Richard von Lenzano

Tränen meiner Seele

Tränen meiner Seele
 (sehr autobiografisch)      -  auch als E-Book im Netz zu kaufen  -
 
 
Nostalgie
 
Ich war klein.
Ich war jung.
Ich war frech und ungezogen -
aber ich war immer höflich und nett -
aber - wie gesagt, auch rotzfrech -
und das mit sechs Jahren!
 
 
Ich bin so, wie viele andere Jungen damals auch. Von dem einen etwas mehr, von dem anderen etwas weniger. Es ist einfach die Zeit der frühen 50-er Jahre, welche uns prägen.
Damals, ja damals ist alles noch anders, ganz anders als heute.
Es ist gemütlicher, weniger hektisch als heute, es läuft noch vieles harmonischer ab. Man hatt ja noch weniger als heute, ist also auch weniger neidisch auf andere.
Die Motorisierung beginnt gerade erst, die ersten Autos sind mit dem „Winkblinker“ ausgerüstet. Es ist die Blütezeit der Lanz Bulldoggs in Deutschland und die Musik in den Lokalen gibt es aus „Musikboxen“. Peter Kraus (Tutti Frutti) und Cornelia Froboess (Pack die Badehose ein) trällern ihre Lieder von gepressten schwarzen Scheiben, durch voll aufgedrehte Lautsprecher, in den Raum.
In den Geschäften gibt es beim Einkaufen Rabattmarken, das Fernsehen befindet sich noch in den Kinderschuhen, dafür geht fast jeder gerne ins Kino. Da der Verdienst in diesen Jahren recht niedrig ist, sitzt man häufig in den ersten Reihen auf den sogenannten "Rasiersitzen", weil der Kopf in den Nacken gelegt werden muss.
Wer von uns erinnert sich nicht noch an die Schlagworte von „Fox’ Tönende Wochenschau“ (1950 –1978)? Das war der filmische Vorläufer der später folgenden „Tagesschau“ im „Ersten Fernsehen“.
Bei Fußball- Europa- und Weltmeisterschaften sitzt man gemeinsam in den Sälen von Gaststätten, um die Spiele anzusehen. Ein Brötchen oder eine Brezel kosten 6 und die BILD gibt es für 10 Pfennige.
Das Geld ist knapp, aber dafür ist Arbeit reichlich vorhanden.
 
 Schule
 
Meine Einschulung erfolgt im Herbst des Jahre 1950. Das ist sehr gut, denn dafür komme ich im nächsten Frühjahr -, nach erst einem halben Jahr, - bereits in die 2. Klasse.
Wenn ich zur Schule gehe, ist in meinem Schulranzen eine eingerahmte Schiefertafel, an der an einem Bändchen ein Schwamm befestigt ist.
Auch ein kleines Läppchen ist angebracht. Eine Seite der Tafel ist mit Linien zum Schreiben versehen, die andere Seite ist ohne – um darauf zu malen. Geschrieben wird mit einem Schiefergriffel.  (Wikipedia: Eine spezielle Form des Griffels ist älteren Generationen als Schreib-Griffel noch in guter Erinnerung, denn noch bis Mitte der sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts schrieben und rechneten Schüler der unteren Jahrgänge mit ihnen auf Schiefertafeln ((mit Schiefergriffeln)) bzw. später auch auf Plastiktafeln).
Wir sind eine große Grundschule, mit getrennten Klassen. Mädchen und Jungen werden gesondert unterrichtet, aber auf dem Schulhof sind wir trotzdem zusammen. Die Mädchen ärgern uns immer, dafür ziehen wir sie an den Haaren. Das geht sehr gut, da viele Schülerinnen Zöpfe haben, und diese sehr griffig sind.
Unser Lehrer, Herr Golz, ist streng und achtet sehr auf Pünktlichkeit und Hausarbeiten. Deshalb wird er auch von uns fortlaufend geärgert. Sehr oft werde ich als Übeltäter entlarvt und bekomme dafür die Strafen.
Das geht vom Ziehen an den Koteletten, leichten Ohrfeigen bis hin zu den gefürchteten Tatzen.
„Tatzen“ sind eine alte Schulstrafe (Wikipedia: Bereits seit dem antiken Rom) und werden mit einem Weiden- oder Haselnussstock durchgeführt. Bei uns in der Klasse wird allerdings auch gerne ein Stöckchen aus Bambus benutzt.
Der Schüler hat nach Aufforderung durch die Lehrkraft die Hand nach vorne zu strecken, die Handflächen zeigen dabei nach oben. Dann schlägt die Lehrkraft mit dem Stock zu und zwar auf den Handteller oder die Finger.
Für besondere Delikte, oder aber für meine Bestrafungen wird grundsätzlich  auf die Fingerkuppen geschlagen, was sagenhaft weh tut.
Ich räche mich für diese Bestrafungen wieder, indem ich ihn immer wieder erneut und verstärkt pikse und ärgere.
Mal lege ich ihm Reißnägel auf seinen Stuhl, ein anderes Mal schmiere ich Klebstoff darauf. Selbst damals hat sich der alte „UHU-Kleber“ schon besonders bewährt. Ab und zu kippe ich auch etwas Tinte aus dem Tintenfass in das vordere Ende des Rohrstockes.
Was für eine Gaudi, wenn Herr Golz mal wieder seine Tatzen verteilt. Meist schlägt er nur zweimal, weil ihm spätestens dann auffällt, wie die Klasse brüllt und johlt. Sie brüllt vor Lachen, weil die Tinte aus dem Rohrstock sich an der Decke und im gesamten Raum verteilt.
Die Zeugnisse meiner ersten Schuljahre waren nicht unbedingt schlecht, jedoch steht in der Zusammenfassung der Leistungen immer ein Satz, der mir Schwierigkeiten bei meinen Eltern bereitet. Es war die Bemerkung:
„Der Schüler stört grundsätzlich und gerne den Unterricht“.....
Dabei habe ich doch nur solche Sätze wie z.B. diesen gesagt:
 
 
 
„He, schaut mal alle zum  Fenster, da sitzt ein ganz bunter Vogel und will zu uns herein....“!
Spätestens jetzt muss ich einfügen, dass  Deutschland noch unter alliierter Besatzung steht. Im Jahr 1950 sind wir zwar souverän, die  Alliierten haben aber Deutschland immer noch in 4 Zonen aufgeteilt. Hier, bei uns in Baden Württemberg, sind diverse Teile der  US-Armee stationiert.
Keine größere Veranstaltung wird ohne die Streitkräfte gefeiert, sie helfen und unterstützen, wo sie nur können. Vor allen Dingen engagieren sie sich stark in allen sozialen Bereichen.
Sie sorgen dafür, dass wir Schulkinder pro Tag wenigstens eine warme Mahlzeit bekommen, die sogenannte "Schulspeisung". Jedes Kind muss dazu ein Gefäß (meistens ein altes militärisches Kochgeschirr) sowie Besteck mitbringen. Zunächst wird diese "Speisung" aus Beständen der US-Armee organisiert, später wird sie durch Spenden finanziert, überwiegend von US-Bürgern.
Es gibt die unterschiedlichsten Menüs, wie Reisbrei mit Zimt und Zucker; Sauerkraut mit Kartoffelstampfe; Nudeln mit Fleisch und Soße oder ähnliches. Ab und zu gibt es auch Brötchen mit Kakao oder Milch für uns. Das alles, wird kostenlos von den "Besatzern" an uns Kinder abgegeben.
Ich meine, wenn auch unheimlich verspätet, soll hier ein ehrliches und liebes Dankeschön dafür erfolgen.
Irgendwann wird dann ein Jahrhundertfest in unserer Stadt gefeiert. Ein Riesenspektakel, mit großem Aufwand, bestehend aus Ausstellungen und langen Umzügen von Militär, Wirtschaft, Handwerk und Handel und US-Armee.
Auch alle Schüler der örtlichen Schulen werden zu den Umzügen eingeladen und bekommen ihre kleinen Aufgaben.
Ich darf vor einer amerikanischen Militärkapelle (Brass Band) laufen, ein Schild mit dem Namen der „Band“ hoch halten, und es allen Leuten sichtbar zeigen.
Hinter mir marschiert der „Tambourmajor“, der seinen Stab, den „Mace“, hoch in die Luft schleudert und fangsicher wieder auffängt. Ich bewundere ihn und schaue mich öfters nach ihm um, zumal ich von ihm  - ab und zu - einen Streifen „Chewinggum“ (Kaugummi) zugesteckt bekomme. Thanks!
 
