seine Arme langsam aus. Mit Furcht erregendem Blick sah er in die Runde der in der Stube Anwesenden, aber niemand hielt diesem Blick stand. Betreten und ängstlich sahen alle, selbst der Junge und das Mädchen, die gerade erst gekommen waren und von dem zuvor Vorgefallenen nichts mitbekommen hatten, zu Boden.
„Und diese Hände“, sprach der Mann weiter, „diese, meine Hände werden auch euren Drachen töten.“
Langsam hob er seinen Blick zur Zimmerdecke, und in sein spontan ausbrechendes, immer schrecklicher klingendes Lachen mischte sich fernes, dumpfes, zorniges Donnergrollen.

4
Der Regen hatte in der Nacht immer mehr nachgelassen und gegen Morgen schließlich vollkommen aufgehört.
Schläfrig von der durchfeierten Nacht saßen der Junge und sein Begleiter, mit dem Rücken an den die Weide umfassenden Holzzaun gelehnt, in dem noch regenfeuchten Gras und beobachteten die Kühe, die nach trüben, wenig abwechslungsreichen, im engen Stall verbrachten Wintermonaten friedlich vor sich hin.
„Natürlich habe ich noch keinen Drachen getötet“, sagte der Mann, ohne seinen Blick von den Kühen zu wenden. „Ich habe ja“, fuhr er fort und drehte dabei seinen Kopf langsam zu dem Jungen, „noch nicht einmal einen gesehen. Ich meine, Geschichten über Drachen hast sicherlich auch du schon gehört. Von blutrünstigen, menschenmordenden Ungeheuern, die hier in dem Land ihr Unwesen treiben.“
Ohne ein Wort zu sagen, nickte der Junge zustimmend.
„Diese Geschichten sind weit verbreitet“, lächelte der Mann, „und niemand weiß im Grunde, wo sie ihren Ursprung haben. Sie werden immer nur von Generation zu Generation weiter erzählt, und niemand zweifelt an ihrem Wahrheitsgehalt. Wir leben in einer sehr leichtgläubigen Zeit und Scharlatane und Gaukler haben ein allzu leichtes Spiel. Aber das wirst du in deinem Leben noch zur Genüge erfahren. Du bist noch jung und alle Erfahrungen – gute wie schlechte – liegen noch vor dir. Ich aber, ich habe in meinem Leben bereits genug erlebt. Und ich habe auch gelernt, dass es keinen Sinn hat sich zu mühen und zu plagen, denn der Tod kommt rasch und unvermutet. Mein Bruder, er war ein Jahr jünger als ich, starb vor fünf Jahren. Und er hatte rein gar nichts von seinem Leben. Tagaus, tagein nur Arbeit und Sorgen und Krankheiten und schließlich den Tod. Warum soll man das Leben nicht genießen, sagte ich mir, nachdem er unter der Erde war. Es ist kurz, und wenn man es geschickt anstellt, lässt sich etwas Gutes und Angenehmes daraus machen. So kam mir eines Tages die Idee, ich saß in einer Schenke und hörte wie sich am Nebentisch wieder einmal Bauern beklagten, ein Drache hätte eine ihrer besten Kühe gerissen, warum nutzt du diese Leichtgläubigkeit nicht für dich aus? Ich setzte mich also an ihren Tisch und erzählte den Bauern, dass ich in einer anderen Gegend schon einige Drachen getötet hätte und nun hierher gekommen wäre, um auch ihnen in ihrer Not beizustehen.“
Der Mann lächelte: „Du sollst nicht glauben, mit welcher Ehrfurcht mir die Bauern auf einmal begegneten. Man lud mich zu Essen und Trinken ein, bot mir Unterkunft, und nach einigen Tagen befreite ich das Dorf schließlich zum Dank dafür von der so genannten Drachenplage.“
Der Mann machte eine kurze Pause und beobachtete mit sichtlichen Vergnügen, wie der Junge plötzlich hellhörig wurde. Dann fuhr er fort: „Es war allerdings kein Drache, sondern – wie auch mit Sicherheit in all den anderen Dörfern – Wölfe, die die Kuh gerissen hatten. Aber die Menschen wollen die Wahrheit einfach nicht hören. Also schilderte ich den erstaunten Bauern, dass ich einen langen Kampf mit dem Drachen geführt hätte, an dessen Ende der Drache schließlich, aus unzähligen Wunden blutend, feuerspeiend die Flucht ergriffen hätte. Bis ins kleinste Detail schilderte ich den Kampf, und zum Beweis fing ich noch einen Hasen. Ich verteilte sein Blut auf meinem Gewand und Schwert und trampelte das Gras auf der Kuhweide in großem Umkreis nieder. Wie du dir vorstellen kannst, war ich der Held des Dorfes. Man veranstaltete ein großes Fest zu meinen Ehren und wollte, dass ich für immer dort bleibe. Aber nach einigen Wochen begann mich das Dorfleben zu langweilen. So schlich ich mich eines Nachts heimlich davon, und seit damals ziehe ich durch das Land und lebe sehr gut davon, ein gefürchteter Drachentöter zu sein.“
„Aber der Drachenzahn“, sagte der Junge, der mit großen Augen aufmerksam der Erzählung gelauscht hatte, „du hast doch den Dorfbewohnern gestern in der Stube einen Drachenzahn gezeigt.“
„Ach ja“, lachte der Mann ungestüm auf, „mein Drachenzahn.“
Er knöpfte sein Hemd auf und zog den Zahn heraus.
