Evelyn Krampitz

Entführt


Susi saß im Garten auf ihrem Lieblingsplatz und aalte sich in der Sonne. Die heißen Strahlen liebkosten sanft ihr Gesicht und der schwache Wind umspielte ihren Körper. Eine Weile beobachtete sie versonnen die umherwirbelnden Blätter und sank schließlich in einen Dämmerschlaf.
Ungewöhnliche Schatten kamen auf sie zu, leise schleichende Schritte bewegten sich kaum wahrnehmbar in ihre Richtung. Doch sie döste vor sich hin, döste und träumte ungetrübt von ihren kleinen Abenteuern. ‚War da ein Rascheln im Holunderbusch zu hören?’ Kurz öffnete sie ihre Augen, horchte. Nein – nur der Wind wiegte die Äste und spielte mit den Blättern. Susi schloss ihre Augen und schlief sofort wieder ein. Auf einmal sprang jemand neben dem Busch hervor und packte blitzschnell mit kräftigen Händen nach ihr, umklammerte sie. Arme rissen sie hoch. Ehe sie überhaupt reagieren konnte, ehe sie schreien konnte, ehe sie beißen konnte, stopften harte grobe Hände den zarten Körper in einen Sack.

Mit der dunkeln Hülle wurde sie hochgerissen. Sie zitterte ängstlich und wusste gar nicht, was mit ihr passierte. Völlig verstört hing sie in diesem stinkenden Sack. Entsetzt spürte sie, dass jemand mit ihr wegrannte. Sie rannte und rannte! Da - ein Quietschen und irgendeine Tür wurde aufgezogen. Mit einem Schwung flog der Sack fort und donnerte mit aller Wucht auf harten Boden. Dieser dumpfe Aufschlag holte sie aus ihrer Handlungsunfähigkeit zurück und Susi begann jämmerlich zu schreien. Ja, zu brüllen. Sie kratzte und wühlte in diesem dunklen modrig riechenden Etwas nach einem Ausgang, nach einem Loch, nach Freiheit. Voller Verzweiflung wand sie sich in ihrem Gefängnis. Aber es half nichts, sie blieb eingeschlossen.

Wieder vernahm sie das Quietschen der sich schließenden Tür. Der Boden, auf dem Susi lag, vibrierte auf einem Mal, es wackelte und der laut brummende Motor verhieß nichts Gutes. Es ruckelte kurz und das Fahrzeug setzte sich in Bewegung. Eine schreckliche Furcht ergriff die kleine Susi! Wie erstarrt verharrte sie und bibberte furchtsam. Ihr Herz schlug wild bum – bum – bum und schrie mit jedem Schlag Angst – Angst – Angst. Entsetzt fragte sie sich: ‚Was nun? Wohin fahre ich?’ Auf einer holprigen Straße kullerte der Sack haltlos auf der Tragefläche hin und her, warf sie im ganzen Auto umher. Es schmerzte so sehr und dieser Schmerz weckte den Kampfgeist in ihr. Schließlich folgte der panikartigen Angst eine verzweifelte Wut.

Sie spannte ihren Körper an und stand auf. In ihrer Verzweiflung traktierte sie den Stoff, kratzte, biss und riss an ihm mit all ihren Kräften. Und siehe da, ein Loch, ein winziges Loch, durch das Licht ins Dunkle drang, gab ihr Mut, gab ihr Kraft und sie stürzte sich auf den Lichtstrahl Hoffnung. Sie arbeitete wie besessen weiter! Ja, und das winzige Loch wurde größer, der Stoff gab nach und franste immer mehr aus. Nur noch ein Stückchen, nur noch ein wenig mehr zerren und kratzen, dann passte ihr Kopf durch. Und dann, dann würde sie hindurch kriechen können.

In ihrem verzagten Kampf spürte sie aber nicht, dass der Motor längst verstummte, dass sie nicht mehr umhergeschupst wurde und ahnte nicht, dass sie schneller arbeiten sollte. Das Loch war doch schon so groß, nur noch ein Stückchen fehlte. Aber ihre Kräfte schwanden und ihr Kopf sank auf den Boden. Sie wollte sich nur ganz kurz ausruhen, nur für ganz wenige Sekunden inne halten, nur für einen Augenblick tief Luft holen.

Wetzende Geräusche drangen in das Innere des Autos. Sie hörte das Stapfen von Füßen und unheimliches Lachen und wieder dieses surren von Metall, dieses Wetzen zweier Gegenstände aufeinander. Und da, da – oh nein! Da hörte sie ein herzzerreißendes Schreien. Ein Kampf auf Leben und Tod einer Kreatur begann hier draußen. Das markerschütternde Wehklagen durchfuhr Susis schmalen Körper, es machte sie hellwach. Sie sprang auf und stürzte sich auf das Loch, sie zerfetzte den Stoff in ihrer Todesangst. Plötzlich verstummte das Schreien, es war einfach weg und eine eisige Ruhe umgab sie. Susi begriff, dass der Kampf verloren wurde.

