Yvonne Habenicht

Montag, Montag...




Warum muss jede Woche mit einem Montag beginnen? Jede Woche sollte mit einem Mittwoch anfangen, oder was noch besser wäre, mit dem Freitag. An Montagen geht alles schief. Theresa hatte sich schon lange damit abgefunden. Sie wachte zu spät auf, bekam die Augen kaum auf und dachte über Ausreden nach, um sich im Büro zu entschuldi-gen. Natürlich stand sie schon kurz darauf doch vor dem Spiegel. Auch das war montags besonders ernüchternd. Derweil lief der Kaffeefilter über, die zurechtgelegte Bluse hatte einen Fleck, und als sie sich gerade die Zunge am viel zu heißen Kaffee verbrannte, kotzte die Katze auf den Teppich. Wäre eine gute Ausrede: Meine Katze hat ge-kotzt, ich komme später. Oder gar nicht, falls die Katze noch mal kotzt.
Das Pflichtbewusstsein siegte. Sie ignorierte die kotzende Katze (mach ich später weg) und rannte, um noch den Zug zu erreichen. Die Bahn war gerammelt voll, und Theresa fragte sich, ob es nicht sinnvoller sei, sich nach einem Job umzusehen, der erst mittags begann, wenn die Bahnen leer waren, oder in einer Gegend, wo es genug Parkplätze gab.
Mit einiger Ellbogenkraft hatte sie einen Sitzplatz ergattert, döste glatt ein und wäre fast zu weit gefahren. Oh je, nix wie raus. Doch es war Montag, und noch Montag nach einer Vollmondnacht. Ihr linker Schuh blieb mit dem Absatz hängen, und sie stolperte mit einem Schuh in ein Paar Arme, während der verdammte Zug mit dem anderen Schuh davonfuhr. Die Arme gehörten übrigens zu einem Mann, der mindestens ebenso verblüfft dreinsah wie Theresa.
Schlagartig wurde sie sich der ganzen Misere bewusst: Mit einem Schuh konnte sie nun wirklich nicht ins Büro. Är-gerlich und verwirrt wollte sie die rettenden Arme verlassen, spürte aber sofort einen stechenden Schmerz im linken Knöchel, so dass sie unwillkürlich schnell wieder nach einem der Arme griff.
„Tschuldigung, irgendwas ist mit meinem Fuß.“
„Kein Wunder, so, wie Sie aus dem Zug geschossen kamen. Oben ist ein Taxistand. Soll ich Sie ins Krankenhaus fahren lassen? Oder lieber gleich einen Krankentransport?“
„Um Gottes Willen, nein. So schlimm kann’s auch nicht sein. Ich fahre eben nach Hause.“
Verlorener Schuh und verstauchter Knöchel gehörten nicht zu den Ausreden, die ihr am Morgen durch den Kopf gegangen waren. Sie sah den vollen Terminkalender vor sich, die Papierstapel auf ihrem Schreibtisch, biss krampfhaft die Zähne zusammen, weil die leiseste Bodenberührung höllisch schmerzte und hätte fast versäumt, sich bei dem freundlichen Helfer zu bedanken, der sie zum Fahrstuhl und dann zum Taxi geführt hatte.
„Wird es denn gehen mit dem Aussteigen?“
Theresa sah skeptisch auf ihren Fuß, doch der Taxifahrer beruhigte sie: „Das machen wir schon. Ich helfe Ihnen. Was ist denn passiert?“
Das glaubt mir kein Mensch, dachte Theresa, als sie es erzählte. Die werden im Büro denken, ich bin nun gänzlich meschugge oder noch vom Wochenende beschwipst.
Die nächsten Tage verbrachte sie vorwiegend mit einem Eiswickel um den Knöchel. Zehn Tage mindestens, hatte der Arzt gesagt. Na toll, da war ja das Büro noch besser, als hier mit dem eisigen Fuß zu hocken und mit Hilfe eines Besenstiels durch die Wohnung zu hüpfen. Zudem ärgerte sie der verlorene Schuh, denn es waren sündhaft teure Schuhe. Sie würde nur noch mit Schnürschuhen ins Büro fahren.
Schnürschuhe waren es dann nicht, aber so ziemlich die ältesten und ausgetretensten, die einzigen Schuhe, in die der noch immer geschwollene Fuß passte, mit denen sie sich nach acht Tagen auf den Weg ins Büro machte. Sie hätte sich nicht einmal erinnert, wie der Helfer von dem verfluchten Montag aussah, hätte sie nicht auf dem Bahnhof einen Mann auf einer Bank gesehen, der eben diesen ganz gewissen Schuh in der Hand hatte. Sah ganz danach aus, als hätte er auf sie gewartet. So was gab’s doch nur im Film.
