Steffen Herrmann

2200

Um das Jahr 2200 zeichnet sich eine neue Epoche ab. Es ist das Ende der ökonomischen Dominanz. Gewissermassen ist es das kapitalistische System selbst, das stirbt; aber nicht, weil es gescheitert ist.
Es herrscht kein Mangel mehr. Waren und Dienstleistungen sind frei verfügbar. Das weltweite Produktionssystem ist von menschlichen Aktivitäten weitgehend entkoppelt und läuft wie eine geölte Maschine.
Dennoch darf man sich die Gesellschaft zu dieser Zeit nicht als verfettet vorstellen. Die ökonomische Knappheit ist zwar am Verschwinden, doch nicht die Knappheit selbst. Die Menschen werden mehr als je zuvor auf die Sinnfrage zurückgeworfen und in dieser Hinsicht wird die Situation immer prekärer.
Wenn für die eigene Existenz immer schon gesorgt ist, wofür ist dann das Leben da?
Die Freiheit kann auch ein Fluch sein.
 
Eine Prognose sollte sich immer um innere Konsistenz, das heisst um Anschlussfähigkeit bemühen. Wer eine Situation beschreibt, sollte immer deren innere Tendenzen im Blick behalten (die Zukunft der Zukunft also) und zwar so, dass im gerade Entstandenen bereits wieder seine eigene Zukunft angedeutet ist.
Das Jahr 2200 ist von der Gegenwart etwa so weit entfernt, wie die Zeit von Balzac, Goethe oder Napoleon. Das ist eine Zeit, zu der wir keinen grossen Zugang mehr haben. Die Heute Geborenen werden kaum noch Goethe lesen und Napoleon wird ihnen gleichgültig sein. Dennoch können wir uns in diese Zeit hineinversetzen. Gewiss, es ging rauer zu und es gab viele Dinge nicht, die uns heute selbstverständlich sind. Doch es ist auch nicht so, dass die Umstände des Lebens vor zweihundert Jahren uns völlig fremd sind. Wir können gewissermassen eine Differenzabschätzung machen und diese Distanz in die Zukunft extrapolieren. Das Leben in zweihundert Jahren wird aus heutiger Perspektive kein völlig fremdartiges sein. Gewiss, es wird viel mehr Dinge geben als uns heute bekannt sind und es wird vielleicht auch weniger rau zugehen.
Es spricht jedoch einiges dafür, dass sich die Entwicklung beschleunigt.
Erstens gibt es inzwischen deutlich mehr Menschen. Da jeder etwas zur Veränderung der Gesellschaft beiträgt, folgt schon aus der Verzehnfachung der Erdbevölkerung eine Beschleunigung des gesellschaftlichen und technischen Wandels.
Zweitens ist ein immer grösserer Teil der Arbeitenden mit Veränderungen beschäftigt. Es gibt immer weniger Bauern und immer mehr Projektmanager.
Und drittens sind die Menschen nicht mehr die einzigen aktiven Player. Auf der Agenda ist seit einiger Zeit auch die künstliche Intelligenz erschienen, die ein eigenes evolutionäres Feld bevölkert. Dieses ist zwar noch nicht von menschlicher Aktivität entkoppelt, aber bereits eine eigenständige Quelle nachhaltiger Veränderungen.
 
Die Fabriken sind weitgehend menschenleer. Es mag ganze Industriekomplexe geben, die seit Jahren oder Jahrzehnten von keinem Lebenden betreten worden sind - ausser von Ratten und Insekten. Die Zulieferer lassen ihre Waren in fahrerlosen Lastwagen bringen. Das Entladen erledigen Maschinen, vielleicht noch Gabelstapler, nur dass niemand drin sitzt. Das Kommando haben flinke Universalroboter. Man darf sich diese nicht als zu menschenähnlich vorstellen. Sicher haben sie Beine, denn die Fortbewegung mit Rädern ist weit störungsanfälliger. Vermutlich sind sie aber Vierbeiner, denn das gewährleistet eine grössere Stabilität. Es gibt auch keinen Grund, dass sie nur zwei Arme haben. Vielleicht haben diese auch verschiedene Qualitäten. Auf der einen Seite kräftige Trag-Arme und auf der anderen behende Feinmotorik-Tentakel.
