Horst Werner Bracker

. . . Brief an meine Schwester

 

September 1998
Eigentlich wollten Gerlinde und ich noch einen ausgedehnten Abendspaziergang machen, doch der Himmel hat sich bezogen und es fängt zu regnen an. So haben wir beschlossen doch zu Hause zu bleiben. Gerlinde will es sich vor dem Fernseher gemütlich machen. Ich bin nach oben gegangen und habe mich am Computer gesetzt. Dabei habe ich an Euch gedacht, insbesondere an unsere Diskussion über das Leben, - den Problemen und Ängsten, von denen niemand verschont bleibt. Insbesondere in der Mitte des Lebens überfällt jedem von uns, den Einen mehr den Anderen weniger, die so genannte "Midlife Krisis", wie es heute so modern genannt wird.
Dann schauen wir in einer stillen Stunde auf unser Leben zurück. Wir fragen uns, was hat unser Leben ausgemacht. Haben wir erreicht, wonach wir gestrebt haben oder sind all unsere Träume nur schöne Träume geblieben? Was war mehr mit uns im Bunde, die Not, Sorgen, Krankheit oder eher das Glück? Fragen, die uns ein lebenslang beschäftigen. Ständig sind wir auf der Suche nach dem Sinn des Lebens. Der Mensch wird zu einem zufälligen Zeitpunkt in diese Welt hineingeboren und er muss diese Welt zu einem zufälligen Zeitpunkt wieder verlassen. Diesem Schicksal steht er machtlos gegenüber, er kann es nicht ändern. Da er sich seiner Existenz bewusst ist und die Natur transzendiert, kann er unter die Oberfläche der Dinge schauen und wird sich seiner Ohnmacht, - seines vorbestimmten Daseins, bewusst. Er hat sich von der Natur emanzipiert und sich seine Eigene menschliche Welt geschaffen. Aber er kann die Fesseln seiner Erdgebundenheit nicht abstreifen.
Es liegt in der Natur des Menschen, die negativen Ereignisse zu verdrängen und sich an das Positive im Leben zu erinnern. Denn Harmonie und Symmetrie bestimmen maßgeblich unser Leben. Sie vermitteln uns das, was wir unter Glück verstehen. Die innere Zufriedenheit ist die Vollendung unserer Wünsche. Glück und Zufriedenheit sind jedoch oft von kurzer Dauer. Sie müssen immer wieder erkämpft werden. Dabei manifestiert sich Glück nicht in Quantität, wie so viele Menschen in unserer Konsumgesellschaft glauben, sondern eher in der Bescheidenheit der kleinen Dinge. Die kleinen Dinge im Leben sind es, die uns glücklich machen; eben weil sie leichter zu erreichen sind. Wir müssen wieder lernen bescheiden zu sein und unsere Sinne für die kleinen Dinge im Leben zu schärfen. Eine schöne Blume, der Gesang eines Vogels, der Satz: "Ich liebe dich!", können Glücksgefühle in uns auslösen. Die innere Zufriedenheit, - der Gleichklang von Körper, Geist und Seele spielen für unser Wohlbefinden eine zentrale Rolle. Das Leben lieben in all seinen Facetten, sollte unser einziger Maßstab sein und nicht, - das Leben ertragen! Unsere Wünsche und Befürchtungen hindern uns oft daran, glücklich sein zu können. Unbegründete Ängste, negative Lebenseinstellungen und Überreaktionen, - stehen dem Glücksempfindungen konträr gegenüber.
Wir sollten nicht vergessen: Unsere Zeit, - und nicht die Zeit der Dinge, mit denen wir uns umgeben, ist unser wertvoller Besitz. Unser Handeln und Tun ist aus unserer Zeit gemacht. Jeder unserer Schritte, jede Geste, jedes gesprochene Wort abstrahiert die verbleibende Zeit. Darum sollten wir unsere Zeit nutzen, - mit vollem Bewusstsein, mit allen Sinnen. Denn es ist der Rest unserer Zeit! Immer öfter ertappe ich mich dabei, dass ich erstaunt auf die Uhr oder auf den Kalender schaue. Am letzten Sonntag sind wir durch den Ohlstedter Wald gewandert. An den Sträuchern und Bäumen die ersten gelben Blätter, reife Früchte und Pilze überall. Kein Zweifel: Es ist Herbst geworden! Wie schnell ist der Sommer vergangen, - dachte ich bei mir.
Es ist ein Privileg der Jugend ein anderes Zeitgefühl zu haben als ältere Menschen. In der Mitte des Lebens wird es sich ändern und ein differenziertes Denken über Zeit und Raum wird sich herausbilden. Der Grund hierfür ist die Überschaubarkeit der verbleibenden Lebenszeit und der Statistiken aus den Alternsforschungen. Die Zeit ist ein Phänomen, - all gegenwärtig und doch nicht zu verstehen! Fakt aber ist: Eines jeden Menschen Zeit beginnt mit seiner Zeugung und endet mit seinem Tod.“ Woher kommst du, wohin gehst du Mensch“? Haben schon die alten Griechen gefragt. In den letzten hunderttausend Jahren hat sich der heutige Mensch physisch kaum verändert. Die physische Evolution scheint zum Stillstand gekommen zu sein. Doch vor ca. 4.500 Jahren wurde die physische Evolution durch die kulturelle Evolution abgelöst. Die Hochkulturen in China, Indien, Ägypten, Palästina und Griechenland und fast zeitgleich in Südamerika, haben Propheten und Philosophen hervorgebracht, die der Menschheit lehrten, wie eine wahrhaft menschliche Welt auszusehen hat. Wie ein roter Faden zieht sich dieser Lernprozess durch die Geschichte der Menschheit. Von der Antike, dem Frühen- Mittleren- und Spätmittelalters bis in unsere Zeit des Einundzwanzigsten Jahrhunderts. Unsere ethischen Werte, die gültigen Gesetze, unser Handeln und Tun stammen aus der christlichen Lehre, die vor Zwei- bzw. Viertausend Jahren von den Propheten des Alten- und Neuen Testamentes gestiftet und geschrieben wurden. Es ist ein dorniger Weg. Der Lernprozess ist noch lange nicht zu Ende, wie die zahlreichen großen und kleinen Kriege die immer wieder ausbrechen, deutlich machen. Aber die Fortschritte, die, die Menschheit gemacht haben, sind nicht zu übersehen. Die globale Kommunikation, die wirtschaftlichen Verflechtungen und Zusammenarbeit der verschiedenen Nationen in Verbünden (UNO, NATO, EG etc.) werden diesen Prozess der bilateralen Beziehungen der Völker und der Menschen selbst noch beschleunigen. Am Ende wird Friede sein zwischen allen Völkern. Toleranz, gegenseitige Achtung und Gerechtigkeit, ohne Rassismus und Diskriminierung heißt das eiserne Ziel.

