Francesco Lupo

Bitte wenden!

 

„Es ist kein Muskat mehr da!“ klang es vorwurfsvoll aus der Küche.
Mehr sagte sie nicht, meine bessere Hälfte. Statt dessen warf sie mir einen Blick zu, der mir suggerieren sollte, das ist wieder mal deine Schuld! Es war Samstag und kurz vor zwölf. High noon, quasi.
Was selbstredend die Frage aufwarf, was ich mit der Küche im Allgemeinen und mit der Muskatnuß im Besonderen zu schaffen hatte. Nicht viel, räume ich ein, bis auf den Umstand, daß ich gerne esse. Weil dem nun mal so ist, konnte ich mich dem Hilfeschrei nach Muskat nicht verschließen, hüpfte in die Stiefel, stülpte mir das T-Shirt über und grabschte nach den Wagenschlüsseln.
„Bin gleich wieder da“, flötete ich, verließ das Haus und stieg in den violetten Nissan. Er ist, wie ich, nicht mehr ganz neu, hat schon bessere Zeiten gesehen, zeigt hie und da etwas Rost, läuft aber noch. Wenn er anspringt.
Glücklich brachte ich den Motor zum Laufen. Bis zum Supermarkt waren es nur drei Kilometer. Wenn da nicht diese Baustelle gewesen wäre. Den Supermarkt bereits in Sichtweite, mußte ich kehrt machen und die Strecke wieder zurückfahren, einer notdürftig ausgeschilderten Umleitung folgend. Als ich am Warenhaus eintraf, war eine geschlagene halbe Stunde verstrichen. Ich parkte den Wagen an der Ecke - samstags ist hier immer besonders viel los - und stürzte mich ins Getümmel.
Muskatnuß? Gewürze! Ich erkundigte mich bei einer Angestellten nach den Gewürzregalen.
„Vierte Reihe links, dann ganz durch, auf der rechten Seite.“
Wenn das keine präzise Auskunft war! Das hatte ich gar nicht erwartet. Meist schweifen die Augen der angesprochenen Bediensteten in weiten Parabeln durch den Äther, um letztendlich hoffnungsvoll jemanden zu fragen, der es auch nicht weiß. Nicht so hier. Das verstehe ich unter einem kundenfreundlichen Kaufhaus! Vierte Reihe links. Tief beeindruckt lief ich los.
Es gab nur drei Reihen. In der dritten fand ich Tee. Gewürzten Tee, immerhin. Aber eigentlich brauchte ich die aromatische Nuß des Muskatstrauches. Da ertönte aus Lautsprechern eine sympathische weibliche Stimme, die mich sanft darauf hinwies, daß heute der Goldbarsch besonders günstig sei; das half mir weiter.
Mit flammendem Blick stürmte ich den Gang wieder zurück, um mir die Fehlinformantin zu greifen und blieb wie angewurzelt vor einem Extrastand des Supermarktes stehen, der in großen Lettern anpries:
‚Nie wieder Umwege fahren – mit unserem Navigationssystem „Präzision“ erreichen Sie Ihr Ziel. Immer!’
Neugierig betrachtete ich den Fummel, las ein paar Begleitschriften durch, dachte an die Umleitung und die zeitraubende Fahrt hierher und erwarb kurzerhand dieses kostbare, in der heutigen Zeit unverzichtbare Instrument. An der Kasse bezahlte ich € 499.-. Ein Sonderangebot.
   Das Besondere an diesem Angebot war das System, es war mobil, konnte im Auto installiert werden, war aber auch tragbar. Zum Beispiel für … für … na, sagen wir für … demente Rollstuhlfahrer. Stante pede wanderte es auf mein Armaturenbrett, es war so einfach zu befestigen, ein Kinderspiel.
Etwas mehr Zeit nahm das Studium der Gebrauchsanweisung in Anspruch, aber nach der holländischen, der türkischen und der finnischen Fassung, entdeckte ich schon die deutsche. Direkt hinter der portugiesischen.