Schwimmen
 
 
In dem folgenden Sommer soll ich schließlich das Schwimmen  erlernen. Ein Freibad oder einen Badesee gibt es zu dieser Zeit bei uns noch nicht. Das alles kommt erst später. An der Stadtgrenze befindet sich ein kleiner Bach, der durch ein künstliches Wehr aufgestaut wird. An diesem Wehr wird der Bach dann umgeleitet und fließt ungefähr zehn Meter tief mit Gefälle auf einer steinigen, mit Moos und Algen bewachsenen  Fläche abwärts. Diese „schräge Ebene“ wird von einigen Erwachsenen als Rutschbahn benutzt.
Sie rutschen diese Schräge stehend herunter. Eines Tages ist es damit dann aber vorbei, weil sich ein Erwachsener dabei lebensgefährlich verletzte. Er rutscht wie üblich hinunter, stürzt und fällt auf den Hinterkopf. Bewusstlos bleibt er im Wasser liegen und muss von Badenden gerettet und versorgt werden.
Dieser Unfall verbreitet sich wie ein Lauffeuer, man sieht keinen mehr rutschen, nicht wegen der Angst die man nun hat, sondern weil ein Schild dort stand:
 
Keine öffentliche Badestelle
„Baden bei Strafe verboten“
Der Bürgermeister
 
Es dauert auch nicht mehr lange und die Stadt gönnt den Bürgern ein wunderschönes großes Freibad. An der Peripherie gelegen, verbindet es Freizeit und Sport in idealer Weise. Mein Vater kauft jedes Jahr für uns die „Familienjahreskarten“ und nun soll ich dort auch das Schwimmen erlernen. Man ordnet mich einem weiteren Schwimmkurs unter Anleitung des örtlichen Bademeisters zu. Wir beginnen mit Wasserspielen im flachen Wasser und toben und planschen, es ist eine wahre Freude.
Dann machen wir auch Trockenübungen. Auf einem Hocker liegend sollen wir die einzelnen Schwimmbewegungen mit den Händen und Beinen führen, was aber zunächst an mangelnder Koordination unserer Extremitäten scheitert.
Schließlich stellt man am Beckenrand einen "Galgen" auf, an dem ein Seil befestigt ist. Ich bekomme einen Gurt umgelegt und das Seil wird mittels eines Karabinerhakens auf meiner Rückenseite in den Gurt eingeklinkt. Dann muss ich vorsichtig ins Wasser gleiten und solle schwimmen üben.
Das war es aber auch schon. Da ich keinen Grund unter den Füßen spüre, fange ich an zu zappeln und zu schreien. Und je mehr ich zappele und schreie, desto mehr Chlorwasser bekomme ich zu schlucken. Es ist nicht möglich, mir das Schwimmen auf diese Art und Weise beizubringen, man zieht mich wieder an Land.
 
Als ich mal wieder zum Schwimmunterricht muss, stehe ich vor der Kabine des Bademeisters und bin erstaunt, an der Holztür war ein Schild angebracht, auf dem steht:
 
Zutritt verboten
 
Ich wundere mich zunächst, warum dort so oft mehr als drei Personen im Raum sind, und sich keiner daran stört. Irgendwann geht dann auch bei mir die Lampe langsam an.
In diesem Jahr lerne ich das Schwimmen nicht mehr, kann aber zu Beginn der nächsten Badesaison auf einmal schwimmen. Wieso und warum … ich kann es mir bis heute nicht erklären.
 
Aufbaujahre
 
 
Es sind gerade diese Jahre die den Aufbau der jungen Bundesrepublik bedeuten in welche ich hineingeboren werde. Viele Zerstörungen und Ruinen sind noch zu sehen und Arbeit gibt es reichlich. Mein Vater arbeitet in einem zahntechnischen Labor, meine Mutter hilft ihm dabei, um ein einigermaßen geregeltes Familieneinkommen zu erzielen.
Allerdings, sind die Mieten relativ günstig und die Lebenshaltungskosten ebenso. Ein Brötchen oder eine Brezel kosten, wie oben schon erwähnt sechs Pfennig, und ein Liter Benzin ungefähr sechsundfünfzig Pfennig.
Es ist auch die Zeit, in der man einerseits sparsam und genügsam ist, aber andererseits will man sich, nach den vielen entbehrenden Kriegsjahren, wieder etwas gönnen. Deshalb wird alles aufgehoben und gesammelt was einen materiellen Wert hat.
Für die Frauen kommen aus den USA die ersten bezahlbaren Nylonstrümpfe auf den Markt, hinten mit breiter Naht. Sie sind der absolute "Modeschrei". Allerdings bekommen sie sehr leicht Laufmaschen. Darauf wieder haben sich schnell diverse „Einfraubetriebe“ eingestellt, welche in der Lage sind, die Laufmaschen aufzunehmen und zu reparieren. Es rechnet sich immer, denn die Strümpfe sind einfach zu teuer - um sich schnell mal neue kaufen zu können (der Reparaturpreis liegt zwischen 10 und 20 Pfennigen, pro Masche).
Sind die Strümpfe ganz und gar nicht mehr zu gebrauchen, werden sie von meiner Mutter gesammelt. Wenn eine ordentliche Anzahl zusammen ist, beginnt meine Mutter, diese Strümpfe, ähnlich wie einen Zopf, zu verflechten. Daraus macht sie wunderbar weiche und warme Bettvorleger, man kann sich ja sonst keine anderen kaufen.
Alte Bekleidung wird repariert bis sie nur noch aus Flicken besteht und kommt dann erst in einen großen Sack. Wenn dieser voll ist, wird er zum „Lumpenhändler“ gebracht.
Dort werden wir außerdem alle Metalle los, auch unsere gesammelten und zu Kugeln zusammengerollten Stanniolpapiere. Das Geld wird für „Neuanschaffungen“ gespart.
Unsere Schuhe besohlt mein Vater selbst. Er hat es nie gelernt, aber Not macht erfinderisch. Er besorgt sich Leder und besohlt die Schuhe so lange, bis es nichts mehr zu besohlen gab und sie tatsächlich „auf“ sind.
Für das Tragen der Schuhe gibt es in der Familie ein „ungeschriebenes Gesetz“, welches immer gilt. Da meine Schwester größer und älter ist, bekommt sie immer die „neuen Schuhe“ (wenn die alten den Geist aufgegeben haben), danach darf ich sie tragen und zum Schluss muss mein jüngerer Bruder sie bis zur absolut letzten Abnutzung ertragen.
Es wird alles getragen und benutzt, bis es „auf“ ist.
Aufgrund der Doppelbelastung meiner Eltern durch Beruf und unsere Erziehung, haben wir Kinder doch relativ große Spielräume und Freiheiten. In der Schule läuft es ganz gut und wir haben Freizeit, heute muss ich sagen - zu viel Freizeit!
 
Übermut
 
Wir machen nicht nur gute oder nützliche Sachen, ich selbst bestimmt nicht. Ich lebe einfach in den Tag hinein und denke über mein Tun so gut wie nie nach. Wer macht das schon im Alter von sieben Jahren, zumal die moralische und sittliche Reife noch nicht vorhanden bzw. ausgeprägt ist.
Es kommt dann wohl auch, wie es kommen muss, ich habe viele Freunde. Davon mehr schlechte als gute, ich tendiere zu denen die viel Mist machen und Draufgänger sind.
Ich habe auf jeden Fall ein paar Freunde, welche nicht unbedingt positiv förderlich für mich sind. Das hat sich allerdings erst wesentlich später herausgestellt.
 
Fast jedes Jahr kommt eine evangelische Zeltmission in unsere Stadt und baut ihr riesiges Missionszelt auf. Wir Kinder, vor allen Dingen die Jungs, helfen dann mit, das Zelt aufzubauen und erhalten dafür kleine Geschenke. Mein Freund sagt mir, dass am Ende der jeweiligen „Gottesdienste“ die Kollekte in große offene Behälter an den Eingängen gelegt wird und sich sehr häufig auch Scheine dabei befinden. Unser Trick ist, mit der Hand Kleingeld hineinzulegen und bei Herausnahme der Hand einen Schein in der Hand verschwinden zu lassen. Wir beobachten dann zusammen das Verhalten der Menschen und baldowern unseren Plan aus. Das klappt vorzüglich und die Kohle wird von uns anschließend in der Stadt in Süßigkeiten umgesetzt.
Wir necken und ärgern auch gerne Leute. Beliebt ist unser „Klingelstreich“. Abends drückt man auf irgendeine Klingel, klemmt ein Streichholz zwischen den Klingelknopf und bricht es ab. Dann müssen wir nur noch schnell weglaufen und können uns köstlich amüsieren.
 