Universalroboter brauchen keinen Kopf, die Sinnesorgane sind an den Aussenseiten des Rumpfes implementiert oder aber am Ende von Tentakeln.
Es gibt verschiedene Typen von ihnen. Einmal sehr starke und vielleicht etwas langsame Lastenschlepper und zum anderen die fragileren Facharbeiter.
Eine Tendenz zur Standardisierung ist aber unübersehbar. Denn gerade die Universalität der Verwendbarkeit ist für den Erfolg dieser Maschinen verantwortlich. Die Differenzierung erfolgt über die Spezifität der übertragenen Aufgaben, nicht über die originäre Hardware.
So wie heute noch die Menschen, laufen dann eine Vielzahl von Robotern spinnenflink durch die Fabrikhallen und erledigen die dort anfallenden Arbeiten. Für einen Beobachter wären das eher gespenstige Orte. Es wird nicht gesprochen. Man hört nur Produktionsgeräusche.
Die Produktionsanlagen, die von den Roboterpopulationen betrieben werden, verhalten sich kooperativ. Wenn eine Maschine eine Wartung braucht oder etwas an ihr defekt ist, meldet sie das Ereignis selbständig, das Warenlager stellt dann die benötigten Ersatzteile bereit, die dann von maschinellen Arbeitern vor Ort gebracht und in die kaputte Maschine eingesetzt werden.
Das gleiche gilt für Umrüstvorgänge bei Produktionsänderungen.
Fabriken sind jetzt also idealerweise komplexe Systeme mit mehreren Hierarchiestufen, die völlig autonom produzieren und zu deren Umwelt die Menschen gehören.
Sie reagieren auf Störungen und verfügen über Mechanismen zur Restabilisierung. Es muss ja auf Ereignisse reagiert werden können, für die kein detaillierter Behandlungsmechanismus vorliegt. Öl ist ausgelaufen, Universalroboter reagieren dysfunktional, es gibt Sturmschäden an den Gebäuden und so weiter. Die automatische Fabrik verfügt über verschiedene Managmentzyklen, damit sie den Irritationen, die von innen und von aussen entstehen, begegnen kann.
Universalroboter werden angestellt, eingearbeitet und entlassen oder entsorgt. Die Einarbeitung geschieht über Softwaretransfers. Beim Einbinden oder Ausscheiden neuer Roboter in den Produktionsprozess muss sich das System ein neues Optimum erarbeiten. Oft wird es so sein, dass neu integrierte Roboter auf einer besseren Technologie beruhen und zu einer Dominanz gelangen. Wir haben es also mit einem Fliessgleichgewicht zu tun, das eine kräftige Entwicklungsdynamik erzeugt, von aussen aber einer Black-Box gleich.
Die Fabriken sind einfach da, sie spucken immerfort Dinge aus, die die Menschen dann verwenden: Autos, Schuhe, Möbel, Spielzeug und: Universalroboter.
Im Sinne der Systemtheorie handelt es sich um einen Reifeprozess. Das System schliesst sich gegenüber seiner Umwelt ab, indem es selbst für Anschlussoperationen sorgt. Diese Operationen sorgen für seinen Fortbestand. Der Mensch zählt jetzt also zur Umwelt des Produktionssystems, er scheidet zunehmend als dessen Bestandteil aus. Im Zuge dessen, wie sich das System der automatischen Produktion differenziert, verdrängt es den Menschen aus seinem Operationsmodus und dabei ist es gleichgültig, welche subjektiven Positionen die noch beteiligten Menschen dazu einnehmen; es ist sogar unwesentlich, dass es zunächst ja die Menschen sind, welche den Prozess der operativen Schliessung des Systems der automatischen Produktion ermöglichen: Der Mensch als Gattung kann nämlich nicht wählen, es nicht zu tun. Die hier aufgezeigte Entwicklung ergibt sich aus der zunehmenden Komplexität des Universums selbst, spezifiziert also ein grundsätzliches Gesetz der Systemtheorie.