„Na, ist sie das nun?“ rief zu allem Überfluss auch noch die dicke Frau vom Zeitungskiosk. „Junge Frau, der Herr wartet seit Tagen jeden Morgen hier mit Ihrem Schuh.“
Theresa bekam einen Lachkrampf, der nur mühsam zu beherrschen war. Deshalb fiel die Begrüßung etwas stockend aus, immer von kleinen Lachern unterbrochen. Den Mann brachte das Gelächter wohl ein wenig aus der Fassung. Er wirkte verlegen, leicht peinlich berührt, gewiss auch verärgert über die Bemerkung der Kioskfrau. Theresa wurde klar, sie könne den Eindruck erwecken, ihn auszulachen und sie errötete, was ihr wohl seit dem 15. Lebensjahr nicht mehr passiert war. Sie schluckte angestrengt die restlichen Lacher hinunter.
„Tut mir wirklich Leid, aber das ist zu komisch. Wie sind Sie denn an den Schuh gekommen? Und haben Sie jetzt wirklich hier immer morgens nach mir Ausschau gehalten? Entschuldigung, ich mach’ mich nicht über Sie lustig. Es…es war nur zu komisch.“
Nun lachte er auch.
„Ja, was sollte ich denn machen? Den Schuh habe ich am Endbahnhof erwischt. Weil ich keine Adresse hatte, habe ich eben gedacht, Sie fahren ja mal wieder zur Arbeit. Bis Freitag hätte ich noch abgewartet, dann hätte den Schuh ins Fundbüro gebracht. Doch ich bezweifle, dass Sie nach ihm gefragt hätten.“
„Nein, wirklich nicht. Hab ihn abgeschrieben. Ich bin Ihnen schon zweimal ein Dankeschön schuldig.“
„Keine Ursache. Wie geht es Ihrem Fuß?“
„Schon besser. Ich muss mich beeilen, komme sowieso schon zu spät. Kann ich mich vielleicht heute Abend mit einer Einladung zum Essen bei Ihnen bedanken? Jeden Tag mit so einem Schuh herumsitzen, das ist ja nicht alltäg-lich. Und ich bin wirklich froh, ihn wieder zu haben.“
Von so seltsamen Umständen zusammengeführt, waren beide verleitet, einen Wink des Schicksals zu vermuten. Theresa verliebte sich noch am gleichen Abend in Tom. Sie verliebte sich im Nachhinein in seine Hilfsbereitschaft, in den Umstand, wie er treu mit dem Schuh auf sie gewartet hatte, und im weiteren Verlauf in seinen verschmitzten Humor, seine angenehme Stimme, und in der Folgezeit in noch viel mehr seiner Eigenschaften. Tom faszinierten ihre großen blaugrauen Augen, die widerspenstigen rötlichen Locken, die nie auch nur eine Stunde lang so saßen, wie sie sie morgens vor dem Spiegel gerichtet hatte, ihr spontane Fröhlichkeit und leicht chaotische Lebensweise, denn er selbst war eigentlich ein sehr geordneter Mann, dem nicht einmal Montage etwas anhaben konnten. Unter normalen Umständen wären sie nie zusammengekommen, denn im Grunde waren sie wie zwei von verschiedenen Sternen.
Theresa fand Montage inzwischen fabelhaft, denn Tom meinte, sie seien es der ersten Begegnung schuldig, sich gerade auch an den Montagen zu treffen, zumal er in einem Hotel arbeitete und an den Wochenenden kaum Zeit hatte. Sie hatte Schmetterlinge im Bauch und im Kopf, fand sich schön, geliebt und glücklich.
Es war zwar nie die Rede davon, aber im Stillen ertappte sie sich bei der Vorstellung, wie es wäre, allmorgendlich neben ihm aufzuwachen. Ja, sie ging in ihren Träumen sogar soweit, sich auszumalen, wie sie neben ihm einen Kin-derwagen mit einem rosigen Baby schob. Solche Gedanken waren ihr bei noch keinem Mann gekommen. Laut ließ sie diese Vorstellungen nicht werden, denn bisher hatte Tom mit noch keiner Silbe ähnliche Wünsche geäußert. Theresa glaubte felsenfest, er sei dazu nur zu schüchtern. Auch war er ein Mann, der nicht viel Redens von sich machte. Vielleicht hatte er schlechte Erfahrungen, eine Enttäuschung hinter sich. Sie, Theresa, würde geduldig sein mit ihm und ihm schon zeigen, dass sie anders war, als die anderen. So, wie sie sich kennen gelernt hatten, da konnte doch nichts schief gehen. Und er hatte sogar ihren Abscheu gegen Montage besiegt. Sie war verliebt, was bekanntlich blind macht. Sonst wäre ihr jener Sonntag bestimmt erspart geblieben.