Es versteht sich von selbst, daß ich die „Präzision“ gleich ausprobierte. Angespannte Finger tippten meine eigene Adresse ein. Auf dem Bildschirm – die Neudeutschen nennen es Display – erschien wie von Geisterhand bewegt eine Straßenkarte, leuchtend bunt, mit allen nur erdenklichen Nebenstraßen und Sackgassen, den etwas breiteren Autobahnen, einfach alles. Sogar Tankstellen, Krankenhäuser, Friedhöfe und Bushaltestellen waren eingezeichnet. Selbst  Kirchen und Schnellimbisse! Und natürlich die vorgesehene Route! Grandios! Ich war begeistert.
Der Wagen sprang … an! Ich setzte den Nissan zurück und begab mich auf die computergesteuerte Heimfahrt. Ich hatte das Gaspedal noch nicht durchgetreten, da ertönte eine weibliche Stimme - ich hätte schwören mögen, es war die gleiche, die zuvor im Supermarkt den Fisch angepriesen hatte – und empfahl mir in einem freundlichen Tonfall:
„Bitte wenden Sie!“
Ein wenig irritiert suchte ich nach einer Wendemöglichkeit, setzte das Fahrzeug zurück und befuhr die Straße in die entgegengesetzte Richtung. Weg von zu Hause.
Auf dem Bildschirm konnte ich genau verfolgen, wohin die Reise gehen sollte. Ein blauer Pfeil zeigte mir zu jedem Zeitpunkt, wo ich mich befand. Das beruhigte ungemein.
„Bitte biegen Sie nach 200 Metern links ab!“ empfahl mir die Stimme.
Brav ordnete ich mich ein und befolgte den Rat der netten Dame. Ich stellte sie mir blond vor, mit langen, lockigen Haaren, Grübchen im Kinn und einem hübschen Engelsgesicht. Brillenträgerin. Dabei entfernte ich mich immer weiter von meinem trauten Heim. Aber im Vertrauen auf die neueste GPS-Technik, das bedeutet satellitengesteuert, übergab ich mich der professionellen Verkehrsleitung.
„An der nächsten Kreuzung bitte rechts abbiegen. Bitte rechts abbiegen!“
Mein Wohnort lag weit hinter mir, ich fuhr in eine völlig andere Richtung, mußte aber unbedingt wissen, wohin mich dieser blonde Engel dirigierte. Eine derart sympathische Stimme konnte nichts Böses im Schilde führen, dessen war ich mir gewiß.
„Achtung!“
Ich erschrak maßlos. Was war nun geschehen?
„Achtung!“
Schon wieder? Mein Blick streifte zunächst sämtliche Rückspiegel, danach suchten meine Augen den Himmel vor mir ab. Nichts. Weder Hubschrauber noch Ufos waren auszumachen. Warum nur rief sie ständig ‚Achtung’? Schon wieder ertönte die Warnung. Ich hielt an und untersuchte alle vier Reifen inklusive Ersatzrad; sie waren in Ordnung. Unschlüssig setzte ich meine Fahrt fort. Etwas langsamer. Die Warnungen blieben aus.
   Nach langen Minuten auf einer breiten Bundesstraße, während derer ich mindestens viermal hätte abbiegen können - hätte abbiegen müssen, in Richtung Heimat - tauchte ein blaues Autobahnschild auf.
„Bitte links einordnen, biegen Sie nach 300 Metern links ab. Biegen Sie links ab!“
Geduldig fuhr ich auf die Autobahn und hörte eine geschlagene Viertelstunde nichts mehr von der Blondine.
„Bitte biegen Sie nach 500 Metern rechts ab“, riß mich die Stimme aus meinen philosophischen Gedankengängen.
Folgsam, wie ich Frauen gegenüber nun mal bin, verließ ich die Autobahn und richtete mich nach den Hinweisen der Dame im Navigationsgerät. Bis nach Hause war es nicht mehr weit. Höchstens 35 Km. Die Stimme ließ nicht nach in ihrer Freundlichkeit, lenkte mich zielstrebig in die Nibelungenstraße, wo ich wohne. Meine Begeisterung steigerte sich ins Unermeßliche, als mein Anwesen auftauchte. Woher nur wußte diese Frau so genau, wo ich wohne? Kannte sie mich am Ende?
„Sie haben Ihr Ziel erreicht“, raunte es aus dem Gerät.