Wir müssen auch sehen, dass die zunehmende Potenz der Produktionsmittel nichts Neues ist. Man hat es mit einem kontinuierlichen, wahrscheinlich sich beschleunigendem Prozess zu tun. Mindestens seit dem 19. Jahrhundert ist diese Entwicklung sichtbar und wurde bereits von Karl Marx beschrieben.

 
Wir verlassen jetzt diese eher abstrakte Ebene und kommen zu einigen Szenen aus der Lebenswelt.

1. Szene  Der junge Mann A., der nicht arbeiten geht und gern ein Spiel spielt.

A. erwacht ausgeruht am späten Vormittag und rekelt sich ausgiebig. Er bewohnt allein eine Fünfzimmerwohnung in der elften Etage eines Hochhauses am Rande von Kopenhagen. Seit die Häuser sich von alleine bauen, ist Wohnraum billig geworden und kaum einer leidet noch an Platzmangel.
A. steht auf und schlurft in die Küche. R., sein persönlicher Serviceroboter hat schon den Tisch gedeckt und brüht gerade den Kaffee. Am frühen Morgen hatte er bereits das Apartment gereinigt und die Fenster geputzt. Nichts ist unaufgeräumt oder staubig, wir leben in sehr sauberen Zeiten.
R. spricht nicht viel, weil A. das nicht möchte. A. hat gern seine Ruhe, für ihn sind Roboter durchaus keine Kumpel und schon gar kein Freundesersatz. Er trinkt genussvoll seinen Kaffee und isst langsam seine Brötchen, die er mit Honig beschmiert. Er weiss, dass er Zeit hat.
A. ist fünfundzwanzig Jahre alt und er arbeitet nicht. Schon während der Pubertät hat er bemerkt, dass es aus seiner Sicht nur zwei Arten von Jobs gibt: Solche die er nicht machen kann, weil ihm die Fähigkeiten dazu fehlen und solche, die er nicht machen will, weil sie zu anstrengend oder zu nervig sind. Er sieht es durchaus nicht als seine Aufgabe an, sein Leben in einer Maloche zu verschleissen. Sich anderen unterzuordnen und zu tun, was jemand ihm aufträgt, das ist nicht sein Ding.
A. ist jetzt fertig mit essen. Er schaut zu, wie R. den Tisch abräumt und das Geschirr in die Spülmaschine stellt. Danach wird R. einkaufen gehen und sich nach getaner Arbeit in seine Ecke verziehen, wo er dann kaum noch wahrnehmbar sein wird.
A. ist, wie alle Menschen, zwölf Jahre in die Schule gegangen. Er war in einer Kreativschule, da gehen eher die Kinder hin, die später einmal keinen Job kriegen. Wer es zu etwas bringen will, geht in die Kompetenzschule und versucht, sich für eine Selection zu qualifizieren. Selection A, das sind die Leistungsstarken, Selektion B die Meisterschüler und Selection C die Genies. Da sind die Genmanipulierten dann fast unter sich. Diesen Drill haben seine Eltern ihm nicht antun wollen. So ist A. eben auf die Kreativschule gegangen. Es hat ihm dort gut gefallen.
A. möchte jetzt fernsehen. Er befragt das System, was für einen Film er jetzt sehen möchte. Es ist eine Komödie. Die nächsten zwei Stunden hängt er vor der Glotze.
A. lebt gern allein. Eine Zeitlang hat er sich vor allem um die Mädchen gekümmert und dabei viel erlebt. Inzwischen hat er das satt, es war immer wieder dasselbe. Jetzt  führt er ein eher eigenbrötlerisches Leben, aber es missfällt ihm nicht.
Am Nachmittag geht er shoppen. Weil sein Geld noch nicht gekommen ist, bleiben ihm nur die Gratis-Shops. Dort kann man die Dinge einfach mitnehmen. Die Qualität ist OK. In der Regel gibt es keine menschlichen Verkäufer. Roboter sind immer da. A. nimmt ein T-Shirt von einem Tisch und wirft es auf den Boden, zum Spass. Ein Roboter kommt angewieselt, hebt das Teil auf, faltet es zusammen und legt es auf den Tisch zurück. Mehr passiert nicht. Es ist ein netter Laden. A. ist auch schon verhaftet worden, wegen Vandalismus. Blöde Polizeiroboter haben ihn abgeführt und dann an Polizei-Menschen übergeben. Die haben ihn dann wieder freigelassen. Die Roboter machen ja sowieso alles wieder sauber.
