Hans-Georg von Rantzau

Das Dichtergenie Lydia Haberkern

 
Während seines Studiums hatte Willibald Reimling nebenher auch etwas Vernünftiges gelernt, nämlich das Schmieden von Versen. Mit der Zeit brachte er es zu einer gewissen Fertigkeit, und so manches harmlose Gedichtchen sorgte im Lauf der Jahre für Heiterkeit bei unterschiedlichsten Gelegenheiten. Aber dann widerfuhr ihm etwas vollkommen Verrücktes:
 
Eines Morgens blätterte Reimlings Frau Agathe in der Zeitung und stieß im Feuilleton-Teil auf eine Buchbesprechung. Die Lyrikerin Antonia Sowieso hatte auf einer Buchmesse ihren neuen Gedichtband vorgestellt und dafür prompt den Großen Preis für neue Lyrik erhalten. Der Rezensent der Zeitung war außer sich vor Begeisterung: Diese geniale Wortwahl, diese sprachliche Ausdruckskraft, die ebenso exklusive wie explosive Sinnesfreude der Verse –  was immer das im einzelnen zu bedeuten hatte. Dann folgte als Textbeispiel ein Vierzeiler, den Reimling jedoch beim besten Willen nicht zu begreifen in der Lage war. Vielmehr begann er ob seines Unverständnisses an seiner Geisteskraft zu zweifeln. Auch Agathe, literarisch viel bewanderter als Willibald, erging es nicht viel besser. Der Kritikus jedoch wiederholte die Lobeshymnen auf Antonia Sowieso in seinem Text noch mehrfach. Agathe und Willibald lasen den ausgezeichneten und gepriesenen Vierzeiler immer wieder. Aber die Einschätzung der Reimlings änderte sich nicht: Für die beiden blieb das Kunstwerk das, wofür sie es von Anfang an gehalten hatten, ein Wortgeplänkel ohne jeden Sinn, ein Konvolut hirnleerer, hohler Phrasen.
 
„Was bin ich für ein Banause, nicht geschaffen für höhere Weihen literarischer Kunst, was bin ich für ein respektloser, schlechter Mensch!“, dachte Willibald Reimling. Er ertappte sich nämlich bei dem Gedanken, ob er es nicht auch mal versuchen sollte, etwas richtig Unsinniges, ja gewollt Schlechtes zu formulieren und das dann als Gedicht zu deklarieren.
 
Reimling hockte sich hin und begann zu grübeln. Wie schreibt man ein Gedicht, das nur eines sein soll: möglichst hirnvernagelt, blödsinnig und miserabel? Sehr schnell stellte er fest, daß es weitaus schwieriger ist, kompletten Nonsens zu Papier zu bringen als etwas Vernünftiges. Auf dem Bleistift kauend, versuchte Reimling, sich in die Traumwelten eines E. T. A. Hoffmann oder einer Hedwig Courts-Mahler zu versetzen. Er stellte sich die Akropolis an einem grauen Novembermorgen vor. Irgendwie mußte die Schlacht begonnen werden, und so entstand eine wahrhaft poetische Zangengeburt: „Zweifelnde Nebel umhüllen der Säulen fahle Gestalt.“ Dieses war der erste Streich. Der zweite Streich sollte nun auf dem Unsinn des ersten aufbauen und diesen möglichst noch toppen: „Einsame Monotonie glimmt in dreistem Grün.“ Mit der dritten, mühsam herausgewürgten Zeile setzte er noch eins drauf: „Und meine zwangsgeräumte Seele schreit nach Wind.“  Uff! Noch mehr davon ging einfach nicht.
 
Nun brauchte das Ganze eine möglichst nichtssagende Überschrift. Da Reimling selbst der griechischen Sprache unkundig ist, mußte es ein griechischer Begriff sein. Er kam schließlich auf „Euphemismen“, mag sich dabei jeder denken, was er will. Und damit nicht gleich jeder Reimlings Namen mit diesem Quatsch in Verbindung bringt, mußte ein Pseudonym her: Er erfand eine ominöse Frauengestalt namens Lydia Haberkern. Das Ganze wurde schließlich im Computer unter „Anti-Gedichte“ abgespeichert geriet bald in Vergessenheit.
 
Einige Zeit später stieß Reimling zufällig im Internet auf die Geschäftsidee eines Verlages: Der suchte Gedichte zeitgenössischer Autoren. Jedermann, der sich zur Poesie berufen fühlt, kann dort seine Plattform finden. Den Möchtegern-Dichtern bot der Verlag an, ihre Werke von Experten begutachten lassen, natürlich kostenpflichtig und für gutes Geld. Der Verlag warb damit, die besten Einsendungen aus zigtausenden in einer jährlich im Kunstdruck erscheinenden Anthologie zu veröffentlichen. Wer das Glück hatte, auserwählt zu werden, durfte das Kunstwerk zu einem abenteuerlichen Subskriptionspreis erstehen. Willibald Reimling durchschaute die Geschäftsphilosophie des Verlages rasch: Wenn nur die Hälfte von 1000 Autoren ihre Subskriptionsexemplare abruft, verdient der Verlag glänzend.
 
„Meine guten Gedichte kriegen die nicht!“, wetterte Reimling. Aber er beschloß, den Verlag ein bißchen an der Nase herumzuführen und erinnerte sich an Lydia Haberkern. Aus reinem Jux schickte er die „Euphemismen“ dort ein. Daß das Machwerk nichts taugt, war ihm klar, und so verzichtete er selbstverständlich auf die fachkundige Bewertung.
 
Auch das war bald wieder vergessen. Bis eines Tages ein Brief kam: Die hochkarätige Jury hat entschieden, der Verlag gratuliert Lydia Haberkern zu ihrem hervorragenden Gedicht „Euphemismen“ und zu der Aufnahme in eine der meistverbreiteten deutschsprachigen Lyrik-Anthologien mit den besten Gedichten des Wettbewerbs – und so weiter.
 
Inzwischen hat Willibald Reimling das Spielchen mit einem noch schlechteren Opus wiederholt – dasselbe Szenario.
 
Lydia Haberkern gibt es nicht, ihre Verse wurden von einem Narren für den Papierkorb geschrieben, nur dort gehören sie hin. Aber in deutschen Kunstdruckanthologien könnte noch so mancher „echte Haberkern“ auftauchen. Armes Deutschland, deine Dichter…
 
 
 

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