Überschwenglich bedankte ich mich bei meinem blonden Engel, der in tiefer Bescheidenheit schwieg. Ich stieg aus und begab mich ins Haus. Meine Frau empfing mich mit gehobenen Augenbrauen. Und gesenktem Haupt. Es war kurz nach halb drei, das Essen kalt, das Kartoffelpüree trocken. Den Muskat hatte ich vergessen, aber der Vanillepudding schmeckte exorbitant. Auch ohne Muskat. 
Am späten Nachmittag stellte ich fest, daß diese Odyssee allein meine Schuld gewesen war, weil ich versehentlich ‚Über die Autobahn’ einprogrammiert hatte, anstelle von ,Kürzeste Strecke’. Gut.
   Den restlichen Tag verbrachte ich damit, die Bedienungsanleitung auswendig zu lernen und den Verkehrs-Computer in allen Einzelheiten zu studieren. Adressen in ganz Europa ließen sich in der „Präzision“ einprogrammieren. Man bedenke: Ganz Europa! Ein Kontinent.
Den Grund für die schrecklichen Warnrufe vermochte ich ebenfalls zu eruieren. Immer wenn ich etwas zu schnell gefahren war, rief die Dame ‚Achtung’. Ich empfand das als geradezu genial. Das würde mir in der Zukunft helfen, jede Menge Geld zu sparen.
Eine schlaflose Nacht folgte, in der ich mich auf meiner Federkernmatratze unruhig hin und her warf, voll des Mitleids mit der freundlichen Dame, die ihre nächtlichen Stunden so einsam verbringen mußte. Eingezwängt in diesem engen Gerät. Blond. Mit Brille. Auch tags darauf wollte es mir nicht gelingen herauszufinden, wo die Dame denn nun wirklich steckte. Selbst ein vorsichtiges Schütteln der „Präzision“ brachte mich nicht weiter. 
   Am frühen Nachmittag, als sich der Zorn meiner Gattin ein wenig gelegt hatte, lud ich sie ein, eine Runde mit mir zu fahren. Schließlich mußte ich ihr doch den Grund für meine gestrige Verspätung demonstrieren. Hoffentlich, so meine nicht unbegründete Befürchtung, würde sie nicht eifersüchtig werden auf diese nette Dame im Navigationsgerät...
„Fahren wir zu den Schmitzens“, stieß meine Frau unvermittelt hervor.
„Gut“, erwiderte ich fromm. „Wo wohnen die Schmitzens?“
„Ich weiß nicht genau“, kam es vom Beifahrersitz herüber, „Irgendwo in der Nähe von Münster.“
Entschlossen tippten meine mittlerweile trainierten Finger ein: Schmitzens, irgendwo in der Nähe von Münster. Und schließlich: GO! Das ist ausländisch und bedeutet soviel wie: Nu aber nichts wie los!
Das Navigationsgerät schwieg beharrlich.
„Vielleicht sind unsere Ortsangaben nicht präzise genug“, gab ich zu bedenken.
„Die Schmitzens wohnen in Appelhülsen in der Friedhofstraße, die Nummer habe ich vergessen“, entfuhr es meiner Frau ungeduldig. „Oder in Amelsbüren.“
Ich gab ein: Appelhülsen oder Amelsbüren, Friedhofstraße. Wer ganz Europa gespeichert hat, dachte ich mir, von Sizilien bis Spitzbergen, der weiß auch, wo die Schmitzens wohnen.
Das Navigationsgerät zuckte kurz auf und irgendwie schien es mir, als drehte es sich sacht von links nach rechts und wieder zurück, etwa wie ein Mensch, der den Kopf schüttelt. Das jedoch konnte nur eine Sinnestäuschung gewesen sein.
Schließlich setzte ich mich durch und stellte das Gerät kurz entschlossen auf Appelhülsen, Friedhofstraße ein. Kürzeste Strecke!
Ein paar Sekunden verstrichen, dann ertönte die vertraute Stimme:
„Bitte wenden Sie!“
Ich hätte zu gerne gewendet. Wenn der Wagen angesprungen wäre.
„Bitte Wenden Sie!“ ertönte es schon wieder, und eine gewisse Ungeduld schien die Worte einzufärben.
