Norman Möschter

Das Geschenk

"Ich kann mir meine Parasiten nicht aussuchen", sprach der Baum zum Stein,
als er sich bog und dem Brechen nahe war unter der Last eines Menschen,
der sich an ihm emporzog, um sich in seiner Rinde zu verewigen.
"Und wehren kann ich mich auch nicht, wie auch?", sprach er noch,
als sein Ast brach und neben dem Menschen auf dem Boden aufschlug.

Der Stein war gerade im Begriff zu antworten.
Er begann mit den Worten: "Wenigstens bist du der lieben Sonne nahe und streckst dich ihr näher von Tag zu Tag.
Ich hingegen liege in deinem Schatten und bin grau und hart und kalt.
Siehe da: Der kleine Vogel.
Er ist immer noch ein Stück näher an der Sonne, sogar näher als du, wenn er auf deinem obersten Ast sitzt und singt."
Der Stein sprach diese Worte, als der Ast des Baumes brach und neben dem Menschen auf dem Boden aufschlug.
Der Mensch traf den Stein, er traf ihn hart mit seinem Kopf, aber der Stein war selbst hart
und als der Kopf langsam herunterglitt und neben dem Stein und auch neben dem abgebrochenen Ast zum Ruhen kam,
da stellte der Stein erfreut fest, dass der Mensch ihn rot geschmückt hatte und er gefiel sich gut
und auch bemerkte er, dass die Sonne sich im Geschenk des Menschen spiegelte und die rote Stelle lustig glitzerte.
Da wurde der Stein so froh, wie er es noch nie gewesen war, obwohl der Baum ihm leid tat,
denn der hatte seinen Ast verloren und trauerte.
Ihm konnte auch die Sonne nicht helfen, denn er konnte sich ihr nicht entgegenstrecken wie er es gewohnt war.
Und auch der kleine Vogel, der ganz oben in der schönen Krone des Baumes saß und sang, machte den Baum nun nicht mehr glücklich.
Der Stein jedoch dachte nicht mehr lange an den Vogel und auch nicht an den armen Baum und seine sonnenbeleuchtete Krone -
immer hell erleuchtet, immer warm, immer betrachtet und geliebt.
Der Stein spürte die Wärme nun - dank seines neuen Schmuckstücks - selbst, sie durchfuhr ihn von oben bis unten einmal durch.
Er war nicht mehr hart und grau und kalt. Er fühlte sich jetzt schöner als alles andere und die liebe Sonne
schenkte ihm ein paar ihrer Strahlen und brachte sein Glück zum Glitzern.
Er sprach zum Baum: "Ach, bin ich nicht schön.
Hab ich mich nicht schön gekleidet und spiele ich nicht ein tolles Spiel mit meiner Freundin, der lieben Sonne.
Ach, wie sie mich kitzelt. Baum, du hast nie davon gesprochen, wie fein sie kitzelt."
Doch der Baum sprach kein Wort mehr, er antwortete nicht und sang auch seine schönen Lieder nicht mehr,
die noch am Tag zuvor über Berg und über Tal flogen und jeden erfreuten, der sich ihnen hingab.
Der Baum war still.
Den Stein allerdings störte das nicht.
Er erfreute sich seiner Pracht und malte sich die tollsten Geschichten aus.
Er, der Stein, als König am Hofe mit großem Schloss und viel Reichtum und natürlich seiner glitzernden Krone und einer wunderschönen Königin.
Er sprach zum Baum: "Baum, hörst du, ich als König. Das wäre doch was. Hörst du?"
Doch der Baum sprach kein Wort. Der Baum war still.
Als nächstes war der Stein ein mutiger Ritter auf der Jagd nach Drachen.
Sein glitzernder Helm blendete das feurige Auge des Drachen und er, der Stein, konnte ihn bezwingen.
Er, der Stein, ein Drachenbezwinger und Prinzessinnenretter.
Das musste dem Baum doch gefallen.
Erst vor ein paar Tagen sang der Baum doch selbst von einem solchen Helden und der Stein hatte in seinem Schatten gesessen und geträumt.
"Hör doch Baum.", sprach er, "Ich bin ein mutiger Ritter mit glitzerndem Helm, hör doch Baum, hör doch."
Der Baum aber antwortete dem Stein nicht. Der Baum war still.
Der Stein hingegen war völlig gefesselt von Phantasien und Wundern aller Art, die sein neues Glück mit sich brachte.