„Den habe ich vor einigen Jahren selbst geschnitzt. Aus einem alten Hundeknochen. Ich dachte, es ist überzeugender, so einen Beweis zu haben. Es sind nicht alle Menschen gleich leichtgläubig, musst du wissen. Es gibt auch Zweifler und solche, die nicht an Drachen oder ähnliche Ungeheuer glauben.“
„Du nutzt die Leichtgläubigkeit der Menschen aus“, sagte der Junge nach einer Weile.
„Ich beschütze sie“, sagte der Mann, „und ich gebe ihnen die Sicherheit, die sie zuvor nicht hatten. Ich vertreibe oder töte Drachen und befreie die Menschen dadurch von einer ihrer Ängste … Aber natürlich hast du recht. Ich vertreibe keine wirklichen Ungeheuer. Ich vertreibe nur die Ungeheuer aus ihren Köpfen.“
Der Mann stand auf und stellte sich breitbeinig vor den Jungen.
„Nur“, sagte er dann und beugte seinen Oberkörper in Richtung das Jungen, „erkläre mir bitte, ob das wirklich so schlecht und verdammenswert ist.“
Noch ehe der Junge etwas erwidern konnte, begannen die Kühe plötzlich in großer Aufregung an das eine Ende der Umzäunung zu trampeln.
„Dein Drache ist in Anmarsch“, lachte der Junge und erhob sich ebenfalls.
„Unsinn“, sagte der Mann mit fester Stimme und drehte sich zu den Kühen, „es gibt keine …“
Aber er brach inmitten des Satzes ab. Aus dem Wald neben der Weide drang ein durch Mark und Bein dringendes Gebrüll, und der Boden unter ihren Füßen begann in seltsamen Rhythmus immer stärker zu vibrieren.
„Es gibt keine …“, begann der Mann erneut. Aber auch dieses Mal beendete er seinen Satz nicht, denn der Anblick, der sich ihm in diesem Augenblick bot, ließ das Blut in seinen Adern gefrieren. Wie Grashalme knickten die am Waldrand wachsenden Bäume, und dazwischen kam ein Wesen zum Vorschein, wie er es – und auch der Junge – noch nie in seinem Leben gesehen hatte. Es hatte die Höhe von zwei ausgewachsenen Männern und die Länge von zumindest vier hintereinander stehenden Pferden. Es war vollkommen grau gefärbt, hatte einen langen kräftigen Hals, auf dem ein, im Verhältnis zu seinem restlichen Körper, merkwürdig kleiner Kopf saß. Und ohne jeden Zweifel war es ein Drache.
Ungläubig starrten die beiden – der Junge und der Mann – auf das Wesen, das sich langsam der Umzäunung näherte, in der sich die vor Schrecken starren Kühe in der dem Wald entferntesten Ecke zusammendrängten.