„Ich wende ja gleich“, erwiderte ich, „aber das Auto springt nicht an!“
„Bitte wenden Sie!“
„Ja!! Ich wende sofort!“ erschallte es im Wageninnern, und meine eigene Stimme kam mir sonderbar fremd vor.
Wieder und wieder drehte ich am Zündschloß, der Anlasser wurde zusehends müde, hatte wohl vor, den Dienst endgültig zu quittieren, da deutete ein Husten des Motors an, daß er sich entschlossen hatte, doch noch anzuspringen. Sofort legte ich den Rückwärtsgang ein, setzte zurück, als es erneut ertönte:
„Bitte wenden Sie!“
Ich gab Gas, und mein böser Blick ließ die „Präzision“ in ihren Grundmauern erzittern. Warum nur hetzte sie mich so? Wir hatten doch Zeit. Es war Sonntagnachmittag, alle Welt schlief. Und diese Frau zeigte eine nicht nachvollziehbare Hektik.
„Nach 100 Metern biegen Sie rechts ab!“
Funktionierte mein Gehör nun richtig, oder hatte sie tatsächlich das Bitte unterschlagen? Nichtsdestotrotz folgte ich ihrem Diktat und bog rechts ab. Sie gab sich zufrieden, denn aus ihrem Schweigen war jegliche Aggression verschwunden. Wir fuhren einige Kilometer dahin, passierten mehrere Kreuzungen, ohne daß ein Kommentar ihrerseits zu hören war.
„Sind wir denn auch richtig?“ fragte ich den Computer vorsichtig.
Er stellte sich tot. Offenbar war die blonde Dame beleidigt. Ich hätte sie nicht anschreien dürfen. Gut, dachte ich, soll sie schmollen! Solange sie uns nur richtig leitet.
„Nach dreihundert Metern biegen Sie links ab!“
Auch diesen Vorschlag akzeptierte ich blind und blinkte links.
„Ich weiß eine Abkürzung“, schrie das Weib neben mir aufgebracht. „Du mußt weiterfahren und dann die Übernächste links!“
Hinundhergerissen, welcher Anweisung ich denn nun Gehör schenken sollte, verhielt ich mich diplomatisch. Und folgte meiner Gattin. Kaum war ich an der Abzweigung vorbeigerauscht, als es auch schon tadelnd aus dem Gerät erscholl:
„Bitte wenden Sie!“
„Das ist Unsinn“, zischte meine Frau mit Blick auf ihre Konkurrentin. „Du fährst weiter! Los! Die Übernächste links! Das wäre ja noch schöner. Wir werden schon sehen.“
Es war noch schöner und wir sahen. Denn kaum waren wir eingebogen, als uns auch schon ein unübersehbares Baustellensschild begegnete und daneben eine blaue Tafel: Sackgasse.
„Bitte …wenden Sie!“
Dieses Mal, und das beschwöre ich noch heute, dieses Mal klang etwas wie Hohn aus ihrer Stimme. Als wollte sie sagen: Hab ich’s  nicht gesagt? Hab ich’s nicht gesagt?
Ich warf meiner Gattin einen bitteren Blick zu und wendete den Nissan, den rostigen.
„Bitte fahren Sie rechts!“ drang es aus dem Computerkästchen, als wir wieder an der Einmündung anlangten.
Nun tat ich, wie mir geraten.
„Kein Mensch konnte ahnen“, lenkte meine bessere Hälfte ein, „daß sie hier die Straße aufgerissen haben.“
„Kein Mensch?“ fragte ich scheinheilig. „Sie wußte es!“
„Bitte biegen Sie nach 200 Metern rechts ab!“
Na, wenigstens sagte sie wieder Bitte. Das klang ein bißchen nach Versöhnung, ich konnte sie gut verstehen. Darüber hinaus tat sie nur ihre Pflicht. Die bestand nun mal darin, mir den rechten Weg zu weisen. Und dabei sollte sie sich noch mit meiner Frau herumstreiten? Gehorsam bog ich ab. Es dauerte wirklich nicht lange, bis wir in Appelhülsen in der Friedhofstraße landeten.