Frischmilch
 
 
Beliebt war auch das Schießen mit einem Luftgewehr auf Milchkannen. Einer meiner Freunde bringt das Luftgewehr seines Vaters mit, sowie die erforderliche Munition sogenannte Diabolos. Zur damaligen Zeit wird die Milch in Milchkannen aus Aluminium von den Verkaufsstellen geholt. Tetrapack und Kunststoffmilchkannen kommen erst später auf den Markt. Man geht zum Laden, gibt die Kanne ab und aus einer riesigen Milchkanne wird die Milch mit einem sogenannten Milchschöpfer (1/4 bzw. ½ Liter) abgeschöpft.
Nach der Säuberung der Milchkannen werden diese von den Frauen häufig zum Trocknen vor das Fenster gehängt. Das ist gefährlich, denn da draußen lauern ja wir. Es ist einfach toll für uns, wenn die Munition aus dem Luftgewehr gegen die Kannen knallt. Mitunter knallt es nicht nur, sondern das Geschoss durchschlägt einfach die Milchkanne, dann ist unsere Freude immer besonders groß.
Hier fällt mir ein, dass ich wieder einmal Milch holen soll. Ich nehme die Kanne, bekomme von meiner Mutter zusätzlich 10 Pfennig mit, um mir als Belohnung eine kleine Sahnetüte holen zu können, und marschiere los. Im Milchladen nehme ich die Kanne ab und sage:
„Bitte eine Sahnetüte für 10 Pfennig und - 2 Liter Vollmilch“.
Dann gebe ich die Kanne ab, bekomme meine Sahnetüte und lecke die leckere süße Sahne, während die Verkäuferin die Milch in die Kanne schöpft. Sie stellt die Kanne auf den Ladentisch und sagte:
„Kleiner, gibst Du mir nun das Geld“. 
Ich fasse in meine Hosentasche, da waren aber nur 10 Pfennige, die ich der Verkäuferin gebe. Verwundert schaut sie mich an und sagt:
„Das ist ja nur das Geld für die Sahnetüte, da fehlt ja noch das Milchgeld“.
Ich glaube, ich bin knallrot geworden und fange an, das Geld in meinen Taschen zu suchen. Es ist einfach nicht da. Aber ich weiß auch sicher, dass ich es nicht verloren habe. Plötzlich fällt mir siedend heiß ein, wo das Geld ist. Ich sage zur Verkäuferin:
„Schauen Sie doch bitte mal in die Milchkanne rein, da ist das Geld“
Sie sieht in die Kanne und erwidert:
„Da ist nur die Milch drinnen….“
Ich nun: „Darunter aber muss doch das Geld liegen ...
Dann fange ich an zu weinen und die Verkäuferin kippt die Milch in ein anderes Gefäß, nimmt das Geld aus der Kanne, Milch wieder zurück und - für mich - gibt es als Trost noch eine extra große Sahnetüte….
 
Zur Milch fällt mir auch noch folgende Begebenheit ein.
Ich bin mit voller Milchkanne auf dem Weg nach Hause. Unterwegs fange ich an, mit der Milchkanne in der Hand zu schaukeln.
Gerade soweit, dass keine Milch aus der Kanne laufen kann. Es ist ein schönes und neckisches Spiel, und ich habe alles in der Hand. Es ist schön, so mit der Erdanziehung und der Zentrifugalkraft zu spielen. Wären meine Physikkenntnisse  besser gewesen, hätte ich meinem Tun Einhalt geboten.
Also, ich schwenke immer wagemutiger die Milchkanne auf und nieder. Auf einmal habe ich sie hoch, über dem Kopf und sie kam wieder nach unten, ohne einen Tropfen Milch verschüttet zu haben.
Das muss ich sofort noch einmal versuchen. Es klappt und macht Spaß, man muss nur den Schwung  mit einem „Gegenschwung“ rechtzeitig abstoppen, und die Milchkanne ist wieder im Normalzustand.
Immer wieder gönne ich mir die Freude. Was dann aber passiert nun in Kurzform:
Die Drehungen werden immer schneller, ein Ruck Milchkanne hebt ab und fliegt und fliegt und fliegt  ... sehr weit - mitten auf die Fahrbahn. Ein Auto kommt, bei der Verkehrsdichte damals ein Zufall, Milchkanne platt, Milch weg, aber ich habe ja alles in der Hand, vor allem den Griff der Milchkanne!
Und zu Hause gab es abends eine ordentliche Senge von meinem Vater.
 
Senge habe ich oft bekommen. Senge, das ist bei uns Züchtigung mit einem dünnen Stock auf den Hintern. Innerhalb von uns Geschwistern bekomme ich die meiste Senge, da sich meine ältere Schwester immer mit meinem jüngeren Bruder einig ist. Immer, aber auch immer bin nur ich der Übeltäter und werde bestraft.
 
Begleiterscheingen
 
Ich muss noch einmal zu meiner Schulzeit kommen, die nicht uninteressant ist. Nicht nur wegen der bereits geschilderten Erlebnisse, sondern auch um den Schulweg herum gibt es Ablenkungen und sehr interessante Dinge zu sehen. Dies ist insofern für mich natürlich nicht immer ideal, da ich dadurch häufig zu spät in die Schule komme und - dafür berechtigten Tadel kassiere.
Es ist Winter, eiskalt und es liegt Schnee auf den Straßen. Auf meinem Schulweg muss ich an einer großen Landmaschinenwerkstatt vorbei. Dort sehe ich Feuer und will sehen, was es damit auf sich hat.
Ich gehe hin und sehe einen riesigen Lanz-Bulldog, unter dem es brennt. Es brennt nicht so wie normal, sondern, unter den Ackerschlepper ist eine Lötlampe gestellt worden. Ich mache mich kleiner als ich bin und sehe um die Ecke, warte, dass das Ding irgendwann mal explodieren wird. Ich bin in meinem Element. Technisch interessiert, will ich immer alles wissen, vor allem – warum und weshalb!
Es dauert und dauert, die Zeit verrinnt immer mehr und meine Schule habe ich vor lauter Aufregung und Hingabe total vergessen. Nach längerer Zeit kommt ein Arbeiter, nimmt die Lötlampe unter dem Bulldog weg und löscht sie. Er geht an die rechte Seite des Schleppers und dreht dort an einem riesigen, überdimensionalen Schwungrad. Der Motor des Treckers fängt an zu spucken, aus dem Auspuff kommen dicke dunkle Schwaden und dann tuckert er und läuft dann in einem gleichmäßigen Takt weiter.
Gespickt voll dieser Erkenntnis über die moderne Technik gehe ich endlich zur Schule und komme gerade noch rechtzeitig - zur zweiten Stunde.
 
Meine Schule besteht aus mehreren Komplexen, wobei das große massive Steingebäude und die dahinter befindlichen langgezogenen Baracken hervorstechen. Die Jungenklassen befinden sich in diesen Baracken, dies sich in unmittelbarer Nähe des städtischen Schlachthofes befinden.  Da ich ab und zu vom Schlachthof her das laute Quieken von Schweinen bemerkt habe, weckt dies meine kindliche Neugier.
Ich habe noch ein wenig Zeit bis zum Beginn der Schulstunde und schleiche mich zum Schlachthof hinüber. Was ich dort sehe, ist nicht sehr schön, denn ich erkenne ganz viele Schweine die von Lastwagen angeliefert werden. Von dort werden sie mit Stöcken und derben Fußtritten über die Rampe in den Schlachthof getrieben.
In einem engen Gang staut sich dann alles und ganz vorn am Ende steht ein Mann, weiß gekleidet mit eine überdimensional großen Schürze bekleidet. Er hat ein Gerät aus Metall in der rechten Hand und drückt dies den Schweinen auf die Stirn. Es macht leise „Plopp“ und das Schwein fällt einfach um. Von anderen Männern wird es weitergezogen und dann mit  den Hinterbeinen in ein Metallkarussell gehängt und danach in die Kehle gestochen. Sofort schießt das Blut heraus, läuft auf den Boden und spritzt die Schlachter total voll. Man könnte meinen, dass auch die Schlachter bluten....  Es ist, für mich jetzt unausstehlich und ich habe Angst davor, erwischt zu werden. Ich bin der Meinung, dass man so doch keine Tier töten darf.
Eines ist mir danach sofort klar, niemals, aber auch niemals werde ich Schlachter werden oder aber irgendwelche Tiere absichtlich töten...
Ich gehe also zur Baracke zurück und stelle fest, mal wieder zu spät. In der nächsten Pause habe ich dann ein ganz ernsthaftes Gespräch mit Herrn Golz gehabt. Er hat diesmal ausnahmsweise auf eine Strafe verzichtet, da ich doch schwer mit dem „Erlebten“ zu schlucken hatte.
 
Technisches Verständnis
 
 
Ungefähr seit dieser Zeit, beginne ich mich für alles "Technische" zu interessieren. Ob in der Schule, im "Werkunterricht" oder einfach, indem ich mein Spielzeug demontiere - ich muss immer wissen, wie das Innenleben aussieht und funktioniert. Man Vater schimpft immer und moniert, dass ich immer alles "kaputtmachen" würde. Es ist aber lediglich meine kindliche Neugier und mein beginnendes technisches Verständnis.
Folglich bauen wir Jungs kleine primitive Schiffchen und lassen diese auf unserem Bach schwimmen. Irgendwie wird es dann doch langweilig, es muss ein Antrieb für die Vehikel geschaffen werden. In einer Installations-Werkstatt betteln wir um Karbid, bekommen dies auch, nachdem wir erklären mussten, wofür wir es wollten.
Dann nehmen wir eine kleine leere Dose Kondensmilch und bohren ein kleines Loch hinein. Die Dose wird auf dem Schiffchen befestigt und bekommt im unteren Teil ein zweites kleines Loch. Dort stecken wir einen kleinen dünnen Schlauch hinein und kleben diesen fest. In das obere Loch stopfen wir nach und nach das Karbid hinein und lassen dann ein wenig Wasser auf das Karbid tropfen. Dadurch bildet sich eine chemische Verbindung und kommt als weißes  "Gas" aus dem kleinen Schlauch. Mit einem benutzten Kaugummi kleben wir das Wasserloch dann zu. Alles kommt dann ins Wasser, Schlauch nach unten und siehe da, unser "Motor" funktioniert und das Boot dampft ab.
Kurze Zeit später wird uns das Spiel dann langweilig und wir nehmen das Karbid dann  dazu, um illegal Fische zu fangen...
 Ich habe aber auch Freunde, die ganz in Ordnung sind. Einer davon ist ein hervorragender Bastler, obwohl er erst genau so alt wie ich ist. Wir beschließen zusammen, uns ein einfaches „Radio“ zu bauen. Es ist natürlich kein Radio, wie wir es uns heute vorstellen oder wie sie heute aussehen. Es ist ein kleiner Kasten, in dem sich ein wenig einfache Technik befindet. Wir besorgen uns die Teile und es geht an das Zusammenbauen.
Was wir im Einzelnen alles dazu benutzen, kann ich heute nicht mehr sagen. Ich weiß aber noch, dass wir dazu eine Spule und Kupferdraht hatten sowie einen kleinen Kristall, mit dem war dann die Sender suchen und einstellen konnten. Der Empfang klappte aber nur mit Kopfhörern, die wir von den amerikanischen GI's erbettelt haben. Grundsätzlich können wir nur Kurz- Mittel- oder Langwelle hören. Das ganze Ding hört auf den schönen Namen „Kristalldetektor“ und ist für und sehr preiswert.
 