A. nimmt ein T-Shirt mit der Aufschrift „Fuck“ mit, was er aber etwas später wieder wegwirft, weil es ihm dann doch nicht gefällt. Er läuft durch die Stadt, trinkt zwischendurch einen Kaffee und beobachtet die Menschen. Wer etwas im Leben zu tun hat, ist jetzt eher nicht hier. Aber es gibt noch genug andere, hier scharwenzeln massenweise Menschen herum.
A. verabredet sich mit seinen Kumpels, sie treffen sich in der Wohnung von K. Sie hängen zusammen ab, trinken ein paar Bier und spielen Karten. Gesprächsstoff gibt es eher wenig, doch sie haben ihren Spass. A. kennt fast nur noch Leute, die nicht arbeiten. Die meisten finden ihr Leben in Ordnung. Sie fallen ja niemanden zur Last. Arbeit ist unnötig. Es gibt eh‘ zu viele unnötige Dinge.
A. spielt gern das Spiel S. Das tut er beinahe jeden Abend, wenigstens für vier Stunden. Dafür begibt er sich in sein Spielzimmer und steigt in eine Art Raumanzug. Das ist die Voraussetzung dafür, dass man dann in die Welt abtaucht. Für A. ist S. nicht etwas, was weniger real ist als sein normales Leben. Im Gegenteil: In S. passieren die interessanteren Dinge. Ständig muss er dort Entscheidungen treffen, die über sein weiteres Schicksal entscheiden. Er steht nicht schlecht da in S. und diesen Status hat er sich hart erarbeitet. Er steckt in guten Allianzen und viele feindliche Kräfte sind neutralisiert. Aber er muss immer wachsam bleiben. Eine einzige schlechte Entscheidung, ein einziges Mal dem Falschen vertraut und er wird in seiner Entwicklung Monate zurückgeworfen. Im sogenannten realen Leben dagegen gibt es nichts zu entscheiden. Alles ist schon gelaufen. Es ist sogar egal, was für eine Freundin er hat oder ob überhaupt keine. Es kommt immer dasselbe Leben dabei heraus.
Tief in der Nacht schält sich A. wieder aus seinem Spiel-Anzug. Es war eine lange, kräftezehrende Session gewesen. Erschöpft schleppt er sich in sein Bett. Zum Waschen kommt er heute nicht mehr.
Morgen ist auch noch ein Tag.
 

2. Szene    Herr B., ehemaliger Geschäftsführer einer Nähereifabrik in Tansania, der auf sein Leben zurückblickt.

Herr B. humpelt auf die Veranda und lässt sich mit Bedacht auf einem Korbsessel nieder. Er schaut in die Ferne und lauscht den Melodien des Morgens. Die Sonne steht über den Bergen und lässt schon ihre Kraft ahnen. Noch ist es kühl, der Wind streichelt B.s Haut.
B. ist 102 Jahre alt und noch gut beisammen. Der Körper will nicht mehr so richtig und er ist sehr langsam geworden, aber er geniesst das Leben noch immer. B. ist viel gereist  und auf jeder Reise hat er die Savanne vermisst. Der Frieden, der von ihr ausgeht. Die Stimmen der Tiere.
B. denkt an sein letztes Jahr als Geschäftsführer, es ist über zwanzig Jahre her. Er musste seine Roboterstaffel auswechseln. Die alte war seit vierzig Jahren in Betrieb, hoffnungslos veraltet und ohne jeden Support. B. hegte schwere Gedanken zu dieser Zeit. Er mochte die Menschen mehr als die Maschinen. Ihm gefielen die Roboter gar nicht. Sie kamen und die Menschen verschwanden.
