Marco Mohr

Das andere Ufer



Es ist mitten in der Nacht. Ein Zimmer eines Hauses am Stadtrand ist noch hell erleuchtet. Erleuchtet von dem Monitor, vor dem ein Junge sitzt, der nicht schlafen kann. Zu viele Gedanken in seinem Kopf halten ihn davon ab, es zumindest zu versuchen. Er ist der einzige, der noch wach ist. Aber selbst wenn nicht, wäre er es immer noch. In seiner Welt.

In seiner Welt, da gibt es auf der einen Seite all die Menschen da draußen (oder drinnen) und auf der anderen Seite er selbst. Er fühlt sich einsam. Einsam und verlassen. Würde er sich in einer großen Menschenmenge befinden, er würde sich einsam fühlen. Wären dann noch überall bekannte Gesichter zu sehen, er würde sich einsam fühlen. Arbeitskollegen? (Berufs)Schulkollegen? Verwandte? Er würde sich einsam fühlen. Denn all diese Menschen können ihn nicht verstehen, oder er sie nicht. Zwölf Jahre lang bekam er dies mit voller Wucht zu spüren. Die genutzte Waffe, die ihn den ganzen Schmerz hinzugefügt hat, der auch jetzt noch immer wieder zu spüren ist wie in dieser Nacht, ist die von der ekelhaftesten Art. Mobbing.

Zwölf Jahre Mobbing haben ihn an den Rand der Gesellschaft gebracht. Quasi noch an der Uferseite der Menschheit, aber schon kurz vor dem Wasser. Freunde haben sich abgewandt, man wolle sich nicht mit so einem abgeben. Das Wasser würde nun in seinen Schuhen rein fließen. Er traute sich nach und nach immer weniger, Menschen anzusprechen. Da würde die Hose schon etwas abbekommen. Die Eltern trennten sich, sahen und sehen ihn immer noch als das schwarze Schaf und bevorzugen seinen Bruder, der sein Leben besser hinbekommen hat. Nun wäre er froh, das er wenigstens schwimmen kann. Schlechte Noten, keine tolle berufliche Zukunft, kommt mit Menschen nicht mehr klar. Die Flucht an die andere Uferseite. Wo er jetzt steht. Allein. Und diese Seite ist wesentlich kälter und dunkler. Auf der anderen Seite, wäre das Ufer nur ein kleiner Strich in einem zweidimensionalen Bild, würde eine tiefe Schlucht klaffen. Das Ende.

Er steckt fest. Vor seinem Rechner. Zwischen zwei Seiten. Dem Wasser, das ihn trennt von den Menschen, mit denen er nicht (mehr) klar kommt. Dem schwarzen Abgrund, das gleichzeitig sein Ende bedeuten würde. Eine Zwickmühle. So steht er noch heute dort, einsam isoliert. Oder er sitzt mitten in der Nacht vor dem Rechner, ohne Aussicht darauf, das es die nächsten Tage und Nächte anders sein könnte. Ohne Kontakte, egal ob real oder virtuell. Es kommt auf das gleiche raus.

Mit tränenden Augen, ob vor Müdig- oder Traurigkeit, geht er ins Bett. Doch selbst da fehlt ihn etwas. Eine Freundin, nein, daran wäre sowieso nicht zu denken. Er hat nicht einmal einen Freundeskreis, geschweige einen Freundespünktchen. Er hat nichts. Nur sich selbst. Und die Einsamkeit.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 07.09.2014. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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