Sauereien
 
Nicht immer machen wir so vernünftige Sachen, wie eben beschrieben. Aus unserer Sicht gesehen machen wir auch viel Mist, der aber sehr lustig ist (aus damaliger Sicht betrachtet). Unsere „Taten“ werden aber von den Erwachsenen nicht immer positiv gesehen. 
Auf dem Hinterhof unserer Wohnung hat die Vermieterin einen größeren Hühnerstall, in dem sie ihre 20 Tiere Federvieh geht und pflegt. Es ist mal wieder Mai und die Maikäfer regnen von den Bäumen, es ist eine riesige Plage, weil es erhebliche Fraßschäden gibt. Mein Freund und ich sammeln viele Maikäfer auf und packen sie zunächst in große Einmachgläser.
Dann – nichts wie ab zum Hühnerstall. Einzeln nehmen wir die Käfer aus dem Glas, beißen ihnen als Mutprobe die Köpfe ab und werfen den Torso zu den Hühnern. Danach spucken wir die Köpfe hinterher. Wie bescheuert rasen die Hühner zu den Maikäfern, picken diese auf, bis  keiner mehr vorhanden ist, weil unser Glas leer ist.
Wir haben unsern riesigen Spaß und freuen uns, aber der Ärger kommt nach wenigen Tagen. Durch die vielen gefressenen Maikäfer haben die Hühner überwiegend „Windeier“ gelegt. Unser Pech ist auch, dass unsere Vermieterin uns vom Fenster aus gesehen hat, wie wir ihre Hühner „gefüttert“ haben.
Die Strafe bekomme ich dann am Abend, als mein Vater von der Arbeit kommt..
 
Ganovereien
 
 
Mein Tag vollzieht sich also werktags immer zwischen Schule und Freizeit. Und Freizeit ist gleichbedeutend mit Spielen, Streiche machen und andere Leute ärgern.
Einer meiner Freunde zeigt mir eines Tages, wie man schnell und ohne Geld an frisches Obst kommt. Viele kleinere Obsthändler haben mangels Platz ihr Obst damals auf Stellagen  vor den Geschäften platziert.
Wir laufen schnell an diesen Ständen vorbei, ein Griff in die Auslage und eine Apfelsine oder ein Apfel verschwindet in unserer Hand und wird anschließend in der Hosentasche versenkt. Ich weiß nicht, wie lange das so geht. Jahre später erzählt mir mein Vater, dass der Obsthändler uns erkannt hatte und mein Vater damals alles heimlich bezahlte.
 
Eine Sache, die auch Obst und zwar diesmal Kirschen betrifft, muss ich unbedingt noch loswerden. Es ist Spätsommer und wir drei Geschwister gehen alleine spazieren. Wir kommen an einer großen Obstplantage vorbei, wo uns schon die großen und süßen Herzkirschen verlockend entgegen leuchten. Leider sind die Äste zu hoch so dass man kann keine Kirschen vom Boden aus pflücken kann.
Ich, als kräftigster, muss also auf den Baum. Das ist keine so gute Idee, da wir alle unsere Sonntagskleidung tragen. Für mich heißt das, weiße kurze Hose mit Trägern, eine weiße Marinebluse mit Exkragen und meine feinen, braunen Sonntagsschuhe.
Also, rauf auf den Baum und erst mal die Lage gepeilt, da ab und zu ein "Feldschütz" (Flurwärter oder Aufpasser) diese Obstplantagen kontrolliert. Ich sehe keinen und fange an, Kirschen zu pflücken. Erst hänge ich mir "Zwillinge" über meine beiden Ohren, aber das war noch nicht genug. Da ich keinen Korb oder Tüte bei mir habe, schiebe ich sie vorsichtig in meine beiden kleinen Hosentaschen. Diese sind fast voll, als meine Schwester brüllt:
"Der Feldschütz kommt"!
Jetzt gerate ich in Panik, klettere aus den Ästen und rutsche am Stamm nach unten. Gleichzeitig habe ich Angst, dass ich mich dabei verletzt habe, da meine Beine blutig rot sind. So schnell unsere kurzen Beine uns tragen können, hauen wir ab und laufen in Richtung eines kleinen Baches davon. Dort lecken wir unsere Wunden, vor allem ich. Verletzungen habe ich keine, aber, beim Herunterrutschen am Stamm habe ich die Kirschen in meinen Taschen zu Saft verarbeitet!
Ich sehe aus, als ob ich in rote Farbe gefallen wäre. Um den Schaden zu beheben ziehe ich meine weiße Hose aus und „wasche“ sie im Wasser des Baches. Weiß wird sie leider nicht mehr, sie hat ein gleichmäßiges rosa angenommen. Von der Sonne getrocknet, ziehe ich sie später dann an und wir schleichen uns nach Hause. Mein Zustand ist nicht zu übersehen und mein Vater hat mir dann leichte Senge verabreicht. Nicht weil die Hose versaut ist, sondern, weil "ich" geklaut habe.
Zu dieser Zeit wohnen wir als Mieter im Haus einer wohlhabenden Familie. Ich erkenne eines Tages, dass die schon etwas ältere Ehefrau ihren Wohnungsschlüssel immer unter die Fußmatte legt. Als sie eines Tages einmal weg geht, nehme ich den Schlüssel und gehe in die Wohnung. Ich sehe mich überall um, schaue auch in der Wohnzimmerschublade nach und sehe dort eine Geldbörse liegen, blicke in sie hinein, nehme einen 10-Mark-Schein heraus, und stecke ihn ein. Wieso ich das getan habe, ich wusste es damals nicht und habe auch bis heute keine Erklärung dafür.
Solche Dinge leiste ich mir ab und zu und - irgendwie haben es meine Eltern immer herausbekommen. Es kommt dann auch, wie es kommen muss - ja fast vorauszusehen ist: Es ist nicht leicht mich unter Kontrolle zu halten und meine Eltern haben Schwierigkeiten, mich ordnungsgemäß zu erziehen.
 
Erziehung
 
Bevor ich noch mehr „anstellen“ kann bzw. bevor die Jugendbehörde auf mich aufmerksam wird, bringen mich meine Eltern in einem evangelischen Heim für Jungen unter.
 
Man kann es auch deutlicher sagen, es ist schon ein Heim für „schwer erziehbare Kinder“. Ich stehe dazu, weil es ein Teil meiner Vergangenheit ist und zu meinem „Erwachsenwerden“ gehört.
 
Das Heim ist in der Nähe von Ludwigsburg und liegt zentral auf einer leichten Anhöhe. Es wird von evangelischen Brüdern (Diakonen) geleitet und wir sind in kleinere Gruppen aufgeteilt. Schulunterricht wird in einer eigenen Schule durchgeführt, ich bin gerade in der 6. Klasse. Nach dem Unterricht müssen wir alle – ich glaube wohl überwiegend aus therapeutischen Gründen – arbeiten. Die gesamte Anstalt ist autark und kann sich fast selbst versorgen. Es wird Landwirtschaft betrieben und auf dem Gelände gibt es auch eine Bäckerei.
Ich habe mich für die Bäckerei entschieden und arbeite nach dem Schulunterricht dort, und das mache ich sogar gerne. Heimweh kommt zunächst nicht auf, weil alles noch „Neuland“ für mich ist und ich mich erst einmal richtig einfinden muss. Das richtige Heimweh und die ersten Tränen kommen erst später und wenn, dann immer nur nachts.
Schulisch gesehen, bin ich recht gut, ich bin mit meinen Leistungen immer im vorderen Drittel der Klasse. Meine speziellen Stärken sind die Fächer Rechtschreiben/Aufsatz/Diktat und Lesen. Besonders gerne lerne ich Gedichte auswendig und zu rezitieren.Ich habe die Begabung, ein Gedicht nur wenige Male durchzulesen und kann es dann auswendig.
 