Mit einemmal setzte ein unglaubliches Getöse ein. Es klang wie der Schlag des Gongs einer buddhistischen Pagode, der zum Gebet ruft. Und in der Tat hatte ich, wie ich später feststellte, auch alle Kirchen des Landes einprogrammiert. Jedesmal, wenn wir uns einem Gotteshaus näherten, erdröhnte dieser unsagbar laute Gong und ging uns durch Mark und Bein. Das Gerät leiser zu drehen hätte wenig Sinn ergeben, denn dann wäre die liebliche Stimme nicht mehr zu verstehen gewesen.
„Hier in Appelhülsen wohnen sie nicht“, war vom Beifahrersitz lapidar zu vernehmen. „Sie wohnen in Amelsbüren.“
Da sich meine Gattin so sicher war, stellte ich den Navigator auf die neue Adresse ein und hörte:
„Bitte wenden Sie!“
Diesen Satz konnte ich auswendig. Ich drehte am Steuer und folgte der Stimme, die heute nicht mehr ganz so sympathisch klang wie noch einen Tag zuvor. Das jedoch muß man als normalen Verschleiß abhaken. Kurz vor Amelsbüren rief meine Frau ungeduldig:
„Wir müssen hier abbiegen! Warum sagt sie nichts?“ Dabei zeigte sie auf eine Abzweigung.
Ich ließ die Frage unbeantwortet und dachte an unsere letzte unplanmäßige Exkursion.
„Da müssen wir reinfahren!“ ereiferte sich die Gattin und drehte wie besessen am Lenkrad.
Wenn ich eines nicht mag, dann sind das fremde Hände, die wie besessen an meinem Lenkrad drehen, während ich navigationsgeleitet in Europa unterwegs bin. Unwillig befreite ich mich von den Griffen meines Weibes und bog genau dort ab - wohin sie zuvor mit der Hand gezeigt hatte.
„Bitte wenden Sie!“ 
Das Unvermeidliche war eingetreten. Der Computer zeigte sich damit gar nicht einverstanden.
„Aber meine Frau sagt, wir müssen hier abbiegen!“ gab ich zu bedenken.
„Nein! Bitte wenden Sie!“
Ich fuhr weiter gerade aus und dachte: Sie wird es nicht merken. Sie sitzt irgendwo in einem der zahllosen Satelliten, die hoch oben im Orbit ihr Unwesen treiben und wird mich nicht weiter beachten’.
Hatte sie zuvor tatsächlich Nein gesagt? Das war neu. Offenbar sah sie doch ziemlich exakt was ich tat …
„Sie sollen wenden!“
„Aber meine Frau sagt …“
„Es interessiert mich nicht, was Ihre Frau sagt. Wenden Sie!“
Ihr Ton wurde leicht unverträglich.
„Wenden Sie und fahren Sie zurück zur Hauptstraße!“
Ich dachte nicht im Traum daran, mich von einer blonden Dame, mit Brille, die eingezwängt wie eine Ölsardine in einem Satelliten hockt, maßregeln zu lassen und fuhr weiter. Unterstützt von meiner zufrieden nickenden Gattin, die sich ein spöttisches Grinsen zum Gerät hinüber nicht verkneifen konnte. Meinen Blick fest auf das Display geheftet, trat ich ordentlich aufs Pedal.
„Achtung!“
Aha, ich war wieder etwas zu schnell. Laß sie reden, dachte ich. Die ständigen Bevormundungen dieser Dame gingen mir sowieso auf die Nerven.
„Sie sollten wenden, weil sonst…“
Der Rest ging in einem höllischen Gepolter unter, als ich von der Fahrbahn abkam und im Acker landete. Beide Vorderräder standen in der schmutzigen Brühe des Straßengrabens, der Wagen war nicht mehr zu bewegen. Akrobatisch kletterten wir ins Freie.
„Bitte wenden Sie!“ ertönte es aus dem Wageninnern.
„Ich kann nicht. Ich stecke fest“, lautete meine wahrheitsgetreue Replik.
„Bitte wenden Sie!“
„Sie sehen doch, daß ich nicht kann“, rief ich gen Himmel, in der Hoffnung, sie würde es bemerken.
„Wenden Sie endlich!“
Das klang jetzt weniger nach einem Navigator. Eher nach einem Alligator.