Der Mann war der erste, der sich zu bewegen wagte. Langsam griff er zu seinem Schwert, drehte sich zu dem Jungen und sagte: „Jetzt wirst du erleben, dass ich nicht nur ein Geschichtenerzähler bin. Jetzt werde ich den ersten Drachen meines Lebens töten.“
Dieser war inzwischen zu den Kühen gelangt, hob jetzt seinen Kopf und schien in ihre Richtung zu schnuppern. Mit einer heftigen Bewegung drehte er sich aber nur Augenblicke später angewidert von den Tieren weg und begann langsam in Richtung offene Wiese, von wo er gekommen war, zurück zu trotten.
„Entweder“, sagte der Junge leise zu dem neben ihm stehenden Mann, der sich anschickte, geduckt dem Drachen hinterher zu schleichen, „hat er gerade etwas gefressen, oder …“
Der Drache befand sich jetzt auf halbem Weg zwischen Wald und Gatter. Plötzlich hielt er inne, beugte seinen Kopf nach unten und begann, wie zuvor die Kühe, friedlich zu grasen.
„… oder aber“, beendete der Junge seinen begonnenen Satz, „er frisst überhaupt kein Fleisch. Sieh dir nur seine Zähne an“, lachte er und deutete in Richtung des Ungetüms, „die sind nicht größer als die der Kühe. Du hast recht gehabt“, sagte er zu seinem Begleiter, glücklich darüber, dass es nun zu keinem Kampf kommen würde, „es sind wirklich Wölfe, die die Kühe reißen.“
„Wölfe oder nicht“, sagte der Mann, „ich werde den Drachen töten.“
„Aber warum“, fuhr der Junge heftig auf, „siehst du denn nicht, dass der Drache vollkommen friedlich ist. Er frisst doch gar kein Fleisch. Er frisst Gras.“
„Und was werden die Leute im Dorf sagen, wenn wir ihnen diese Geschichte erzählen?“, sagte der Mann. „Wir haben den Drachen gesehen, aber er ist es nicht, der eure Kühe reißt, denn er frisst kein Fleisch, sondern nur Gras. Er ist vollkommen ungefährlich, und ihr braucht euch keine Sorgen zu machen, wenn ihr eure Kühe auf die Weide treibt.“
„Du hast doch selbst gesagt, dass es Wölfe sind, die die Kühe reißen.“ Der Junge war verzweifelt. Er wollte nicht, dass der Drache starb.
„Mit Schimpf und Schande werden sie mich aus dem Dorf jagen“, sagte der Mann, „für einen Feigling und Lügner werden sie mich halten.“
„Zieh mit mir weiter“, flehte der Junge, „wir werden anderswo ein Dorf finden, wo wir unterkommen können. Wo wir von deinen Geschichten und deinem Drachenzahn leben können.“
„Versteh doch“, sagte der Mann, „so eine Gelegenheit werde ich so schnell nicht mehr bekommen. Die Gelegenheit, einen echten Drachen zu töten.“
Er drehte sich von dem Jungen weg und ging langsam auf den noch immer friedlich grasenden Drachen zu.
In seiner Verzweiflung begann der Junge lauthals zu schreien, darauf hoffend dadurch den Drachen zu erschrecken und in die Flucht schlagen zu können. Aber der Drache schien ihn nicht zu hören, denn ohne von dem Geschrei Notiz zu nehmen, graste er friedlich weiter.
So hörte er auch nicht den Mann, der nur wenige Augenblicke später an seiner Seite stand und ohne Zögern sein Schwert wuchtig in seine Seite bohrte.
Angewidert wandte der Junge sich ab von dem Geschehen auf der noch vor einer Stunde friedlich in den ersten wärmenden Sonnenstrahlen daliegenden Frühlingswiese, ergriff die Zügel seines Pferdes und schwang sich mit einer raschen Bewegung in den Sattel.
Einmal noch, als der Drache einen letzten, rasch ersterbenden Klagelaut von sich gab, drehte der Junge sich zu dem Mann, der neben dem auf unwürdige Weise geschlachteten Ungetüm stand, das Schwert tief in dessen Leib gebohrt. Über und über war der Mann mit Blut bedeckt, das jetzt aus unzähligen Wunden des Drachen strömte, und sein Gesicht war verzerrt von einem unmenschlichen Lachen.
Von Ekel erfüllt trat der Junge seinem Pferd in die Seiten und galoppierte davon.

Monate später, es war ein strenger Winter ins Land gezogen, kam der Junge wieder in das Dorf.