Unsere Welt hat sich in den letzten Jahrzehnten grundlegend gewandelt. Die Überschaubarkeit unseres Lebensraumes ist weitestgehend verloren gegangen. Die rasanten technischen Ent-wicklungen und die Hyperindustriealisierung, die weltweite Vernetzung durch die elektronischen Medien, der globale Verkehr mit seinen Möglichkeiten, entfernteste Punkte auf unserer Erde in wenigen Stunden zu erreichen, haben nicht nur unsere Umwelt, sondern auch den Menschen selbst verändert. Wir können uns heute problemlos fremde Länder und Kulturen ins Wohnzimmer holen. Wir können, ohne uns selbst zu bewegen, große Entfernungen zurücklegen. Für diesen Fortschritt, der unser Leben erleichtert, verändert und uns viele Vorteile gebracht hat, müssen wir aber auch einen bitteren Tribut zahlen. Heute leben wir in einer kapitalistischen Werte Gesellschaft. Das Leben des Menschen wird weitestgehend vom Konsumdenken, des Alles oder Nichts bestimmt. Sichtbarer Besitz potenziert sich in Ansehen und Bewunderung, aber auch in Missgunst und Neid. Toleranz und Sozietät gehen mehr und mehr verloren. Immer mehr Menschen leiden unter der Anonymität, in der sie mehr und mehr gedrängt werden. Dabei nimmt die soziale Bipolarität in den Gesellschaften immer mehr zu, auf der einen Seite immer mehr Armut und auf der anderen Seite immer größerer Reichtum. Vereinsamung, depressive Erkrankungen nehmen immer mehr zu und erreichen eine jährliche Steigerungsrate von mehr als 2,5 Prozent. Tendenz steigend! Was aber ist Leben? Ich meine, was verstehen wir unter Leben? Was ist ein schönes und erfülltes Leben? Was gehört zu einem erfüllten Leben? Jeder Mensch hat seine ganz besonderen Vorstellungen. Viele Menschen meinen: Habe ich Geld, kann ich ein erfülltes Leben führen. Vielleicht, - solange wir gesund sind. Gesundheit ist nicht alles, aber ohne Gesundheit ist alles nichts. Hat einmal der deutsche Philosoph Schopenhauer gesagt. Recht hat er! Mit Geld können wir uns weder Gesundheit noch ein längeres Leben erkaufen. Wir können zwar die besten Ärzte bemühen, ist unsere Lebensuhr aber abgelaufen, dann müssen wir gehen. Das ist ein unabänderliches Naturgesetz. Zu keiner Zeit in der Menschheitsgeschichte haben sich die Menschen damit abgefunden. Sie haben immer nach einem Ausweg aus ihrer Misere gesucht. Die vielen Religionen und Glaubensrichtungen - sind das Ergebnis dieser Suche. Es muss ein "Nachher" geben! Wenn schon nicht auf dieser Erde, dann im Himmel. An wen könnten wir uns auch sonst wenden, wenn nicht an den, der über allem steht? Dabei spielt es keine Rolle, ob wir ihn Gott, Allah, Buddha, Jehova, Odin oder Manitu nennen. Auch spielt es keine Rolle, ob wir Kirchen, Moscheen oder Tempel besuchen. Tief in jedem von uns liegt die Sehnsucht, die Hoffnung nach dem "Höheren" der uns aufnimmt - am Ende unserer Tage. Wir geben es nicht zu, und reden schon gar nicht öffentlich darüber. Denn wir fürchten den Spott der Mitmenschen. Obgleich auch ich nicht an Gott glauben kann, beneide ich oftmals die, die es können. Vieles im Leben wäre wohl leichter, hoffnungsvoller, - weniger sorgenvoll. Aber Glück, Zufriedenheit, ein voller Bauch braucht keinen Gott, - wohl aber die Not.
Noch lange könnte ich weiter schreiben, denn es gibt viel zu diesem Thema zu sagen. Dabei sollte es nur ein ganz gewöhnlicher Brief werden.

HWB.
 

 

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