„Rufen Sie uns lieber einen Abschleppwagen, aber schnell!“ keuchte ich noch ins Führerhaus, bevor ich die Tür mit einem Krachen zuschlug.
Schweigen. Jetzt schmollte sie endgültig. Und sie hatte recht.
   Da wir kein Mobiltelefon bei uns trugen, warteten wir auf jemanden, der uns aus der Patsche half. Nach einer knappen Stunde zeigte sich ein Radfahrer, der über sein Handy einen Abschleppdienst informierte und danach schmunzelnd weiterradelte.
„Warum schaust du auch nicht auf die Straße?“ kam es spitz aus dem Munde meiner Gattin.
Auf diese Frage hatte ich eine Stunde lang gewartet.
„Du hast gesagt: Biege ab! Sie hat gesagt: Wenden! Was hätte ich denn tun sollen?“
„Sie hätten wenden sollen“, erklang es dumpf aus dem Fahrzeug.
Durch die geschlossenen Scheiben hindurch. Allmählich wurde sie mir unheimlich. Das sagte ich auch dem Fahrer des Abschleppwagens, der uns eine weitere dreiviertel Stunde später aus dem Graben zerrte.
„Der Navigator hat immer Recht! Wo wollen Sie denn hin?“ fragte er.
„Nach Appelsbüren!“ rief meine Frau.
„Nach Amelhülsen. Herrgott! …nach Amelsbüren, meine ich“, sagte ich nervös zu dem Mann.
„Da hätten Sie wenden müssen und zurück zur Hauptstraße fahren“, war dessen Antwort.
Mein bitterböser Blick traf die Dame, mit der ich verheiratet bin, mitten im Gesicht, die drehte sich um und setzte sich ins Fahrzeug. Ich bezahlte die € 200.- für den sonntäglichen Abschleppdienst und setzte mich neben sie.
„Vielleicht sollten wir das Gerät ausschalten“, lenkte sie ein.
„Ausschalten? Und wofür habe ich die € 499.- bezahlt?“ hielt ich dagegen.
Wobei ich scharf kalkulierte, ob der Nissan bei einem eventuellen Verkauf noch so viel einbringen würde …
„Ich meine ja nur ...“ flüsterte sie.
Trotzig gab ich Gas und fuhr zurück zur Hauptstraße. Jetzt wollte ich mich auf keinen Fall mehr von meiner Gattin manipulieren lassen.
„Bitte biegen Sie rechts ab. Biegen Sie rechts ab!“
Das hörte sich ganz nach einem Friedensangebot an, ich folgte ihren Anweisungen. Die Vorschläge meiner Frau waren mir zu kostspielig geworden.
   Nach wenigen Minuten zuckten wir erstmal kräftig zusammen, als der Gong ertönte - wir fuhren gerade an einer prächtigen barocken Kirche vorüber - und kurz darauf standen wir in der Friedhofstraße. In Amelsbüren. Mit zusammengekniffen Augen hielt ich nach den Schmitzens Ausschau.
„Ich meine gar nicht die Schmitzens“, brach es aus meiner Frau heraus. „Ich dachte an die Familie Jansen.“
Die wollte ich nun wirklich nicht besuchen, also beschloß ich einstimmig, wieder nach Hause zu fahren. Rasch wurde der Computer programmiert und los ging die Fahrt. Von nun an richtete ich mich in vollster Ergebenheit nur noch nach der Stimme im Gerät. Meiner Frau traute ich diesbezüglich nicht mehr über den Weg. Die blonde Dame lenkte uns schnörkellos Richtung Heimat, und wir wären auch ohne Zwischenfälle dort angekommen. Hätte meine Gattin nicht plötzlich gerufen:
„Ich möchte ein Eis. Dort ist eine Eisdiele!“
Da ihr Wunsch mir immer Befehl ist, trat ich auf die Bremse, wendete, stieß rückwärts in eine der Parktaschen und stellte den Motor ab.
„Bitte wenden Sie!“
„Ich kann nicht, meine Frau möchte ein Eis“, erklärte ich dem Computer behutsam und verließ zusammen mit der Dame, mit der ich verheiratet bin, den Nissan. Leise fügte ich an: „Und ich werde mir auch eines genehmigen. So!“
„Eis macht dick!“ war von irgendwo her zu vernehmen.