Hier, in dieser Anstalt, findet auch meine sexuelle Aufklärung statt. Von zu Hause habe ich diesbezüglich nichts mitbekommen. Wir Jungen sind in modernen, offenen Räumen untergebracht. Es sind keine sterilen kleinen Zimmer. Man kann also oft sehen, was der eine oder andere so treibt. Es ist natürlich klar, dass es bei solch einer Horde auch Rudelbildungen gibt. Deshalb gibt es auch einen Rudelführer.
Der legt sich eines samstags auf sein Bett und einer der Jungen zieht ihm Hose und Slip herunter, manipuliert den Penis vom „Boss“ und onaniert diesen bis zum „Samenerguss“. Das ist meine Art der direkten Aufklärung.
Ich halte mich von dieser Gruppe fern und das war auch gut so.
Hier, in dieser fremden Umgebung, findet mein Leben einen anderen Sinn. Einen Sinn, der mir aufzeigt, was ich bisher alles verkehrt gemacht habe bzw. was in meinem Leben aus dem Ruder lief. In dieser Anstalt werden meine Schwächen gestärkt und meine Stärken stabilisiert.
Ich habe nach kurzer Zeit schon einen so starken Charakter entwickelt und ein stabiles Selbstbewusstsein erlangt, dass ich im Heim erkenne, dass es für mich nur zwei Wege im Leben gibt.
Entweder nach unten oder nach oben.
Ich entscheide mich für den Weg nach oben, seitdem gibt es für mich kein „Rechts“ oder „Links“ mehr sondern es heißt immer nur: Geradeaus!
Deshalb, weil ich für mich so alleine war, habe ich manche Tränen in meinem Kopfkissen verdrückt und mancher Schluchzer verlässt nachts leise und heimlich meine Kehle.
 
Sehr lehrreich ist auch ein Weihnachtsfest, welches ich im Heim erlebt habe.
Ludwigsburg ist damals eine große Garnisonstadt der US-Armee. Sehr viele Soldaten wohnen mit ihren Familien in Deutschland. Zu Weihnachten holen sie alle Kinder aus dem Heim und nehmen sie für einen Tage in ihre Familien auf. Da alle deutsch sprechen, gibt es keine Kommunikationsprobleme und man kommt sich schnell näher. Mit Kindern der Soldaten wird gespielt und zum Abschluss des Tages fahren wir alle gemeinsam zu einer großen Sporthalle.
Diese ist wunderschön weihnachtlich, im amerikanischen Stil geschmückt und mit Tischen und Stühlen versehen. Jede Familie hatt ihren Tisch auf dem sich Geschenke befinden, für alle, auch speziell für uns Heimkinder! Es gibt jede Menge Kakao und Kuchen; Spekulatius und Stollen; Marzipan und Nüsse, alles was unser Herz begehrt ist im Überfluss vorhanden.
Manches Kinderherz fragt sich damals: „Warum ist nur einmal im Jahr Weihnachten?“
 
Morgendämmerung
 
Diese Zeit im Heim ist für mich die „folgenschwerste“, aber auch "erkenntnisreichste“ in meinem Leben. Hier stelle ich selbst die Weichen für meine weitere Zukunft.
Einerseits fühle ich mich wohl, weil ich meine Zielrichtung erkannt und eingeschlagen habe, andrerseits will ich auch weg.
 
Abschließend muss ich anfügen, dass Insider wissen, von welchem Heim ich geschrieben habe. Ich möchte nicht, dass es zu irgendwelchen Spekulationen oder Missverständnissen  kommt. Es wurde dort während meines Aufenthaltes kein Zwang oder Druck auf uns ausgeübt, es ging gerecht und sachlich zu. Sexuelle Annäherungen bzw. Übergriffe seitens der Führung oder des Personals sind mir nie bekannt geworden. Mir selbst ist nie etwas Auffälliges diesbezüglich zu Ohren gekommen.
Die von mir oben geschilderten sexuellen Handlungen haben ohne Kenntnis der Betreuer stattgefunden, es war von uns immer ein „Späher“ aufgestellt. Die sexuellen Handlungen einiger Jungs empfand ich nie als abartig oder pervers . Im Rahmen meiner sexuellen Entwicklung und der einsetzenden Pubertät sah ich sie als durchaus normal an.
 
 
So ergibt es sich, dass mein Onkel (Bruder meiner Mutter) mich im Heim besucht. Er erzählt, dass er eine große Pension mit Fremdenzimmern, Gastwirtschaft, Saal, Bäckerei und Laden im Schwarzwald betreibt. Er ködert mich quasi mit eigenem Zimmer, jeden Tag duschen oder baden, wenn ich zu ihm kommen würde. Zwei Punkte sprachen dafür, dass ich auf das Angebot eingehe:
Ich habe Spaß an der Bäckerei und ich will raus aus dem Heim.  
 
Verwandtschaft
 
Alle Formalitäten werden erledigt und mit dem Segen meiner Eltern ziehe ich dann zu meinem Onkel in den Schwarzwald, in die Nähe von Nagold.
Tatsächlich bekomme ich dort mein eigenes Zimmer, werde dort in die 7 Klasse umgeschult. Es ist eine gemischte Klasse und die Schule macht mir viel Spaß, ich habe schnell Freund/e/innen gewonnen. Wir spielen in der Freizeit Theater und traten in der Gaststätte „Zum grünen Baum“ mit einem Stück unserer Gruppe auf, in dem ich eine größere Rolle spielen darf.
Einige Wochen sind vergangen, als der Ernst des Lebens für mich beginnt:
Ich sollte  nun sehr schnell lernen und erkennen, was es heißt, innerhalb der eigenen Verwandtschaft zu arbeiten.
Im Betrieb meines Onkels ist damals auch seine Mutter, also meine Oma beschäftigt, welche den kleinen Laden betreibt und die Küchenhoheit hat. Dann ist eine meiner Tanten da, welche auch im Laden arbeitet und die Zimmer der Pension betreut. Außerdem noch meine Cousine Susi, die aber nur für den Schankbetrieb zuständig ist.
Und natürlich bin ich ja auch noch da! Ich bin anfangs nicht so wichtig im Betrieb, aber ich werde bald unentbehrlich. Wenn mein Schulunterricht beendet ist, gibt es Mittagessen, danach Schularbeiten unter Kontrolle meiner Tante. Anschließend ab in die Backstube. Richard putzt die Bleche, Richard macht sauber, Richard wischt den Boden, Richard macht einfach alles - weil er es machen muss......
 
Und das für ein sagenhaftes Gehalt. Im ersten Lehrjahr bekomme ich zwanzig Mark (5 Mark die Woche) im Monat ausbezahlt.  Von diesem Geld kaufte ich mein erstes Radio, den:

Nordmende Transita (LW, MW, UKW)

Es ist einer der ersten Transistorempfänger der damaligen Zeit. Das Gerät kostet ca. 240 Mark und wird von mir mit monatlich 10 Mark abgestottert. Allerdings mussten meine Eltern den Kaufvertrag vorher unterschreiben, da ich noch minderjährig war.
Mit dem Gerät geht es Abends auf die Straßen zum Jugend- und Musiktreff. Es ist immer der gleiche Sender eingestellt – Mittelwelle Radio Luxemburg. Häufig ist der Empfang gestört, dann wird das Gerät so lange gedreht, bis die eingebaute Ferritantenne den besten Empfang hat.  Ich bin immer happy, wenn Camillo Felgen das deutsche Programm moderiert. Man hat die „3 fröhlichen Wellen von Radio Luxemburg“ fast heute noch im Ohr.
 
Kinderarbeit
 
Jeden Abend, setze ich Sauerteig für den anderen Tag an. Ich muss vieles machen, kann dadurch auch alles recht schnell, und es dauert nicht lange und ich arbeitet bereits in der Backstube selbstständig mit.
Im Tiefkeller muss ich volle bzw. leere Bierfässer 30 Steinstufen rauf und runter transportieren. Außerdem muss ich im Keller Weißkohl stampfen. Das geht so:
Der Weißkohl wird geschnitten und in einem großen Fass gelagert. Immer eine Schicht Kohl, dann salzen und so weiter bis das Fass voll ist. Dann muss ich Socken anziehen und den Kohl in dem Fass stampfen, indem ich wie bekloppt darauf herum trampele. Irgendwann ist der Kohl dann kein Kraut mehr, sondern heißt dann Sauerkraut.
Vom Sauerkraut ist es auch nicht weit zur „Schlachtplatte“.
Auf dem Hinterhof, der Pension, einem Wirtschaftsgebäude, befindet sich ein kleiner Schweinestall. Es ist nachvollziehbar, dass bei uns im Betrieb jede Menge Abfall angefallen ist.
Da die Pensionsgäste in Vollverpflegung sind, kommen reichlich Essensrest von der Küche, dazu die Abfälle aus Bäckerei und Konditorei. Die Schweine, die wir haben, werden gut und reichlich versorgt, dazu noch das Tropfbier vom Ausschank, was die Schwein ruhig schlafen lässt.
 