Aber sie kamen. Eines Tages hämmerte es wie wild an die Tür seines Büros, ein helles Stimmengewirr drang zu ihm. Er öffnete und sah eine Meute von Kindern. „Sie kommen“. riefen sie, „es sind viele!“
B. ging heraus und sah die Staffel. Sie liefen in einer geordneten und sehr langen Zweierreihe. Es waren an die vierhundert Stück. Eins fünfzig gross und zweibeinig, doch kopflos, langarmig und dumpf glänzend marschierten sie an. Sie wirkten wie eine Armee. Als sie Aufstellung genommen hatten, trat einer von ihnen vor und sagte: „Herr B., wir sind bereit zur Arbeit und warten auf Ihre Instruktionen.“
Ja, so war das gewesen. Bei der alten Staffel waren sie noch selbst zum Flughafen gefahren, um die Ware in Empfang zu nehmen. Die Roboter reisten im Gepäckraum und mit ihnen kamen ein Dutzend Leute von der Firma,  die ihre Schützlinge erstmal fit machen mussten. Es waren ruhige und angenehme Typen, die gern auch mal feierten, sich aber nicht gross unter die Leute mischten. Sie blieben fast ein Jahr, bis alles rund lief.
B. sinnt in seiner Vergangenheit, bis seine Frau zu ihm kommt. Sie trägt ein kleines Tablett mit einer Kanne Tee und zwei Tassen in den Händen. B.‘s Frau ist etwas zittrig, wirkt aber nicht klapprig. Sie wird ihn wohl überleben. Sie haben zusammen Kinder grossgezogen und sie lieben sich noch immer.
Als B. ein Kind war, gehörten die Fabriken seinem Vater. Der hatte die Firma erst gross gemacht, musste sie am Ende aber trotzdem verkaufen. Es arbeiteten mehr als tausend Näherinnen hier und von Jahr zu mehr wurden es mehr. Oft hörte er die Erwachsenen sagen, dass es eine gute Zeit für Tansania sei. Die Produktion in Asien wurde zu teuer: je höher die Löhne dort stiegen, desto mehr  wurde nach Afrika verlagert, wo die Armut noch immer endemisch war. Sicher, am Horizont zeichnete sich schon die ganze Roboterwelt ab, doch noch war sie unreif und afrikanische Näherinnen konnten locker mit ihnen konkurrieren.
Natürlich kamen die Blechmänner dann doch. Sie bauten neue Strassen und grosse Häuser, Bahnhöfe, Glaspaläste für die schöne neue Welt, Villen für die Reichen. Die Städte veränderten sich rasend schnell. Die Roboterarmeen rückten in die Slums vor. Das dort ansässige Prekariat musste in Notunterkünfte umziehen, zwei Jahre später durften sie zurück, in neue, grosszügige Wohnungen voller Licht. Die Begeisterung verbreitete sich rasch.
Die Reichen wurden immer reicher, die Armen aber auch. In den Dörfern wurden die Lehmhütten abgerissen und Steinhäuser mit mehreren Etagen gebaut. Fahrerlose Trucks wurden allgegenwärtig. Es kamen immer mehr Roboter, tausende und wieder tausende. Und mit ihnen kamen Menschen. Die Maschinen hatten ja ihre Kinderkrankheiten, von alleine ging das zu dieser Zeit noch nicht. Chinesen kamen, Inder, ein paar Amerikaner, da und dort ein Deutscher oder ein Japaner. Sie wohnten in den schönsten Hotels und liessen sich neue bauen. Manche verschwanden wieder, viele blieben.
Auf jeden Fall blieben die Roboter. Für jedes verschrottete Exemplar kamen mindestens zwei neue. Es schien unglaubliche Mengen von ihnen zu geben.
B. lässt die Bilder an sich vorbeiziehen und schüttelt unwillkürlich den Kopf. Er denkt an den Schock, den es für ihn bedeutet hatte. Wie schnell diese Modernisierungswelle über ihn hereingebrochen war, über sein Land, den ganzen Kontinent. Und wie schnell die Menschen sich daran gewöhnt hatten. Er erinnerte sich an Erzählungen der Alten. Als die ersten Roboter in die Dörfer kamen, schrien die Frauen und rannten weg. Die Kinder schrien auch, lachten und warfen mit Steinen. Dann kamen die Männer mit Spaten und Spitzhacken und hauten sie kaputt. Sie fühlten sich von den seltsamen Rivalen in ihrer Männlichkeit bedroht.
