Marianne Kardinal

Liebesbriefe


Normalerweise schreibt man Liebesbriefe an jemand bestimmten. Man bekundet mit ihnen einer bewussten Person seine Sehnsucht nach ihr, sein Verlangen nach Zärtlichkeit, welches nur diejenige erfüllen kann und niemand sonst der restlichen Milliarden Personen, welche sich den Platz auf der Erde mal mehr, mal weniger friedlich teilen.
Wenn man so richtig verliebt ist, kribbelt es im Bauch und man will Tag und Nacht mit der Kribbelursache kuscheln und dieser alles erzählen. Man sehnt sich so nach dem Menschen, dass man vor lauter Liebe seinen Kopf ganz fest ins Kissen drückt und so tut als wäre das Kissen der Kopf des Begehrten.
Irgendwann war Melanie es leid ihren Kopf ganz fest in ein Kissen zu drücken und so zu tun als wäre es die momentane ungestillte Sehnsucht, mit der sie gerade in einer heftigen, verbotenen Küsserei auf dem Autorücksitz oder wo auch immer verwickelt war. Sie beschloss somit einfach anzufangen, sich diese Person zu erfinden. Zu diesem Zwecke besorgte sie sich  am nächsten Tag in Stefans Schreibwarenladen ein Tagebuch, ein ziemlich dickes, denn sie hatte ja dieser männlichen Erfindung so viel zu schreiben und zu erzählen mit ihren zarten 16 Jahren, dass ein Buch mit Sicherheit in nur einem Monat voll war. 
Mit der gelben, baumelnden Plastiktüte in der linken Hand, in der ihr noch ruhender Schatz darauf wartete entdeckt zu werden, schlenderte sie guter Dinge nach Hause und versteckte das wunderbare Buch sodann sofort in der Schublade ihres Schreibtisches. Sie beschloss abends mit dem Schreiben anzufangen, tagsüber konnte sie mit ihren Sehnsüchten, welche sie so umher trieben ganz gut umgehen, wie sie meinte. Der imaginäre Angebetete hieß kurz aber gut „Jan“ mit Vornamen, war schon satte 18 Jahre und hatte wohl die wunderbarsten blauen Augen der Welt, von denen es sicher auch ein paar Milliarden gab, aber genau die waren es, welche so verträumt gucken konnten, und die ihr zartes Herz so in Wallung brachten. Sie konnte das Ende des Abendessens kaum abwarten, so sehr brannte sie darauf mit dem Schreiben anzufangen...
Endlich war es soweit. Das neue Buch lag mit der ersten aufgeschlagenen Seite vor  ihr, weiß wie Schnee, und noch völlig ohne Spuren. Sie begann zaghaft die erste Zeile;
 