Alkoholisches
 
In der großen Garage des Betriebes stehen zwei riesige Holzfässer. In denen wird im Herbst immer Obst (Maische) eingelagert, damit es gären kann. Es ist die Vorbereitung auf den Brennprozess, da mein Onkel eine eigene Brennerei in der Waschküche hat. In ein Fass kommen nur Zwetschgen und in das andere Fass werden alle möglichen Obstsorten (überwiegend Äpfel und Birnen und Fallobst) gekippt, nachdem sie mit der elektrischen „Obstmühle“ zerkleinert werden. Danach werden die Fässer abgedeckt, lediglich eine kleine Stelle bleibt zum „Ablüften“ auf. Es findet eine sogenannte Obstmaische statt, das heißt, der Fruchtzucker wird durch „wilde Hefen“ in Alkohol umgewandelt.
Ungefähr 14 Tagen später muss ich eine Badehose anziehen und in die jeweils abgedeckten Fässer klettern. Mein Onkel passte auf, dass mir nichts passiert.
Ich muss mich immer am Rand festhalten und kreuz und quer durch die Fässer gehen, wobei mir die Maische bis an den Hals reicht. Nachdem ich alles richtig „durchmengt“ habe, kann ich aussteigen und mich duschen. Es kommt mir vor, als hätte ich jede Menge Alkohol in und nicht – an mir.
Nach vier Wochen ist die Maische zum Brenngut geworden und soll destilliert (gebrannt) werden. Mein Onkel meldet den Vorgang bei der zuständigen Steuerbehörde an, da der Staat das Brennmonopol besitzt. Es wird ein Termin gemacht zu dem dann ein Zollbeamter erscheint, der zuerst die Plombierung der Brennanlage entfernt.
Danach wird alles auf das sorgfältigste von außen und innen gereinigt und das Feuer unter der Brennblase angezündet. Da wir immer mit den Zwetschgen anfangen haben, wird  die Zwetschgenmaische in die Brennblase gefüllt.
Das Feuer heizt nun die Maische in der Brennblase auf und es kommt zum Verdampfen des Alkohols. Dieser steigt auf und kondensiert in einem wassergekühlten System und läuft langsam in die dafür vorgesehen großen Glasbehälter – genau kontrolliert und beobachtet von dem Zollbeamten.
Kontinuierlich wird die Maische nachgefüllt und der Brennvorgang wird so immer im wahrsten Sinne des Wortes am „Laufen“ gehalten.
Mit einem Aräometer (auch Senkwaage, Senkspindel, Dichtespindel oder Hydrometer genannt) wird der Alkoholgehalt festgestellt. Das Gerät wird in die Flüssigkeit gestellt und man kann an der oben befindlichen Skala ablesen, wie hochprozentig das Destillat ist. Ist es zu hoch, was anfangs immer der Fall ist, wird es mit Wasser bis zur gewünschten Trinkstärke "verdünnt". Unsere Edelbrände werden später noch einmal gebrannt. Nachdem alles gebrannt ist, was fast eine Woche dauert, gibt es ein Protokoll vom Zollbeamten, danach wird die Anlage, nach der Reinigung wieder bis zum nächsten Mal verplombt.
Die Destillationsrückstände, die sogenannte Schlempe wird  im Laufe der Zeit an die Schweine verfüttert.
Die Zeit bei meinem Onkel bringt mir schon etwas, da ich überall mit ran muss und überall eingesetzt werde, es nimmt aber teilweise auch Dimensionen an, die nicht mehr gerechtfertigt sind.
Schließlich gehe ich noch zur Schule und bin gerade 14 Jahre alt. Die Schule, es ist eine Christliche Gemeinschaftsschule, habe ich mit Erfolg verlassen und beginne dann 1958 die Lehre als Bäcker/Konditor bei meinem Onkel.
 
Lehrzeit
 
 
Morgens um vier Uhr musste ich aufstehen. Dann ab in die Backstube, den Ofen hochheizen. Es handelte sich um einen älteren Ofen der Firma Pfleiderer, der mit zwei Etagen versehen ist. Die untere Fläche ist immer die heiße und die obere die kältere.
Wenn Jugendkontrollen der Behörden kommen, können diese nicht einfach in den Betrieb gelangen, sondern müssen klopfen oder klingeln. In die Backstube kann man nicht hineinsehen, da sie Milchglasfenster hat.
Wenn es dann  klingelt oder klopft, muss ich verschwinden, und mich auf dem Anbau des Backofens verstecken, damit ich nicht erwischt werde. Nach dem damaligen Jugendschutzgesetz darf ich erst um sechs Uhr mit meiner Arbeit beginnen.
Sind die ersten Backwaren fertig, muss ich das Betriebsfahrrad nehmen und Ware zum Verkauf bringen. Das Rad hat vorne eine Ladefläche, in die ein Korb mit Back- und Süßwaren gestellt werden kann. Im Korb eine Blechschachtel mit Wechselgeld und dann alles mit einer Plastikplane abgedeckt.
So fahre ich denn sommers wie winters in meiner Bäckerkluft los und verkaufe in zwei Betrieben während der dortigen Pause meine Backwaren. Wenn der Betrag, den ich zurückbringe nicht stimmt, muss ich den Rest aus eigener Tasche zahlen. So ist mein Onkel.
Einmal war es so glatt, dass ich mit meinem Vehikel ins rutschen komme und stürze. Die Plane reißt vom Korb und Gebäck und Wechselgeld liegen verstreut um mich herum. Ich klaube alles schnell auf und werfe es unbesehen in den Korb. Allerdings stimmte mein Wechselgeld nicht da ich nicht alles wieder gefunden habe.  Am Ende der Tour berichtete ich den Vorfall meinem Onkel und bekomme zur Belohnung eine Woche lang keinen Lohn. Außerdem wird mir das fehlende Wechselgel abgezogen.
 
Ruhestörung
 
 
Liege ich abends bzw. nachts schlafend im Bett, kommt häufig mein Onkel und weckt mich. Dann muss ich in den Keller gehen und ein Fass Bier anstechen.
Das Bier befindet sich  in großen und schweren Eichenfässern. Diese müssen 40 steile Steinstufen hinab in den Tiefkeller gewuchtet werden.
Dann, die Zapfanlage aus dem alten Fass entfernen, auf das neue Fass schrauben und in Betrieb nehmen. Danach muss das alte Fass nach oben genommen und gestapelt werden. Anschließend kann ich wieder in mein Bett gehen. So sehr nimmt mein Onkel auf meine Jugend Rücksicht.
 
Berufsschule
 
Einmal die Woche muss ich zur Berufsschule nach Nagold. Das ist zehn Kilometer von uns entfernt und ich darf nicht mit dem Bus fahren, sondern muss das Fahrrad nehmen. Vorher musste ich aber auch noch in der Backstube  arbeiten.
Berufsschule ist immer schön, da wir Bäcker in der Klasse – Nahrungsmittelgewerbe - zusammengefasst sind. Also befinden sich Bäcker, Konditoren, Schlachter, Bierbrauer und Köche in einer gemeinsamen Klasse. Jeder von uns bringt etwas zum Essen bzw. Trinken mit. So kann man sagen, es ist schon recht opulent – teilweise.
Komme ich nach Hause, habe ich aber noch keinen Feierabend. Ich darf die Schwarzbleche noch säubern und anschließend die Backstube fegen und wischen.
 
Trinkgelder
 
Ein Auto hat mein Onkel nie besessen, dazu war er viel zu geizig.
Mit meinem gewaltigen Betriebsfahrrad muss ich auch Koffer und ähnliche Gepäckstücke unserer Kurgäste abholen. Diese reisen fast immer mit Bussen an und werden auf dem Marktplatz ausgeladen. Dann laden sie ihr Gepäck auf meinen Drahtesel und ich darf alles zur Pension schieben, da ich mit diesen Lasten nicht fahren kann. Teilweise muss ich 5-6-mal fahren, um das gesamte Gepäck in die Pension zu befördern.
Häufig lohnt es sich aber, da ich auch Trinkgelder dafür bekomme. Irgendwie ergab es sich, dass mein Onkel mich einmal fragte ob ich Trinkgelder bekommen habe. Ich bejahte dies und musste es ihm aushändigen. Er steckte es einfach ein und es war für mich weg.
In Zukunft log ich meinen Onkel an, wo ich nur konnte und hatte nie mehr Trinkgelder bekommen, aber er kam mir auf die Schliche. Er nimmt mich dann auf mein Zimmer, ich muss mich ausziehen bis auf die Unterhose und - in meinen Strümpfen findet er mein Trinkgeld. Er nimmt es mir ab und gibt mir dazu noch eine ordentliche Ohrfeige!
Dann komme ich auf den Dreh, das Geld zwischen meine "Hinterbacken" zu stecken. Aber auch dort hat er nachgesehen und es an sich genommen. Frustriert fange ich wegen dieser unwürdigen Behandlung an zu weinen. Statt Trost bekomme ich jede Menge Strafarbeiten aufgebrummt.
 
Ohne die Liebe meiner Oma, wäre ich garantiert damals abgehauen.
Meine Oma nimmt mich ab und zu in den Arm und steckt mir ab und zu auch mal Kleinigkeiten zu.
 