Bald aber verstand man, dass die Roboter nur dazu da waren, für sie zu arbeiten. Das war keine so schlechte Sache. Man sass zusammen, trank Tee und man litt trotzdem keine Entbehrungen. In Afrika war es nicht von vornherein ein Problem, wenn man keinen Beruf hatte.
Ja, so war es. B. zerkaut noch einmal Wort für Wort den Gedanken, den er als die Erkenntnis seines Lebens ansieht. Afrika hatte für lange Zeit der Entwicklung hinterhergehinkt und war jetzt unvermittelt zur Vorhut der Menschheit geworden. Die hiesige Art zu leben, die fröhliche Arbeitslosigkeit, war ja das, worin sich letztendlich alle Menschen hineinzufinden hatten.
 

3. Szene    Frau C., die als Programmiererin arbeitet

C. ist noch müde, als sie sich auf den Weg macht. Sie nimmt den Fahrstuhl in den 2.Keller, setzt sich in eine der breitstehenden Fahrkabinen und lässt sich zur Arbeit bringen. Es sind viele unterwegs in Kobe, doch der Verkehr stockt kaum.
C. arbeitet in der Firma R., einem der grössten Roboterproduzenten. Jedes Jahr produziert der zwanzig Millionen Stück. Mehrere Dutzend Serien und jede davon in etlichen Varianten. Vierhunderttausend Menschen arbeiten bei R.
C. arbeitet im Headquarter, die Produktionshallen hat sie noch nie betreten. Sie ist zufrieden und auch stolz, hier tätig sein zu dürfen. Es war ein langer Weg bis dahin. Immer wieder Lernen, Üben, Kognitionsentwicklung. Drei Selektionen hat sie überstanden, neben den unzähligen Prüfungen. Schon als Kind hatte sie zwei Personal Trainer gehabt, einen menschlichen und einen maschinellen. Und die Eltern hatten ihr ein paar Gene machen lassen, nichts Spezielles; eher das Minimum für die, die noch weit vorn mitschwimmen wollten. Ihre Eltern hatten es nicht so mit dem Gendesign, sie vertrauten mehr auf die natürliche Intelligenz und eine gute Erziehung. Sie auch.
C. ist jetzt angekommen, direkt in ihrem Bürokomplex.  Sie läuft durch die Glasfassaden, hin zu ihrem Büro. Heute Morgen ist eine Kognitions-Session angesagt, eine Art Brain-Storming. Sie werden sich Videosequenzen über Szenen im Klassenzimmer anschauen, diese in ihre Bestandteile zerlegen und überprüfen, inwieweit sie von der aktuellen Software abgedeckt sind und welche Wege für die Weiterentwicklung angezeigt sein könnten. Solche Workshops waren intellektuell fordernd und angenehm in ihrer Atmosphäre. C. mochte sie. Meistens kam etwas dabei heraus.
C. arbeitet als Kognitionsprogrammiererin. In den letzten Jahrzehnten hat sich die Forschung immer weniger auf die Entwicklung von Produktionsrobotern und immer mehr auf den Ausbau der Mensch-Maschine-Schnittstelle produziert, dem sogenannten II (Intelligence Interface).  Sicher, die Optimierung der Produktion blieb eine wichtige Aufgabe, doch hier war man schon sehr weit, es standen keine Paradigmenwechsel mehr an, alles verlief in einem ruhigen Fahrtwasser in einer unaufgeregten Stetigkeit.
In der II passierte gegenwärtig sehr viel. Es ging darum, dass Maschinen in manchen Hinsichten besser mit Menschen kommunizieren können sollten, als die Menschen selbst. Sicher, die Roboter hatten keine Bedürfnisse. Sie konnten nicht lieben, nicht mitfühlen. Aber sie konnten die Menschen stimulieren, sie konnten ohne Einschränkung kommunizieren.