Lieber Jan,
 
Du kennst mich vielleicht noch nicht, oder schon? Ich heiße Melanie Karmann und komme öfters zu Dir in den Buchladen, als es mein Taschengeld eigentlich erlaubt! Ich weiß, in der riesigen Buchhandlung geht man schon mal unter, aber ist Dir nicht aufgefallen, wie oft ich schon bei Dir war und mich ausgerechnet nach den Mathematikbüchern erkundigte? Ich meine mal niedlich bemerkt, da bin ich nicht gerade eine himmlische Leuchte, aber so nett wie Du einen da berätst würde ich glatt eine Eins vergeben. Ich bin 16 Jahre und besuche das Konrad Röntgen Gymnasium in der 10 Klasse. Meine Lieblingsfächer sind Musik, Deutsch und Sport. Als ich Dich das erste Mal gesehen habe, ging es mir gerade nicht so gut. Ich hatte eine Fünf in der Matheschulaufgabe, ja und deswegen hat Mama beschlossen, ich solle mir solche Nachhilfehefte kaufen. Da stand ich nun, ich armer Tor und mir ging es blöder als zuvor, denn ich kannte mich wohl in Literatur ein wenig aus aber Mathematik war mir so fremd wie es nur eben sein konnte. Du hast gerade noch eine andere Kundin bedient, die wohl ähnliche Probleme hatte nur ein paar Klassen drunter und dann kam ich an die Reihe. Schon Dein Geruch war so frisch und schön, dass ich am liebsten den ganzen Tag nur neben Dir gestanden wäre und Dir irgendwie geholfen hätte. Und wenn ich nur die Tüte aufhalten hätte dürfen, in welche die Bücher verschwinden. Ich glaube einen schöneren Tütenaufhalter hättest Du wohl nicht finden können! Mama findet mich schön, ebenso meine Cousine. Ich bin ein wenig dünn, aber das ist ja besser als zu dick? Ich meine Dein Körperbau ist ja auch nicht so kräftig. Abends stelle ich mir oft vor, wie Dein Körper über dem meinen liegt und mich ganz innig küsst! Und das, obwohl ich noch so jung bin, ich hoffe das stört Dich nicht. Wir wollen nie miteinander streiten, gell? Ich meine, am besten wir küssen uns nur und schweigen!
Im Sommer will ich mit Dir dann  dem Zug quer durch Europa fahren, wir schlendern dann am Strand von Korsika lang und mieten uns dort einen Bungalow oder schlafen im Zelt. Abends essen wir in der Taverne und trinken ein Glas leckeren Rotwein.
 Wir würden uns dann im Zelt lieben und müßten dabei ganz leise sein, um die im Nachbarszelt nicht zu wecken. Aber genau darin liegt der Reiz, wenn man ganz leise sein muß und am liebsten vor lauter Glück schreien will. Es wäre noch ziemlich heiß und stickig, doch das störte mich nicht. Unsere verschwitzten Körper würden sich noch lange aneinander schmiegen und Dein frischer Geruch vermischt sich mit dem herben Geruch einer leidenschaftlichen Nacht unter Korsikas Sternenfirmament.
Kennst Du auch das Gefühl einer gewissen Traurigkeit, weil man immer allein ist. Ich glaube ganz persönlich, dass jeder Mensch irgendwo auf der Welt einen Menschen hat, der ganz genau zu einem passt, so wie ein Puzzleteil, wenn Du verstehst was ich meine. Und zusammen ergeben die beiden wieder ein grösseren Teil. Diesen Menschen zu finden, das ist das, wofür wir leben, denkst Du nicht auch? Ich meine zusammen ergeben alle Menschen dann das wunderbarste Bild, denn es würde ja alles passen und niemand hätte mehr Grund mit dem anderen zu streiten, es gäbe praktisch keinen Krieg mehr. Doch ich schweife ab, ich denke auch, dass es Zeit ist, schlafen zu gehen, ich bin schon zu müde. Schlaf schön Jan und bis bald....
 

Deine Melanie

 
“Du solltest Dich tatsächlich auch um einen Nachhilfelehrer in Mathematik umschauen!”, meinte Mutter am nächsten Tag beim Frühstück. Es war absolut nicht Melanies Zeit, um ausgerechnet mit Mama über Mathematikprobleme zu diskutieren. „In dem Phantasiebrief verliebe ich mich in einen Studenten der beim Buchladen Mathematik- und Wissenschaftsbücher verkauft“, dachte sie sich. „Vielleicht verliebe ich mich dann in echt in einen Nachhilfelehrer?“ „Melanie, ich rede  mit Dir“, beharrte Ihre Mutter. Sie kannte ihre verträumte Tochter nur allzu gut. „Ja, ehm, Du kannst ja mal schauen, vielleicht findest Du ja einen netten Lehrer für mich? Wenn Du meinst, dass der mich vor der Fünf im Zeugnis retten kann?“ entgegnete Melanie. „Ich denke, ich werde das tatsächlich für Dich in die Hand nehmen“, meinte Muttter. Melanie kannte den starken Willen ihrer sonst sehr lieben Mama, und machte sich mit einem eiligen Blick auf die Uhr daran, im Zimmer ihre Schulrucksack zu holen, um den Zug nicht zu verpassen.
Am nächsten Morgen war klar, dass ein gewisser Herr Beuer in den nächsten 48 Stunden bei Ihr, genauer gesagt übermorgen um 14 Uhr aufkreuzen würde und sich der verlorenen Liebesmühe hinzugeben, ihr die schöne Welt der Mathematik näher bringen zu wollen.
 