Selbstbedienung
 
Ich werde also ausgenutzt und bekomme als damaliges Lehrgeld lediglich 20 Mark im Monat. Vielmehr habe ich auch wirklich nicht, da mir ja die Trinkgelder regelmäßig abgenommen werden.
Folglich sehe ich mich nach einer Einnahmequelle um. Mal nehme ich illegal ein paar Brötchen oder Kuchenstücke mit und verkaufe diese „schwarz“, was aber sehr riskant war. Einmal kann ich mich raus reden, als ich erwischt werde.
Ein anderes Mal bediene ich mich aus der Ladenkasse. Es handelt sich um eine Schubladenkasse, welche man durch drücken einer Tastenkombination öffnen kann. An der Unterseite vorn sind 5 Knöpfe angebracht und man musste drei davon gleichzeitig drücken, um die Kasse zu öffnen. Es müssen aber die richtigen drei Knöpfe sein, denn drückt man die verkehrten herrscht Alarm – es klingelt die Alarmklingel.
Da ich auch den Ladenraum fegen und wischen muss, komme ich zwangsläufig an die Kasse. Meine Oma sitzt dann immer nebenan um die Ecke im kleinen Gastraum. So habe ich bewusst die Kombination erforscht, bis ich die richtige erwischt habe. Für die Fehlalarme gab ich meiner Oma an, ich sei beim Feudeln mit dem Kopf an die Kasse gekommen. Sie öffnet dann die Kasse kurz um den Alarm zu beenden. Auch hierbei habe ich grob gesehen, wo sie ungefähr gedrückt hat.  
Als ich dann alleine war habe ich die Kasse geöffnet und immer dort Münzgeld entnommen, wo am meisten Münzen in den Fächern liegen. Nie, aber auch nie hat einer etwas von meinen kleinen Diebstählen bemerkt. Ich hatte damals keine Schuldgefühle oder irgendwelche Gewissensbisse wegen meines Verhaltens.
Ich arbeite, zu einem lachhaften Tarif, muss viel mehr arbeiten als ich darf oder will und werde ausgenutzt. Irgendwie finde ich mein Verhalten schon gerechtfertigt.
 
Erste Liebe
Hier, bei meinem Onkel habe ich dann auch den ersten Kontakt zum anderen Geschlecht, den hübschen Mädchen. Eine Freundin habe ich bis dahin noch nie gehabt. Wer will schon mit einem Jungen ausgehen der abends früh ins Bett gehen muss, weil er nachts wieder zum Arbeiten aufstehen muss?
Es handelt sich um eine hübsche kleine Krabbe aus Tailfingen. Sie ist nicht so groß, fast so groß wie ich und sie ist, wie sie mir später sagte, zarte 17 Jahre alt.
Ich lerne sie kennen, als ich das Gepäck der Familie vom Bus abhole und in die Pension bringe. Zu dieser Zeit sind die Petticoats bei den jungen Mädchen absolut in. Fast alle jungen Mädchen und Frauen tragen sie in allen möglichen Farben.
Bei uns Jungs heißen die Petticoats:  7 Lagen Stoff bis zum Ziel!
Es ist Sommer und ich darf mit dem Mädchen – nennen wir sie mal Marina – öfters mal ausgehen. Dann gehen wir, wenn es keiner sieht verstohlen Hand in Hand spazieren und - küssen uns heimlich und oft.
Hoch über dem Ort sitzen wir auf einer Bank im warmen Sonnenlicht. Marina sitzt neben mir und ich lege mich auf die Bank, meinen Kopf in ihren Schoß. Wir streicheln und necken uns, als würden wir uns schon lange kennen. Auch viele Küsse werden ausgetauscht.
Marina fragt immer wieder, ob ich noch etwas von ihr wolle. Zunächst kann ich damit nichts anfangen und somit auch nicht reagieren. Als ich endlich begreife, was Marina meint, war sie bereits wieder mit ihren Eltern abgefahren. Ich bin um einige Erfahrungen reicher, aber auch um eine Enttäuschung, weil es mir schon leid getan hat, dass Marina und ich nicht …..
 
Altensteiger Weihnachtsfackeln
 
In dieser, meiner damaligen Gemeinde, gibt es noch etwas ganz besonderes, was ich hier schildern möchte. Einmal im Jahr, zu Weihnachten, gibt es ein großes „Fackelfeuer“. Der Brauch geht fast bis ins Mittelalter zurück und es ist ein Brauch, der heute noch gepflegt wird.
Bei diesem Fackelfeuer bzw. genauer gesagt dem „Altensteiger Weihnachtsfackeln“ geht es um einen historischen alten Brauch, welcher auf die heidnischen Kelten zurückgeht und, nimmt überwiegend Bezug auf die „Wintersonnwende“
Wir, die Jugend früher, haben dazu Holz gesammelt. Alles was brennt und nicht fest verankert ist, wird von uns gesammelt und zu großen Türmen aufgeschichtet. Da wir zwei verschiedene Gruppen sind, welche an unterschiedlichen Orten ihr Fackelfeuer abbrennen wollen, müssen wir unsere Stapel zum Schluss nachts bewachen, denn oft haben wir versucht uns gegenseitig das gesammelte Holz zu „klauen“. Eine Brennstelle befindet sich auf dem Hällesberg, die andere auf dem Schlossberg. Nach Ende des „Aufbaus“ haben die Holzstapel häufig die Höhe von 12 Metern erreicht oder gar überschritten.
Es ist schon imposant, wenn Tausende Menschen mit Fackeln zu den Brennplätzen pilgern. Einfach Jahr für Jahr sehens- und lohnenswert.
Auch heute noch, wenn um18:00 Uhr die Glocken den Heiligabend einläuten, beginnt die große Wanderung zu den beiden Brennplätzen. Seit der Neuzeit wird dieser Brauch von den Bläsern der Stadtkapelle begleitet. Während des Feuers schwenken die Menschen ihre mitgebrachten Fackeln und singen zum Knistern der Flammen Weihnachtslieder, die bis ins Tal dringen und in den angrenzenden Wäldern verhallen.
Erst wenn beide Fackelfeuer abgebrannt sind, gehen die Menschen zur festlichen Bescherung in ihre Wohnungen bergab.
Es ist fast immer ein kleiner Wettbewerb zwischen den Brennstätten Hällesberg und Schlossberg, wer den besseren Stapel hat. Entscheidend ist immer, welcher der beiden „Brenngiganten“ zuerst zusammenfällt, der hat nämlich verloren.
 
Schlachtplatte
 
Jetzt komme ich noch einmal darauf zurück, dass wir im Betrieb immer 2 Schweine gemästet haben. Ich hatte oben bereits kurz darauf hingewiesen.
 
Nicht weit von unserer Pension entfernt ist der Schlachthof und - unser Hausmädchen und ich müssen die Schweine immer zur Schlachtung bringen.
Das Hausmädchen, eine edle Jungfer älterer Bauart namens Maria, setzte sich einmal auf ein Schwein und will auf ihm über den Postplatz zum Schlachthof reiten. Dies klappt natürlich nicht, ein Schrei und Maria liegt auf dem Boden. Das Schwein will weglaufen, kann aber nicht, da ich es an einem Kälberstrick fest halte, der um das rechte Hinterbein des Tieres gebunden ist.
In der Nachbarschaft wird danach der Spruch öfters gehört: „Lass die Sau raus, Maria möchte in die Stadt reiten“.
Die Einzelteile der zerlegten Schweine können wir dann die nächsten Tage abholen. Wir wursten selbst und in der Pension gibt es für Pensionsgäste und in der Gastronomie die besonders beliebte „Hausmacher Schlachtplatte“.
Auf einer ovalen Servierplatte befindet sich frisches, selbst gemachtes Sauerkraut, ein Stück Kesselfleisch, garniert mit einer Blut- und Leberwurst.
Vorweg gibt es als Suppe die beliebte „Metzel- oder Wurstsuppe“ , welche aus der Wurstbrühe gekocht wird. Wer will, bekommt dazu Brot oder Salzkartoffeln gereicht.
 
Zwiebelkuchen
 
 
Später, zur Kaffeezeit gibt es dann einen einheimischen Zwiebelkuchen mit einem Schluck Wein oder einem Glas Bier serviert.
Da ich ja aus der Branche bin, kann ich ganz kurz einmal schreiben, was man benötigt und wie man diesen Zwiebelkuchen macht.
 
Man nehme:
Wir brauchen eine runde (meist schwarze) Form mit niedrigem, gewelltem Rand.
Diese fetten wir leicht ein.
Wir machen einen Hefeteig, jeder nach seinem eigenen Gusto und lassen diesen kurz ruhen. Danach rollen wir ihn mit dem Well- oder Nudelholz (wer keines hat, kann eine Flasche oder einen Rundstab nehmen) aus. Bitte recht dünn rollen, denn der Hefeteig geht noch auf.
Den ausgerollten Teig in die Form heben und schön gleichmäßig in die Vertiefungen und die gewellten Randregionen verteilen. Den überstehenden Teig mit einem Messerrücken abschneiden. Danach den Boden mit einer Gabel mehrfach gut stippen (kleine Löcher einstechen) um etwaige Luftblasen zu verhindern.
Ungefähr 500 Gramm Zwiebeln schälen und in kleine Würfel schneiden. Danach die Zwiebeln mit ca. 50 Gramm Butter in einem Topf oder einer Pfanne dünsten, bis sie glasig sind.
Achtung, es soll nicht braun werden oder anbrennen.
Dann kommt 1 Esslöffel Mehl hinein und wird mit der Masse verrührt. Alles etwas erkalten lassen.
 
