Irene Beddies

Die Geschwister 2: Ein Mensch




 
Die Sonne warf ihr unbarmherziges Licht über die Ebene unterhalb des Felsens. In reinem Gold erstrahlte das verdorrte Land, voll von falschen Verheißungen. Ruk und Nali hielten sich schon seit mehreren Wochen unter ihrem Felsüberhang auf, ohne den Mut gefunden zu haben, weiter zu ziehen auf ihrer Suche nach anderen Menschen.
Hier fühlten sie sich zwar allein und verlassen, aber doch sicher. Sie konnten aus der kleinen Quelle ausreichend Trinkwasser holen. Das Nass brachte so manches durstige Tier herbei, dem Ruk auflauern und das er oftmals mit einem geschleuderten Stein töten konnte.
Was ihm fehlte, war ein Speer. So oft er in der Umgebung suchte, er fand nirgends einen Baum oder Strauch, der einen starken, geraden Ast für ihn bereit hielt. Die wenigen Dornensträucher zwischen den Felsen waren schwach und verdorrt, ihre Zeige brüchig.
Nali hatte aus Gras und einigen biegsameren Ranken Körbe geflochten. In denen sammelten sie, was die Umgebung an Essbarem hergab: Samen großer Gräser, die in der Nähe der Quelle wuchsen, und Knollen, die darauf warteten, beim nächsten Regen Leben hervorzubringen. Ab und zu fanden sie das Ei eines Vogels oder einer Schlange. Käfer und andere Insekten verschmähten sie ebenfalls nicht. So war meistens für ausreichend Nahrung und Beschäftigung gesorgt. Nali gelang es sogar, einen kleinen Vorrat an Samen beiseite zu legen für die immer wieder aufgeschobene Wanderung.
 
Eines Nachmittags  ertönte ein langgezogener Schrei.
Die Geschwister lauschten. Der Schrei wiederholte sich nicht. Da er von weit her gekommen zu sein schien, fühlten Ruk und Nali sich unter ihrem Felsüberhang sicher. Trotzdem lauschten sie immer wieder in die Ferne, als sie nahe ihres kleinen Schutzdaches nach Essbarem suchten und später Wasser für die Nacht holten.
Die Sonne versank als rotglühender Ball, die Dämmerung dauerte nur kurz, dann kam die Nacht.
Wie üblich schaute Nali an den funkelnden Sternenhimmel und suchte „ihren“ Stern. Sie war beruhigt, als er ihr zuzwinkerte, und legte sich schlafen.
Ruk dagegen ging der seltsame Schrei nicht aus dem Sinn. In der Dunkelheit fühlte er sich bedroht und beschloss, wach zu bleiben.
Aber auch er schlief schließlich ein.
 
Am Morgen hörte er ein Stöhnen ganz in der Nähe. Erschrocken ergriff er leise seine Schleuder und legte einen Stein darin bereit. Andere Steine häufte er neben sich auf. Dann weckte er vorsichtig Nali und legte einen Finger auf ihre Lippen.
 Das Stöhnen erklang erneut. Unmittelbar vor der Felswand, die den Überhang auf einer Seite begrenzte, bewegte sich etwas.
Ruk verlagerte unmerklich seine Position und lugte um die Ecke. Da lag ein Mann. Er war blutverschmiert. Seine lang aufgerissene Wunde am Arm musste von einem Raubtier stammen. In der Hand hielt er fest umklammert einen Faustkeil aus schwarzem, glänzendem Gestein.
Der Mann starrte Ruk unverwandt an, stöhnte und sagte etwas. Ruk verstand ihn nicht, er sprach eine andere Sprache. Als der Mann merkte, dass Ruk  seine Worte nicht deuten konnte, zeigte er mit der Hand auf seinen Mund. Natürlich, den Mann plagte Durst, er kam ja aus der ausgetrockneten Savanne. Ruk bat Nali um den Wasserbeutel und hielt ihn dem Erschöpften an den Mund.
Als der Mann seinen Durst gelöscht hatte, seufzte er tief und verlor das Bewusstsein.
Nun kam auch Nali hervor und betrachtete den Fremden. Sie kroch näher und begutachtete seine Wunde.
„Wie können wir die verbinden, Ruk?“
Ruk zuckte die Achseln. In ihrem Clan wussten nur alte Frauen und der Schamane, wie man Kranke und Verletzte mit Kräutern und Zaubersprüchen behandelte.
Die Geschwister waren sich einig, dass der Mann in den Schatten des Felsüberhangs gezogen werden musste. Nali schlug vor, frische Sternblütenpflanzen zu holen und damit zu versuchen, die Blutung zum Stillstand zu bringen. Ruk war einverstanden. Inzwischen nahm er das Fell des gestern erbeuteten Hasen, befeuchtete es und wusch damit das Blut von der Wunde so gut es ging. Der Mann stöhnte, erwachte aber nicht.
Nali legte die grünen Blätter auf die Wunde und schlang das Fell und einige Ranken um das Blätterpäckchen, um es zu befestigen.
Was sollten sie mit dem Mann tun?
Mit seiner Wunde bedeutete er zunächst keine Gefahr.
Würde er sie zu anderen Menschen führen können?

© I. Beddies


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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 27.05.2014. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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