Lieber Jan,
 
Mama will, dass ich Nachhilfe nehme. Bei einem Johannes Beuer. Johannes heißt auf Tschechisch Jan, gell? Bestimmt wird er Dir nicht im Mindesten ähneln. Jan mein lieber, weißt Du, manchmal werden schon viele Erwartungen an mich heran getragen. Mama weiß gar nicht, wie mich Mathematik anödet. Gut, Du bist da vielleicht anders, Du bringst einem wahrscheinlich echt die Ästhetik dieses Faches näher, und schon alleine dafür würde ich Dich lieben. Ach  mein Jan, trete bitte niemals echt in mein Leben und verletze mich. Ich will immer lieben und nicht so enttäuscht werden, wie alle meine Freundinnen, mir reicht ein Bild von Dir …

 

Deine Melanie

 
 
„Hallo, ich heiße Johannes“, meinte dieser etwas zu groß geratene junge Mann, der bei Karmanns eben läutete. „Ah so, kommen Sie bitte herein. Meine Tochter wartet in ihrem Zimmer auf Sie.“ Melanie saß an ihrem Schreibtisch und sortierte eben die Mathematikübungsaufgaben, welche sie rechnen wollte und nicht kapierte. Johannes begrüßte sie etwas schüchtern und zugleich nervös und murmelte, „Sinus, Kosinus, Trigonometrie, ich glaube da kann ich Ihnen schon weiter helfen.“ „Sie können mich ruhig duzen“, meinte Melanie. Er begann ihr Schritt für Schritt alle Probleme, die im Unterricht so an ihr vorbei zogen, zu erklären. „Eine Eselsgeduld hat der, bestimmt ist der auch sehr musikalisch?“ dachte Melanie bei sich. „Ich glaube diese Namensverwandtschaft mit Jan ist Schicksal.“ Sie strahlte bei dem Gedanken ihren neuen Lehrer geradezu an, und war sehr bemüht, seinen ausführlichen Erklärungen zu folgen.

Über die Wochen hatte Melanie nun vergessen Jan zu schreiben, denn sie war drauf und dran, sich in Johannes ein wenig zu verlieben, trotzdem störte sie irgendwas an ihm, doch sie schob dieses Gefühl einfach beiseite. In der Schule konnte sie die Mathematiknote immer mehr verbessern. In der letzten Nachhilfestunde fragte Johannes sie, ob sie nicht Lust habe, sich mit ihm einmal so zu treffen. In der Eisdiele oder so. Melanies Herz begann, wie wild zu pochen. „Gerne“, schluckte sie als Antwort.

„Ich bin in der Eisdiele“, rief sie kurz vor 16:00 am Samstagnachmittag. Es war heiß und sie zog sich aus diesem Zweck ein kurzes Sommerkleid an, das ihre nette Figur noch sehr unterstrich.