100 ml süße Sahne mit 2 Eiern verquirlen, mit den gedünsteten Zwiebeln vorsichtig vermengen und mit ganz wenig geriebener Muskatnuss, 1 Messerspitze schwarzem Pfeffer und etwas Salz abschmecken. Es darf ruhig ein wenig deftig sein.
Die Masse kommt nun auf den inzwischen „reifen“ (gegarten) Hefeteig und wird dort gleichmäßig verteilt.
Je nach Geschmack kann man zum Schluss noch etwas Kümmel und/oder klein gewürfelte geräucherte Schinkenstücke auf der Oberfläche verteilen.
Jetzt noch einige Butterflöckchen darauf und ab in den Ofen.
Im vorgeheizten Ofen bei 200 Grad in mittlerer Höhe ca. 45 Minuten backen.
 
Most
 
In Baden-Württemberg kann man dazu einen wunderbaren Most genießen!
 
Da ich das Glück habe, gesehen zu haben wie der Most hergestellt wird, kann ich es auch noch zum Besten geben. Einfach deshalb, weil ee so gut zum Zwiebelkuchen passt und man den Most unter Umständen auch selbst machen kann.
Most oder Apfelmost, saurer Most oder Viez ist im Prinzip ein Fruchtwein, der aus Äpfeln gekeltert wird. Zunächst wird der einfache Apfelsaft gewonnen, den man als Natur (trübe) oder gefiltert klar trinken kann.
Dazu haben in Baden-Württemberg noch viele Familien eine „Apfelpresse“ stehen, in der die gewaschenen Äpfel gepresst werden. Die Mittelspindel wird durch langsames kontinuierliches Drehen nach unten gebracht und der Inhalt der Presse wird zusammengedrückt. Über eingelegte Zwischenböden und Tücher läuft der Saft im unteren Bereich der Presse zusammen und wird in einem Gefäß aufgefangen.
Der aufgefangene Saft wird dann in Fässer abgefüllt, die meist aus Eiche sind. Nach Reinigung der Fässer werden diese mittels eines Schwefelstreifens ausgeschwefelt.
Die nun einsetzende Gärung kann man durch die sogenannten „Lufthefen“ erreichen, die den Saft ohne weitere Zutaten vergären. Meist aber wird, wegen der besseren Qualität und Gleichmäßigkeit, Hefe zusätzlich benutzt.
Durch diesen Vorgang beginnt der ehemalige „Apfelsaft“ zu gären, d.h. die Hefebakterien spalten den Zucker auf wodurch u.a. Alkohol entsteht, der gut und gerne mal 5 -7 % beim fertigen Most haben kann.
Das Fass wird nach Füllung mit einem Tuch und einem Spund verschlossen. In dem Spund ist ein rundes Loch, in dem sich ein kleines rundes Loch befindet. Darin steckt dann das sogenannte Gärröhrchen, über das die nicht benötigten und jetzt überflüssigen Gase verflüchtigen können.
Nach Beendigung des Gärvorganges ist der „Most“ dann noch jahrelang halt- und genießbar.
Jedoch, je älter er wird desto „härter“ wird er auch - also erst süßlich, dann herb und immer herber. Man kann ihn dann auch noch sehr gut mit Brause oder Selters mischen, ein sehr gutes und auch gesundes Naturgetränk.
Manch einer hat schon ein ordentliches „Räuschle“ nach diversen „Viertele Most“ verspürt!
 
 
Jetzt bin ich so sehr ins „Alltägliche“ abgeglitten, dass es mir schwerfällt, einen Übergang zur Fortsetzung meiner Geschichte zu finden.
Zuletzt waren wir ja bei der Schlachtplatte und Most, die ein großes Geschäft ist und sichere Einnahmen für meinen Onkel sind.
 
Handfeste Streitigkeiten
 
Es ziehen langsam dunkle Wolken auf und die Stimmung zwischen uns beginnt zu leiden.
Dann erkenne ich eines Tage, dass mein Onkel mit meiner Cousine Britta schläft, die selbst noch nicht erwachsen ist. Wie Britta mir erzählt  nutzt er einfach ihre Abhängigkeit aus indem sie im Zimmer neben ihm wohnen muss – ohne Zwischentür!
Da mein Herr Onkel auch mir gegenüber nicht gerecht, geschweige denn sozial ist, kommt es immer häufiger zu Streitigkeiten in deren Verlauf ich immer den Kürzeren ziehe.
Eines Tage kommt es mal wieder zu einer verbalen Auseinandersetzung und mein Onkel nimmt eine Hartholzlatte mit der wir normalerweise Teigstücke schneiden in die Hand.  Damit drischt er auf mich ein – grundlos.
Da habe ich genug, ich fange an mich zu wehren, da ich auch reichlich Angst habe, dass seine Schläge mich erheblich verletzen würden..
Ich schlage einfach zurück, ehrlich, nur einmal – auf sein rechtes Auge. Und ich treffe - und möchte bemerken, durch das Schleppen der vielen schweren Mehlsäcke hat meine Faust schon was zu bieten.
Er läuft danach tagelang mit einem wunderschönen „Veilchen“ umher und muss diverse und auch ordinäre Anspielungen über sich ergehen lassen. Den Stammgästen der Pension erzählt er, dass er gegen einen Küchenschrank gelaufen sei.
Ungefähr 4 Tage nach dem Vorfall droht er mir erneut Schläge an und hebt die Hand. Ich sage ihm, dass ich ihm dann das andere Auge auch blau hauen würde, worauf er sich zurückzieht..
Ich telefoniere mit meinen Eltern und teile ihnen die ganzen Verhältnisse mit. Mein Vater setzt sich mit der zuständigen Handwerkskammer und Verbindung und mein Lehrvertrag wird sofort aufgelöst. Für ein paar Tage komme ich bei Bekannten unter und fahre dann nach Hause, zu meinen Eltern nach Öhringen.
Später erfahre ich dann später, dass meinem Onkel seitens der Handwerkskammer die Ausbildung von Lehrlingen verboten wird. Auch muss er die wunderschöne Pension aufgeben.
 
Erkenntnisse
 
Cousine Britta ging weg von ihm und ist sehr jung an einer Krankheit verstorben.
Mein Onkel wurde auch nicht sehr alt, auch er starb an einer Krankheit.
 
Schlussendlich stellt sich heraus, dass er für keinen seiner bei ihm arbeitenden Angehörigen in die Rentenversicherung einbezahlt hatte.
Damals schwor ich mir, sollte ich je einmal eigene Kinder haben dürfen, keines, aber auch keines jemals in einem Betrieb der „Verwandtschaft“ lernen bzw. arbeiten darf!
 
 
 
Nachträglich betrachtet muss ich heute sagen, dass ich manche Nacht Tränen vergossen habe und Heimweh hatte. Einige Male hatte ich erwogen, einfach aus der "Herrschaft" meines Onkels auszubrechen, um nach Hause zu flüchten. Aber, meine Vernunft hatte gesiegt und mich dadurch zu dem gemacht, was ich heute bin.
Ich wurde in sehr jungen Jahren "erwachsen" und selbstständig, stand dadurch immer mit beiden Beinen fest auf dem Boden und im Leben. Es war eine sehr prägende Zeit, die leider nicht immer "Kind- bzw. Jugendgerecht" war.
Trotz meiner zum Teil „unausgegorenen Jugend“, meinen Verfehlungen habe ich den „Pfad der Tugend“ eingeschlagen. Meine Erlebnisse als „Enkel“ haben dazu beigetragen, sie haben mich geformt und zum wesentlichen Teil zu dem gemacht was ich heute bin -
es gehört alles zu mir - es ist ein wichtiger Bestandteil meines Lebens…
 
 
©   by 30.06.2014
RICHARD von LENZANO
 
 

Vorheriger TitelNächster Titel
 

Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Richard von Lenzano).
Der Beitrag wurde von Richard von Lenzano auf e-Stories.de eingesendet.
Die Betreiber von e-Stories.de übernehmen keine Haftung für den Beitrag oder vom Autoren verlinkte Inhalte.
Veröffentlicht auf e-Stories.de am 30.06.2014. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

Der Autor:

  Richard von Lenzano als Lieblingsautor markieren

Bücher unserer Autoren:

cover

Gedanken zum Advent von Eveline Dächer



Als Fortsetzung zu meinem : MEIN WEIHNACHTEN habe ich die Trilogie vollendet
Gedanken um diese stille gnadenreichenreiche Zeit

Möchtest Du Dein eigenes Buch hier vorstellen?
Weitere Infos!

Leserkommentare (1)

Alle Kommentare anzeigen

Deine Meinung:

Deine Meinung ist uns und den Autoren wichtig!
Diese sollte jedoch sachlich sein und nicht die Autoren persönlich beleidigen. Wir behalten uns das Recht vor diese Einträge zu löschen!

Dein Kommentar erscheint öffentlich auf der Homepage - Für private Kommentare sende eine Mail an den Autoren!

Navigation

Vorheriger Titel Nächster Titel

Beschwerde an die Redaktion

Autor: Änderungen kannst Du im Mitgliedsbereich vornehmen!

Mehr aus der Kategorie "Autobiografisches" (Kurzgeschichten)

Weitere Beiträge von Richard von Lenzano

Hat Dir dieser Beitrag gefallen?
Dann schau Dir doch mal diese Vorschläge an:

Die Jahrhunderteiche von Richard von Lenzano (Gedanken)
Frankreich sollte ein neuer Anfang sein...5... von Rüdiger Nazar (Autobiografisches)
SIE und ER von Julia Russau (Alltag)

Diesen Beitrag empfehlen:

Mit eigenem Mail-Programm empfehlen