Mittlerweile hatte er in der Stadt Arbeit gefunden, und er befand sich auf dem Weg zu seinen Eltern, als ein heftiger, plötzlich hereinbrechender Schneesturm ihn zwang, früher als geplant eine Unterkunft für die Nacht zu suchen.
Kaum hatte er durch die ihm mit eisigem Wind entgegen stürmenden Schneeflocken die ersten Häuser des Dorfes erkannte, wusste er bereits, wohin ihn der Zufall geführt hatte.
Nur wenig später klopfte er beim Haus des Dorfältesten an die schwere Eingangstüre. Cristina, die ihn sofort erkannte, öffnete und bat ihn ins Haus.
In der Stube saß ein alter Mann, beteiligungslos vor sich hin starrend und den Eintretenden keines Blickes würdigend. Der Junge hielt ihn für Cristinas Vater und trat auf ihn zu, um ihn zu begrüßen.
Als er jedoch unmittelbar vor ihm stand, erkannte er in dem Mann seinen ehemaligen Begleiter, den Drachentöter, und entsetzt fuhr er zurück.
„Erkennst du ihn?“, fragte Cristina, die neben ihm stand.
„Ja“, antwortete der Junge beinahe tonlos, „aber wie …?“
„Männer aus dem Dorf“, sagte Cristina, „fanden ihn damals ohne Bewusstsein neben dem toten Drachen auf der Weide liegen. Sie brachten ihn ins Dorf, aber erst nach einigen Tagen kam er wieder zu sich, jedoch ohne sich an etwas zu erinnern und ohne etwas von dem Vorgefallenen zu erzählen. Trotz unserer Pflege änderte sich sein Zustand bis auf den heutigen Tag nicht im Geringsten. Seit damals hat er noch kein einziges Wort gesprochen.“
„Aber“, begann der Junge mit verzweifelter Stimme, „er sieht so alt aus …“
„Wir können uns das auch nicht erklären“, sagte Cristina. „Meine Mutter allerdings meint, das hängt mit dem Drachenblut zusammen. Alle Stellen, die mit Drachenblut in Berührung kamen, altern um vieles schneller als alle anderen Stellen. Sieh dir nur seine beiden Hände an.“
Der Junge trat auf den Mann zu, der nicht die geringste Notiz vom ihm nahm, und wirklich: die rechte Hand, die das Schwert geführt hatte und ganz offensichtlich mit dem Blut des Drachen in Berührung gekommen war, war alt und runzelig wie die eines alten Mannes, während die linke jung und kräftig wirkte. Genauso jung und kräftig wie der Junge sie in Erinnerung hatte, als sie gemeinsam am abendlichen Feuer gesessen waren damals im Frühling und den kurz zuvor von dem Mann erlegten Hasen gebraten hatten.
Von Schaudern ergriffen, schüttelte der Junge seinen Kopf, drehte sich von dem Mann weg, als Agnes, Cristinas Schwester, in die Stube trat.
„Ich habe das Pferd draußen gesehen“, sagte sie und ging auf den Jungen zu, „aber ich habe nicht zu hoffen gewagt, dass du zurück gekommen bist.“
„Ich bin am Weg zu meinen Eltern“, sagte der Junge.
„Ich freue mich, dich wiederzusehen“, sagte Agnes mit fester Stimme. Sie stand vor dem Jungen und sah ihn mit ihren hellen fröhlichen Augen an.
„Ich freue mich auch“, sagte der Junge und beugte sich zu ihr und umarmte sie herzlich.
„Komm, wir bringen dein Pferd in den Stall“, sagte das Mädchen, als sie sich wieder getrennt hatten, „und dann erzählst du mir, was du in der Zwischenzeit alles in der Stadt erlebt hast.“
Hand in Hand verließen die beiden das Haus, und durch den schwächer werdenden Schneefall führten sie das Pferd des Jungen zu dem gleich neben dem Haus gelegenen Stall.
„Aber dieses Mal“, sagte Agnes, während sie festen Schrittes einen Fuß vor den anderen setzte, verlässt du mich nicht gleich wieder morgen.“
„Nein“, sagte der Junge und legte seinen rechten Arm um die Schultern des Mädchens, „du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Dieses Mal bleibe ich länger.“

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 22.03.2014. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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