So rückte Schritt für Schritt die Nacht näher, die liebe Sonne verschwand am Horizont und ließ das Land allmählich in Dunkelheit zurück.
Als sie ihre letzten Strahlen nach sich zog und das Dunkel schließlich auch den Baum und den Stein vollends in seinen Mantel hüllte,
glitzerte das rote Schmuckstück, das Geschenk, nicht mehr und der Stein sah nicht mehr, was der Mensch ihm hinterlassen hatte.
Natürlich wusste er, dass es da war, spürte er doch die Wärme durch und durch. Und Seine Herrlichkeit konnte er geradzu greifen
und die Bilder seiner großen Abenteuer erschienen wie lebendig vor ihm,
dass er sich ein zufriedenes "Was für ein Tag." nicht verkneifen konnte.
Doch es überkam den Stein eine Unbehaglichkeit.
Es war diese ungewisse Gewissheit des Gefühls noch genauso zu sein wie in den schlechten Tagen,
genauso hart und grau und kalt. So wie an all den anderen Tagen und Abenden zuvor,
bevor ihm das Geschenk seines Lebens gemacht wurde - ganz unerwartet.
Der Stein hatte Angst. Er hatte Angst, sein Geschenk zu verlieren oder es bereits verloren zu haben.
Auf eine Art, dass er es nicht merkte, nicht merken konnte:
Vielleicht als er König war und seine glitzernde Krone beim Zubettgehen absetzte.
Hatte er sie am nächsten Morgen wieder aufgesetzt oder auf dem Nachtschränkchen liegen lassen?
Vielleicht im Kampf mit dem Drachen, er konnte sich an einen fürchterlichen Angriff erinnern.
War ihm dabei sein glitzernder Helm vom Kopf gefallen,
hatte er ihn dann womöglich im Triumphzug mit der Prinzessin am Arm schlicht auf dem Schlachtfeld vergessen?
Er sprach zum Baum: "Baum, kannst du sehen? Es ist so dunkel.
Ich frage mich, erkennst du von dort oben den glitzernden Schmuck, den ich am Abend noch getragen habe.
Er ist rot und er macht mich wunderschön.
Ich habe dir davon erzählt."
Wieder in Gedanken fügte der Stein noch wie nebenbei hinzu: "Ich fürchte, ich könnte ihn verloren haben."
Der Baum aber antwortete nicht. Der Baum war still.
Der Stein versuchte währenddessen, immer wenn der Mond durch die Krone des Baumes blickte, sein Schmuckstück zu erkennen.
Und wenn es auch nur ein kleines Glitzern war...
Doch jedes Mal, wenn er glaubte, gleich müsste es soweit sein,
da war der gute Mond auch schon wieder verschwunden hinter den Ästen und Blättern des Baumes.
Der Stein sprach: "Ach, geh doch aus dem Wege Baum.
Was stellst du dich denn immer zwischen mich und den guten alten Mond? Willst du mich ärgern? Du denkst nur an dich, Baum."
Unbeirrt sprach er weiter: "Baum, du erinnest dich sicher, wie ich als König meine glitzernde Krone trug
und wie mich als mutiger Ritter mein glitzernde Helm in den Kampf gegen den Drachen begleitete.
Baum, ganz sicher weißt du noch, wie wunderschön mich mein Geschenk schmückte,
wie selbst wenige Strahlen der Sonne mich zum Leuchten brachten und näher an die Sonne trugen als den Vogel,
der auf deinem obersten Ast sitzt.
Nun erinnere dich doch, Baum, und sei nicht so."
Aber der Baum sprach nicht. Der Baum war still.
Der Stein wurde ungeduldig.
Natürlich hatte er, der Stein, ein wunderschönes Geschenk erhalten,
eines, auf das so mancher ein Leben lang vergebens wartete und das sicher nur derjenige bekam,
der es redlich verdient hatte, den die liebe Sonne selbst dazu auserwählt hatte, ihre Schönheit wiederzuspiegeln,
wohingegen der Baum einen Ast verloren hatte.
Der Stein wurde wütend, als er an den Baum dachte, der schon den ganzen Tag und nun des nachts,
seitdem er, der Stein, sein rotes Schmuckstück erhalten hatte, kein Wort mehr zu ihm sprach.
Auch seine Schönheit und seine Abenteuer schienen dem Baum nicht zu gefallen,
denn er teilte weder Glück noch ein Wort der Freude mit dem Stein und nun wollte er ihm nicht einmal helfen,
Klarheit zu finden.
So sprach der Stein: "Du bist mir einer, Baum, bist dir zu fein dich herabzulassen, mir zu helfen, weil du nur an dich denkst.
Du spielst den guten Freund und Weggefährten - ein Leben lang, solange du im Licht stehst und ich im Schatten, der kalte graue Stein.
Jetzt bin aber ich der, der glitzert und glänzt und der geschmückt und wunderschön ist und mitten im Licht steht."
Der Stein wartete nicht auf eine Antwort des Baumes.
Und so bemerkte er auch nicht, dass der Baum nicht antwortete. Der Baum war still.
Den Rest der Nacht verbrachte der Stein vergebens damit, genau zu überlegen,
ob und wenn wann er sein Geschenk verloren haben könnte.
Und immer wenn der Mond wieder sein Licht durch die Krone des Baumes schickte, hoffte er, der Stein,
jedes Mal wenigstens ein kleines Glitzern zu erhaschen.
Doch er erkannte schnell, dass der Baum ihm diese Freude aus reiner Bosheit verwehrte.
Eine unruhige Nacht war es für den Stein - zwischen Augenblicken, in denen er glaubte,
ein schwaches Glimmern erblicken zu können, das sich schließlich als gemeines Spiel zwischen Mondlicht und Blattwerk des Baumes herausstellte
und Gefühlslagen völliger Verzweiflung, in denen er sich wieder nur als grauer und harter und kalter Stein sah -
schmucklos und trist im Schatten des ach so großen Baumes.
Dabei achtete er genau darauf, auch ja kein Wort an den Baum zu richten, der ihn schwer enttäuscht hatte.
Auf ihn konnte er gut verzichten, obwohl er, der Stein, sicher war, dass der Baum etwas sah von da oben,
es ihm aber nicht mitteilte und das machte ihn rasend, rasend vor Wut und besonders rasend vor Angst,
denn glücklich konnte er fortan nur sein in seiner neuen Gestalt - das war ihm nun deutlich.