„Hallo!“, rief sie beim Hereinkommen, denn Johannes saß schon am Tisch überpünktlich. „Bin ich zu spät?“ „Hallo“, meinte Johannes und noch ehe sie zum Sitzen kam, „na, was möchtest Du?“ Sie hatte noch gar nicht in die Karte schauen können, und empfand diese Undgeduld entschieden unangebracht. „Ich werde ab kommenden Wintersemester Mathematik studieren. In Bayern ist das zwar jetzt nicht so toll, denn die Bayern sind ja so  traditionsbehaftet und überhaupt ich glaube, wenn Du da mal als Frau studierst, dann hast Du da eh keine Chance, weil die alle so konservativ sind. Ich habe für sowas ein Gespür, ich bin nämlich hypersensibel und schon dem Verein „Zart besaitet“ bei getreten. In den Semesterferien fahre ich ins Himalaja zum Wandern und weil mich der Buddhismus interessiert. Da kommt man mit ganz wenig Geld über die Runden.“ Johannes redete wie ein Wasserfall. Melanie, sonst auch nicht auf den Mund gefallen, war sehr bemüht irgendwie ein Wort in dem Gespräch beizusteuern, doch ließ es dann nach mehrmaligen erfolglosen Versuchen bleiben. Sie löffelte ihre „Heiße Liebe“ und lauschte ihrer eingebildeten Liebe, deren Ähnlichkeit mit dem Tagebuch-Jan nur dem Namen nach bestand. „Hi“, unterbrach plötzlich jemand den Monolog. Es war Babsi, Melanies Schulfreundin. „Ah, hallo Babsi, das ist Johannes“, sie war froh, dass irgendwer diesen einseitigen Gesprächszustand unterbrach. Babsi hatte, wie üblich in der Freizeit, ihre Shorts an. „Setz Dich doch zu uns“, forderte Melanie auf, „Johannes, das stört Dich doch nicht, oder?“ Johannes starrte ein wenig schüchtern und kritisch auf Babsis Outfit und meinte „Nein, nein, klar.“ „Babsi will in das Kunstseminar nach den Sommerferien“, eröffnete Melanie ein neues Thema. „Mein Bruder ist auch Graphiker, ich habe ihn dazu gebracht. Sobald ich Werke von Dir gesehen habe, könnten wir gerne eine Ausstellung von Dir organisieren“, meinte Johannes gespielt souverän. Und schon waren Babsi Gefangener eines neu startenden Monologes, vom Kunstexperten Johannes. „Sein Großonkel väterlicherseits sei ein berühmter Künstler gewesen, und er sei obwohl schon Mathematiker als Hobbykeyboarder doch auch eher von der kreativen Liga….“
Melanie wurde gewahr, dass die Mädels vom Nachbartisch in der Eisdiele schon die Augen verdrehten. Ihre „Heiße Liebe“ schmolz. Sie hatte das unendliche Bedürfnis diesem aufgeblasenen Johannes verbal entgegenzutreten, nur man hatte nicht die geringste Chance.
„Du bist nicht Jan! Du bist ein eingebildeter, selbstverliebter Pfau, der einen auf schüchtern macht, und von nix wirklich eine Ahnung hat! Und ein guter Liebhaber bist Du bestimmt auch nicht! Dazu bist Du viel zu verklemmt!“  Ups, war sie das, die da schrie? Es war auf einmal peinlich still. Melanie lief purpurrot an und legte schnell noch Geld auf den Tresen, ehe sie verschwand. Sie hätte sich am liebsten in Luft aufgelöst und beschloss gleich Jan zu schreiben, und sich zu entschuldigen, ihn sozusagen im Geiste betrogen zu haben. Sie machte kurz vorm nach Hause kommen noch einen Besuch im Buchladen, um sich Ferienliteratur zu kaufen und abzulenken. An der Kasse kramte sie nach ihrem Geldbeutel, hob den Kopf zum Kassierer, es war Jan…
 
Auch, wenn das Ende der Geschichte kurz ist, so ist nun mal im wahren, romantisch geführten Leben. Melanie schreibt ihre Liebesbriefe nun dem wahren Jan. Die beiden werden nach zehn Jahren Beziehung heiraten und eröffnen einen Schreibwaren- und Buchladen. Es wird echt so passieren, und lässt alle Romantiker der Welt doch noch hoffen. Glaubt Eurem Gefühl, wie Melanie: Dummschwätzer sind Dummschwätzer und keine guten Liebhaber. Und, vor allem eines, es gibt ihn, den wahren Jan! Macht ja keinen Umweg über den Johannes...das ist dann eine andere Geschichte, die von der armen Babsi (Naja, zu irgendwas musste die Nebenrolle von Babsi ja gut sein!)

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 02.08.2014. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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