Nur noch wenige Millimeter Stoff musste sie zerreißen. Sie schob den Kopf durch das Loch, zwängte ihren ganzen Körper nach. Aber sie blieb stecken, kam nicht weiter. In dem Moment wurde die Autotür mit quietschendem Geräusch aufgeschoben. Susi begriff, wenn sie jetzt aufgab, jetzt nicht frei kam, hatte auch sie verloren.

Ihre letzten Kräfte mobilisierte sie! Mit aller Macht zwängte sie sich weiter und machte sich schlank, ganz dünn und spürte, wie der Stoff nachließ, wie er ihren gefangenen Körper frei gab. Aber die Tür war schon auf.
Ehe diese groben, blutverschmierten Hände nach ihr greifen konnten, sprang sie an ihnen vorbei ins Freie und rannte um ihr Leben.

Panikartig lief sie in den nahen Wald hinein. Dort fand sie einen dunklen engen Schlupfwinkel, einen schmalen Spalt in einer Felsformation. Hier verkroch sie sich. Ihr kleines Herz rast und ihr schneller Atem verriet sie hoffentlich nicht. Susi stockte, hielt fast die Luft an, als lautes Fluchen und Rufen in ihr Versteck schall und sie das Beben des Bodens durch die schnellen Schritte ihres Peinigers ganz nah spürte. Das Aufstampfen wurde allmählich schwächer und versiegte gänzlich, aber Susi verharrte immer noch regungslos in der winzigen Höhle. Sie gab keinen Mucks von sich.

Langsam verlor die Sonne ihre Kraft, versank am Horizont und machte der schützenden Dunkelheit Platz. Susi lauschte aus ihrem Versteck angestrengt in die Nacht hinaus. Es waren nur die Stimme des Waldes zu hören, das Rauschen der Blätter und das Sirren des Windes. Vorsichtig kroch sie hervor, steckte zuerst ihren Kopf aus dem Spalt, schaute sich ängstlich um. ‚War da ein Rascheln, ein schleichender Schritt?’ Nein - nichts Fremdes berührte diese Nachtruhe. Sie schlich sich weg. Intuitiv wusste sie, in welche Richtung sie gehen musste.

Sie lief den ganzen Tag lang. Hunger und Durst begleitenten sie auf ihrem einsamen Weg durch unbekanntes Gebiet. Ihre Nase fing auf einmal leckere Gerüche ein. Achtsam folgte sie der Duftspur. Im Dämmerlicht erreichte sie einen Bauernhof und beobachtete im Verborgenen das lustige Treiben. Der dicke Bauer fütterte gerade seine Schweine und die Bäuerin rief mit kräftiger Stimme alle zum Essen. Sie hatte Angst, traute keinem mehr. So verharrte sie in einer Warteposition bis die Nacht einbrach, bis sie nur noch die Stimmen der Dunkelheit hörte. Wachsam pirschte sie sich zum Hof hin. Das Fenster zur Küche war nur angelehnt. Zögerlich öffnete sie es, duckte sich furchtsam und kletterte durch die Öffnung in das Haus. Hier stillte sie ihren Hunger und ihren Durst. Satt schlüpfte sie wieder in die Nacht hinaus und kroch auf dem Heuboden, wo sie sich im Stroh verbarg und einschlief.

Als die ersten Sonnenstrahlen über das Dach der Scheune blitzen stand Susi auf und lief weiter. Sie wollte nur noch nach Hause.

Woher sie den Weg kannte, wusste sie nicht. Sie folgte ihrer inneren Stimme und rannte Kilometer um Kilometer ihrer Familie entgegen. Es folgten noch zwei kalte einsame Nächte und hungrige Tage. Während ihres Fußmarsches schaute sie sich immer wieder um, duckte sich bei jedem auffälligen Geräusch, verharrte ängstlich.

Am fünften Tag bog sie in ihre Straße ein. Ja, hier war ihr alles vertraut. Susi kannte jede Blume, jeden Busch und Zweig und hetzte die letzten Meter ihrem Zuhause entgegen. Das Gartentor stand offen und sie hörte verzweifelt ihren Namen rufen: „Susi, Susi!“

Erschöpft rannte sie zu ihrem Frauchen hin und sprang elegant mit ihren weißen Pfoten auf die Fensterbank. Dann griffen zwei so sanfte liebevolle Hände nach ihr, hoben sie hoch und drückten sie fest an die geliebte Brust. Dieser vertraute Duft, diese so lang vermisste Wärme und die fürsorgliche Stimme machten die weißschwarz gemusterte Katzendame glücklich. Mit lauten Schnurren und zärtlichen Schmusen zeigte sie es.
Die vertraute Stimme sagte: „Susi, wo warst du nur so lange!“
Dann trugen diese Arme das schmutzige Kätzchen ins Haus. Sie bekam leckeres Futter und ein Schälchen voll Milch vorgesetzt. Endlich, endlich war sie wieder daheim. Hastig verschlang sie ihr Essen und legte sich erschöpft, aber glücklich auf das Sofa. Ihr Frauchen streichelte liebevoll übers Fell und legte die warme Hand schützend auf sie. Und Susi dankte es ihr durch ein gleichmäßiges Schnurren.

Glücklich sah die Katzendame ihr Frauchen aus ihren großen runden Augen an und miaute: „Ich bin endlich wieder Daheim!“

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 07.05.2003. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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