C. arbeitet auf dem Gebiet der Pädagogik. Es ging darum, Roboter zu Lehrern zu machen. Sie ist an der Entwicklung eines Modells für Grundschulen beteiligt. Das war ausserordentlich komplex. Maschinen zu entwickeln, die an der Universität Vorlesungen hielten, das konnte jeder. Die mussten ja nur mehr oder weniger ihren Text aufsagen. Primarschullehrer dagegen hatten es mit Kindern zu tun, die situative und auch die pädagogische Komplexität war unvergleichlich viel höher.
Ihr Tätigkeitsfeld war ein Politikum. Vor allem die Europäer fand sie sehr kompliziert.  Diese hatten kaum Widerstände gezeigt, als die Produktion automatisiert worden war; das mag auch daran gelegen haben, dass es in Europa kaum noch Industrie gab. Jetzt aber, wo die Roboter weiter vorrückten, verteidigten sie eine sogenannte menschliche Sphäre, die angeblichen einen besonderen Schutz verdienen würde. Das war natürlich nur ein theoretisches Abstraktum, denn tatsächlich bildeten Mensch und KI ja bereits ein gemeinsames Interaktionssystem. Die Zeit der Bedenkenträger würde wohl nie vorbei sein, doch die Musik spielte sowieso nicht mehr so sehr in Europa.
In Amerika und vor allem in Asien war man da pragmatischer. Wenn die Kinder bei Roboterlehrern mehr lernen, dann sollen diese an die Schulen! Und mit den neuen Modellen schien das der Fall zu sein. Die künstliche Intelligenz war inzwischen in der Lage, Situationen schneller und genauer zu analysieren und sie konnten die Reaktionsoptionen besser auf ein gewünschtes Ziel hin optimieren.
C. programmiert in der Sprache P. In dieser wird im Normalfall kein Code mehr vom Menschen geschrieben, P ist wie die meisten der noch lebenden Sprachen selbstschreibend. Der Mensch muss die Ziele definieren. Es muss also festgelegt werden, was das Programm zu leisten hat. Die präzise Beschreibung der Zielsituationen war jedoch eine sehr anspruchsvolle Angelegenheit.  Alle Teil- und Zwischenziele mussten in einen Graphen abgebildet und mit Quantifizierungsfunktionen belegt werden. Der Softwareentwicklungsprozess bestand aus den Modulen Situationsbeschreibung, Analyse, Zielmodell und Prozessing, wobei das letzte Modul aus der Situationsanalyse und dem Zielgraphen die Reaktionsentscheidung generiert. Das Ganze ist mit vielen Schwierigkeiten behaftet.
Am Ende eines langen Entwicklungsprozesses entstanden dann Roboter, die sehr menschlich reagieren konnten. Natürlich verfolgten sie die in ihnen implementierten Strategien, doch sie konnten sich in ein menschliches Kommunikationsfeld problemlos einbetten, beherrschten die menschlichen Sprachspiele und waren ihrem Gegenüber sogar oft eine Nasenlänge voraus.
C. arbeitet in der Situationsanalyse. Sie sequenzierte mitgeschnittene Unterrichtseinheiten und generierte daraus Modelle. Immer wieder erkannte sie, wie viele Fehler die menschlichen Lehrer machten. Auch die sogenannten guten Lehrer vollzogen oft Operationen, die weit vom Optimum entfernt lagen. Je tiefer C. in die Materie eindringen konnte für desto rückständiger hielt sie die sogenannten Humanisten.  Die Lehrer waren nicht dazu da die Kinder zu erziehen und schon gar nicht hatten sie dafür zu sorgen, dass die Kleinen sich wohlfühlten. Dafür gab es die Eltern. In der Schule sollten die Heranwachsenden zu einer maximalen Kompetenzentwicklung gebracht werden und das war in erster Linie eine entschlossene Optimierungsleistung. C. konnte verstehen, dass man Roboterlehrer ablehnte, weil sie nicht die notwendige Leistung brachten. Aber aus Prinzip gegen sie zu sein war eine reaktionäre Dummheit!
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 11.11.2014. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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