So ging also die Nacht vorüber und mit den ersten Strahlen der Sonne,
die sich weiter und immer weiter in seine Richtung bewegten, platzte im beinahe der Kragen vor Anspannung.
Der Stein hatte zwichenzeitlich keine Ruhe finden können,
doch als die Sonne ihn schließlich erreichte, sprach er voller Erleichterung: "Ach, du liebe Sonne. Liebe, liebe Sonne.
Welch Glück bringst du mir an diesem wundervollen Morgen.
Du bringst nicht nur das Licht und das Leben selbst und mit ihm die Hoffnung, nein, du bringst auch das Glitzern und du bringst den Sinn im Leben."
Und der Stein war so froh, dass er alle Ängste und Sorgen vergaß und sogar seine Wut über den Baum, sodass er sprach:
"Baum, sieh doch. Alles ist, wie die liebe Sonne es mir am Abend hinterlassen hatte. Alles wie zuvor.
Mein Geschenk... Ich bin so schön wie zuvor.
Wir können wieder ganz beruhigt sein. Es ist kein Traum... Ich bin so schön.
Alles ist vergessen, ach Baum, ich verzeihe dir.
Ich vergebe dir dein Schweigen und dein Spiel mit dem Mondlicht in der Nacht.
Baum, sieh doch. Wie wunderschön ich bin."
Doch der Baum blieb still und sprach kein Wort.
In diesem Augenblick wandte sich der Stein zum ersten Male von seinem glitzernden Schmuckstück ab und nahm seine Umgebung wahr.
Da lag der dicke schwere Ast, der dem Baum abgebrochen war, als der Mensch sich an ihm emporzog,
um sich in seiner Rinde zu verewigen.
Er sah schlimm aus, der Ast - eine große klaffende Wunde am dickeren Ende.
Und da lag der Mensch, der ihm, dem Stein, dies wunderbare Geschenk gemacht hatte, neben dem Stein und auch neben dem Ast des Baumes ganz ruhig, bewegungslos.
Er sah schlimm aus, der Mensch - eine große klaffende Wunde am Kopf.
Da war auch mehr wunderschöner Schmuck, viel mehr als sich der Stein jemals hätte träumen lassen - von der Sonne bis ins Unendliche erleuchtet.
Doch das war dem Stein nun nicht mehr wichtig,
denn nur ein kleines Stück weiter hinten, dort wo der Baum gestern noch in voller Blüte stand
und von wo aus der Baum noch tags zuvor seine schönen Lieder sang,
da stand nun ein alter trockener grauer Greis von einem Baum,
ohne ein einziges Blatt in seiner Krone und ohne Kraft auch nur einen einzigen Ast in Richtung Sonne zu strecken.
Er sah schlimm aus, der Baum - Eine große klaffende Wunde genau dort, wo einst sein Herz gewesen war.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 30.04.2014. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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