Ich schenkte dem keine weitere Beachtung. Wir setzten uns auf zwei freie Plätze und bestellten gigantische Eisbecher mit einer Riesenhaube Schlagsahne obenauf. Als Krönung saß auf der Spitze eine knallrote Kirsche. Es schmeckte phantastisch. Wir hatten es verdient, nach der Abschleppattacke eben. Aus der Ferne drangen dumpfe Wortfetzen zu uns herüber. Es klang wie: Bitte wenden Sie! Wir ignorierten das Gejammer.
Eine viertel Stunde später saßen wir wieder im Wagen, wendeten und machten uns endgültig auf den computergesteuerten Heimweg.
„Ich weiß nicht“, begann meine Gattin zögernd, „irgendwie fühle ich mich nicht wohl. Mein Bauch ist so voll.“
„Hab ich doch gesagt!“ ertönte es aus dem Computer.
Ich erklärte ihm in aller Freundschaft, daß ihn das gar nichts anginge und schaute auf die Straße.
„Sie sollten auf mich hören!“ sprach die Dame weiter.
„Ja, aber nicht immer!“ bekam sie zur Antwort.
„Doch. Immer!“
Ich murmelte ein Dukannstmichmal und fuhr weiter.
„Achtung!“
Wieder fuhr ich zu schnell. Diesmal jedoch genoß ich es. Laß sie rufen, dachte ich mir. Irgendwann wird sie heiser werden.
„biegen Sie nach 100 Metern links ab.“
Ich bog. Obwohl sie erneut das Bitte vergessen hatte. Lange ging es geradeaus, meine Frau war mit ihrem Bauch beschäftigt und mischte sich nicht ein. Wir fuhren, ich bog ab, nach links, nach rechts. Nach lechts und nach rinks.
   Etwa eine halbe Stunde und ca. 30 Km später begann es im Wagen so merkwürdig zu duften. Sofort traf mich der strafende Blick meiner Ehefrau, ich jedoch war diesmal unschuldig. Plötzlich verspürten wir einen gigantischen Rumpler.
„Sie haben soeben ein Schwein überfahren!“ tönte es aus dem Gerät.
„Das macht nichts“, erwiderte ich launisch, ohne vom  Gas zu gehen. „Ich kenne das Tier. Es hat Vogelgrippe. Das überfahren wir immer.“
Ein unüberhörbares Schweigen folgte, überlagert von stechendem Stallgeruch.
„Biegen sie rechts ab!“
Wir landeten auf einen Bauernhof, und unmittelbar vor einem gewaltigen dampfenden, die übelsten Gerüche verströmenden Misthaufen ertönte die Stimme:
„Sie haben Ihr Ziel erreicht!“
Was hatte das nun wieder zu bedeuten? Ich hatte keine Ahnung, wo wir uns befanden. Sollte sie meine despektierliche Bemerkung vorhin doch gehört haben? Ich entschuldigte mich vorsichtshalber bei der Dame und bat devot um die Richtung für die Heimfahrt. Meine Gattin bedachte mich nur mit einer geringschätzigen Bemerkung:
„Jetzt entschuldigt der sich schon bei einer Maschine.“
Ich schwieg, wollte keinen Ehekrach provozieren. Darüber hinaus empfand ich diese Entschuldigung als durchaus angebracht. Und als Ergebnis brachte uns die nette Dame auf direktem Wege nach Hause. Ohne eine Programmierung meinerseits.
„Sie haben ihr Ziel erreicht! Einen schönen Sonntag noch!“
   Das war ein Service! Ein Blick auf den Kilometerzähler brachte ans Licht, daß ich innerhalb von 48 Stunden lächerliche zweihundert Kilometer gefahren bin; ohne einen vernünftigen Grund. Und dabei jede Menge Geld gespart hatte …
  Man kann seiner Frau widersprechen, allen Menschen. Zuweilen sogar der Schwiegermutter. Aber niemals einem Navigationsgerät! Ich spreche aus Erfahrung. Der Gedanke, mich von meiner Gattin zu trennen und die nette blonde Frau mit den lockigen Haaren, wohnhaft im Computer, zu ehelichen, läßt mich nicht mehr los.

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 29.10.2014. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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