Inge Hoppe-Grabinger

Berlin, l8 Uhr


Es ist so still in der Stadt. Und das um l8 Uhr.  Ich habe vor, heute das Grab meiner Mutter zu besuchen und fahre deshalb
mit der U-Bahn.  Sehr hübsche Mädchen steigen ein und aus, aber eine ist schöner als alle anderen. 
Ihre Frisur besteht auseinem winzigen Knoten. Sie nestelt daran herum und aus dem winzigen Knoten wird eine schwarze Haarmähne,  die mit jedem Schütteln größer und größer wird und länger, immer länger, schließlich erreicht sie die Hüfte, umschwingt beideSeiten der Hüfte ... es  ist so  märchenhaft, dass sich außer mir noch andere Zuschauer daran ergötzen, darunter ein sehr östlich aussehender junger Mann, der die Augen kaum abwenden kann und Frauen meines Alters, was ja allesmögliche bedeuten kann, jedenfalls starren wir das Haarwunder an, das immer neue Schwingungen vornimmt, wobei mitjeder Wendung das Volumen wächst und wächst ....  
  Natürlich betrachtet sich das Haarwunder im Türspiegel, mit überaus ernstem Gesicht, so als würden die Schwingungen kontrolliert noch mehr zur Wirkung kommen.   Meine Nachbarin und ich können uns nicht
sattsehen an dieser Vorstellung, wir lächeln uns an und als ich aussteigen muss, flüstere ich ihr zu: Was für ein schönes
Theaterstück. Sie lächelt zurück: ja, so ist es!
Kurz vor dem Friedhof,  auf dem auch E.T.A. Hoffmann begraben ist -  auf  seinem Stein sieht man einen Schmetterling -,
schaue ich nach oben: Eine mächtige  schwarze Wolke mit einem breiten silbrigen Rand verdeckt zur Hälfte die Sonne.
Ich prüfe den Wind, wohin er wohl weht, es sieht so aus, als ob der Regen gleich beginnt und ich  beeile mich, um in die
Bergmannstraße zu gelangen, vorbei an  8 Kneipen, randvoll besetzt, überall Flachbildschirme.  Während es anfängt, zu
tröpfeln, erreiche ich eine italienische Kellerkneipe, die Kleinst-Pizzen fabriziert. Hier war es vermutlich, wo ich vor 
vielen Jahren, als in der Bergmannstraße vor allem Trödelläden zu finden waren, einen 8O cm großen  Gips-Goethe fand und ihn für meinen damaligen Liebsten kaufte, für einen Spottpreis.
Draußen vor der Kneipe ist  - oh Wunder - kein Flachbildschirm  und - oh Wunder - ein Baldachin, der vor dem Regen schützt.  Ich lasse mich mit einem Glas Rotwein nieder  undhabe wenig später Gesellschaft: ein glatzköpfiger junger Mann setzt sich zu mir mit seiner Pizza.  Ich überwinde meineAngst vor Glatzen und spreche ihn an: Wohin wohl der Wind weht und in welche Richtung die schwarze Wolke, die sichgerade abreagiert, zieht  Der junge Mann ist kein überheblicher 
Intellektueller und wir kommen ins Gespräch. Aus Hamburg kommt  er  und wohnt nur in der Woche in Berlin.  Er wohnt zuammen mit Engländern (hätt ich mir doch fast gedacht), radelt gern durch Berlin und
hat  in mehreren Ländern Englisch gelernt  (in Irland, in Kanada und Neuseeland).   Ich wage ihm zu sagen, dass er
als passionierter Radfahrer vermutlich an allen Gedenktafeln  vorbeiradelt.  Um nur ein Beispiel zu nennen: Wer kennt
nicht den Dierke-Atlas?   Bei mir um die Ecke wohnte er, Dierke, den jeder Schüler  aus seiner Schulzeit kennt, ohne
je daran zu denken, dass es dazu eine leibhaftige Person gab.   Nur 2OO Meter von unserer Kneipe entfernt, am
Mehringdamm, hatte Gottfried Benn seine Arztpraxis.  Direkt davor stehen Tag für Tag   Dutzende von jungen Leuten
geduldig an, um eine "berühmte" Curry-Wurst zu kaufen.  Mein Glatzkopf kennt diese Stelle sehr wohl und weiß auch,
dass die Beliebtheit auf einen Reiseführer zurückzuführen ist, den offenbar die ganze Welt kennt. Benn hingegen kennt
er nicht.
Als der Himmel sich aufklärt und da mein Rotwein alle ist, habe ich keinen Grund mehr, den Glatzkopf  aufzuhalten. Er
ist mir inzwischen  fast ans Herz gewachsen.
Ich verabschiede mich, sehe unterwegs ein Paar abgestellter Ballerinen-Schuhe und komme zufällig vorbei an einer
schönen Backsteinkirche,  deren grüne schlanke Türme ich in meiner Kindheit immer von weitem gesehen habe.  Nie
wußte ich, wie diese Kirche von innen aussah. Die Kirche ist offen und ich  traue mich hinein.  In der riesigen Kirche
sind  acht bis zehn Besucher,  in den vorderen Reihen ein kleines Häuflein, das aber tapfer singt.  Ich schleiche mich
wieder davon,  finde ein immer noch geöffnetes Antiquariat,   es ist bereits  l9.4O oder so, und finde auf Anhieb zwei
Bücher, die mir gefallen:  eine Biographie von Ringelnatz und die Erinnerungen von Artur Rubinstein.  Es gibt tatsächlich
noch andere Leute außer mir, die um diese Uhrzeit  (während des Fußballspiels D - USA)  sich in die Bücherstapel
vertiefen. Auch der Antiquar wundert sich.
Auf gut Glück gehe ich ins Kino, im riesigen Saal   8 Leute:  "Boyhood",  ein Regisseur wagt es, über mehrere Jahre
hinweg,  Leute zu filmen  und so eine kontinuierliche Geschichte zu erzählen.  Als der sehr hübsche Junge schwer in
die Pubertät kommt, ziehe ich es vor, das Kino zu verlassen ... vorbei an der 2O Meter langen Currywurst-Schlange
... vorbei an der Gedenktafel für Gottfried Benn ... hinein in den U-Bahn-Schacht,  wo ich vergeblich  auf die U-Bahn
warte, weil sie nicht fährt. Schienenersatzverkehr.  Im Bus  lauter sehr junge Leute, ein babylonisches Sprachen-
gewirr. Vor mir eine hübsche Asiatin  mit  langem rabenschwarzen Haar.  Ich entdecke auf ihrem Hinterkopf einen kleinen,
fast durchsichtigen zart grünen Grashüpfer.  Ich freue mich darüber so sehr, dass ich es ihr mitteilen möchte.
Ich frage sie, ob sie Englisch spricht.  Nein, bedeutet sie mir,   das macht mich ganz traurig, denn ich hätte ihr so
gern gesagt, dass in ihrem Haar  ein unwirklich schönes  Geschöpf  herumklettert.
Nun weiß ich etwas, was niemand ausser mir gesehen hat.  Aber ich kann es nicht für mich behalten. Und deshalb
musste ich  es aufschreiben ... sofort.

26. Juni 2o14



 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 27.06.2014. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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