Wie meist verbrachte sie den Sonntag allein. Tom musste ja arbeiten. Sie hatte lange in den Tag geschlafen und sich nachmittags zu einem Spaziergang entschlossen. Und dann sah sie Tom, „ihren“ Tom, dessen sie sich so sicher zu sein glaubte wie des Amens in der Kirche. An seinem Arm hing eine mollige Blonde in Weiß und Rosa, was ihre Ähnlichkeit mit einem satten, zufriedenen Säugling noch verstärkte. Vor ihnen tobten zwei kleine Jungen einher, offenbar in erbittertem Streit um einen Fußball. Tom und die Säuglingsfrau waren im Gespräch vertieft, lachten und wirkten sehr vertraut. Theresa, die wie angewurzelt stehen blieb, bemerkten sie nicht. In Theresas Kopf überschlu-gen sich Gedanken und Gefühle in unbeschreiblichem Chaos. Es konnte nicht sein, was nicht sein durfte. Vielleicht, redete sie sich ein, ist es seine Schwester, eine verwitwete Verwandte, der er sich gutmütig widmet, eine Kollegin, die ihm ihren Kummer klagt, dass ihr Mann sie und die Kinderchen verlassen hat… Allerdings sah es nach alledem nicht aus.
Da Theresa meist Entschlüsse fasste ohne sie lange abzuwägen, bemühte sie sich um das argloseste Gesicht, ging trotzig auf die traute Gruppe zu und sagte einfach: „Hallo, Tom.“
Spätestens jetzt wurde ihr klar, dass es sich weder um die Schwester noch sonst ein trostbedürftiges Wesen handelte, denn Tom starrte sie an wie den Leibhaftigen, und sein Gesicht verfärbte sich von rötlich-violett bis grau-grün. Er nickte knapp mit eingefrorenem Grinsen. Theresa warf den Kopf zurück und stolzierte weiter. Der Parkweg ver-wandelte sich in eine wabbelige Masse, die den Füßen kaum Halt gab. Jetzt bloß nicht noch mal einen Schuh verlie-ren, umfallen oder dergleichen. Sie hörte noch, wie die Frau zwitscherte: „Wer war das denn, Schatz?“ Seine Antwort hörte sie nicht mehr. Wahrscheinlich sagte er: „Ach, eine Kollegin“ oder „’Ne Nachbarin von meiner Mutter“, jeden-falls etwas in der Art. Ganz bestimmt sagte er nicht: „Das war Theresa. Sie ist mir auf dem Bahnhof in die Arme gefallen und ich habe mich unsterblich in sie verliebt. Ich kann ohne sie nicht mehr leben, nun weißt du es.“
Theresa heulte eine Weile auf einer einsamen Parkbank. Dann fuhr sie nach Hause. Sie ignorierte das Handyklingeln, löschte ungelesen die SMS, stopfte besagte Schuhe in die Mülltüte, legte sich ins Bett und heulte weiter. Am nächsten Morgen stellte sie nach langer Zeit wieder fest, wie grässlich Montage waren. Trotzdem achtete sie besonders gut auf ihre Schuhe, als sie den Zug verließ. Fast hatte sie gehofft, er würde hier warten und das Ganze doch noch als harm-losen Irrtum ihrerseits aufklären.
Aber abends klingelte es zur gewohnten Zeit. Sie hatte sich soweit gefasst, ihn einzulassen. Er streckte ihr einen riesigen Rosenstrauß entgegen und murmelte etwas wie: „Es tut mir Leid. Ich wollte es dir schon lange sagen. Ver-steh mich nicht falsch. Wir sind nur noch wegen der Kinder zusammen. Bitte, lass uns reden.“
Theresa schlug ihm den Rosenstrauß ins Gesicht. „Hau ab. Erzähl deine Märchen wem du willst, aber nicht mir! Mir nicht mehr!“
Sie schlug die Tür zu, lauschte seinen Schritten und heulte wieder. Sie beweinte ihre eigene Dummheit, ihre ver-schwendeten Träume, ihre naive Gutgläubigkeit, ihr ganzes, großes Unglück. Als sie alles ausreichend herausgeheult hatte, nahm sie die Katze auf den Schoß und hörte sie die „Ärzte“: „Männer sind Schweine…“, nickte nachhaltig und nahm sich vor, nie, nie wieder eine Montagsbekanntschaft zu machen, und wenn sie dreist einmal beide Schuhe verlieren und die Knöchel brechen sollte.

Copyright © by Yvonne Habenicht
Berlin 2003

An Montagen geht bei Theresa gewöhnlich alles schief.
Kann es sein, dass ausgerechnet eine Montagsbekanntschaft das große Glück ist?
Yvonne Habenicht, Anmerkung zur Geschichte

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 16.05.2003. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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